minibar by José Andrés ‒ bodenständig molekular

Barcelona und Washington, D.C. haben kulinarisch gesehen eines gemeinsam: hier gibt es noch klassische Molekularküche (wobei ich mir über die Problematik dieses schwammigen Begriffs durchaus im Klaren bin). In Barcelona wären in dieser Kategorie an vorderster Front das Imperium der Adrià-Brüder als auch das famose, progressive Disfrutar zu nennen. In der US-Hauptstadt ist es das mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete minibar by José Andrés.

Spanische Verbindungen gibt es naturgemäß auch dort. José Andrés, der in den USA Dutzende, oft spektakuläre und besternte Restaurants betreibt, arbeitete Ende der Achtzigerjahre für Ferran Adrià. Das dort Erlebte prägt Andrés’ Schaffen bis heute. Das minibar ist eines seiner bekanntesten Restaurants, neben dem Somni in Los Angeles und dem é by José Andrés in Las Vegas.

Als ich über das Reservierungssystem Tock pünktlich 30 Tage im Voraus reserviere (ca. € 360 pro Person), staune ich nicht schlecht, dass die Tickets binnen Sekunden ausgebucht sind. Washington, D.C. ist nicht New York City, keine andere Reservierung in der US-Hauptstadt ist derart begehrt. Ich wähle aus Versehen das erste seating um 17.30 Uhr anstatt das zeitlich etwas attraktivere um 20:15 Uhr, kann das aber selbst Sekunden später nicht mehr ändern.

Verkehrsbedingt erreiche ich das Restaurant fünfundvierzig Sekunden nach meiner Reservierungszeit, ungewöhnlich für mich, aber natürlich kein Problem. Ich werde freundlich empfangen, weitere Gäste folgen. Ein paar Minuten Wartezeit in einem kleinen Vorraum sind ohnehin noch vonnöten.

Schließlich geht es in den Hauptraum. Ein u-förmiger, breiter Tresen für wenige, in großem Abstand zueinander platzierte Gäste, dahinter eine offene Küche ‒ alles schick und wertig, aber nicht allzu ausgefallen. Zalto-Gläser und Hering-Geschirr sind aber auch hier der Standard.

Es gibt keine Speisekarte, wie bei Restaurants mit kreativem Tasting-Menü üblich, und die meisten Gäste wählen dazu eine der Weinbegleitungen. Ich wähle lieber eine Flasche Rotwein, in diesem Fall einen fantastischen 2012er Pinot Noir vom kalifornischen Weingut Marcassin von der Sonoma Coast (€ 500). Psychologisch geschickt an dem Ticketverkauf ist ja auch, dass man vor Ort das Gefühl hat, „bei null“ anzufangen. Ich ertappe mich oft dabei, im Fall von bereits weit im Voraus bezahlten Tickets in ein höheres Weinregal zu greifen.

Eine Köchin stellt am Tresen die ersten Kreationen fertig. Damit trotz des großen Abstands der Gäste zueinander alle zum selben Zeitpunkt bedient werden, ist es Teil des Erlebnisses, dass mehrere Köche die Kreationen zur gleichen Zeit an drei Abschnitten des Tresens fertig anrichten und erläutern.

Die ersten Häppchen sind „Snow Flower“, eine fragile Arbeit aus zu Kirschblüten geformten Membranen aus Safran mit Pistaziencreme ‒ süßlich, säuerlich, knusprig und erstaunlich gut (7,9/10) ‒ sowie sphärisierte Oliven, der Klassiker der Molekularküche schlechthin, hier mit einer etwas raueren Oberfläche als ich das sonst kenne und dabei mehr als sehr gut (7,5/10).

Zwiebelsuppe“ kommt in Form eines Stücks Zwiebelschale, leicht knusprig präpariert, gefüllt mit einer Foie-Gras-Mousse, was einem an sich schon ein Lächeln auf die noch kauenden Lippen zaubert. Zusammen mit einigen Millilitern hocharomatischen Rinderjus’ und Korianderblüten ist das Ganze ein köstliches Arrangement. Das Metallgitter, auf dem die Kreation serviert wird, erkenne ich von meinem damaligen Besuch im El Bulli wieder. Ein nostalgisches Detail. (8/10)

Es folgt „Adam and Eve 2.0“, ein eiskalter Snack, dessen Name sich mir zwar nicht erschließt, umso mehr aber dessen Geschmack. Eine luftig leichte, sternförmige Hülle mit Wermut ist mit einem Gel aus Calvados und Brandy gefüllt, verschiedene Kräuter und Blüten akzentuieren den „schnapsig-apfeligen“ Geschmack. Präzise und hervorragend. (8/10)

Als nächstes gibt es ein „Sandwich“ aus luftig leichten Crackern in Schweinsform, dazwischen eine Art Mayonnaise, alles mit intensivem Geschmack nach spanischem Schinken. Ziemlich gut! Dennoch wirken so auffällige Zubereitungstechniken wie die der luftigen, baiserartigen Hüllen schnell repetitiv. (7,5/10)

Nicht weniger als sensationell ist danach eine Portion Shirako (Fischmilch) vom Kabeljau, die als Tempura mit einem leicht pikanten Gewürz serviert wird. Die cremige, gewiss nicht jedem Gast hier familiäre Zutat könnte kaum optimaler zubereitet werden, weil die leicht krosse Hülle des perfekten (!) Tempurateigs die etwas gewöhnungsbedürftige Cremigkeit des exotischen Reproduktionssekrets angenehm kontrastiert. Besser habe ich diese Zutat noch nicht gegessen. (8,5/10)

Mit Bánh mì, einem vietnamesischen Baguette-Sandwich, geht es weiter. In Anbetracht der noch folgenden Vielzahl an Gängen sieht das zunächst sehr üppig aus, doch am Gaumen (und zu meinem Ärgernis schon beim Hantieren damit) zerfällt die Kreation sofort zu einem Bruchteil ihres Volumens. Das scheinbare Brot ist in Wahrheit eine fast masselose Apfel-Meringue, dazwischen gibt es ein frisches Ensemble mit Krebsfleisch, verschiedenen Gemüsen und „minzigem“ Thai-Basilikum. Geschmacklich eine spannende Kurzreise nach Südostasien. (8/10)

Ein Spieß mit japanischem Aal, Australischer Fingerlimette und Apfel ist angenehm „lauwarm“, säuerlich und nicht übermäßig fettig (hervorragend, 8/10); eine unkonventionelle Interpretation von „Rührei“ ist dann noch besser, sie kommt mit Eigelb, Milchhaut (yuba), Parmesan, Schneckeneiern und einer üppigen Nocke Kaviar. Ein leicht klebriges, charmant salziges, ungemein süffiges Ensemble (8,5/10).

Eine mit viel Show und flüssigem Stickstoff hergestellte Tartelette aus Kürbiskernöl, die einem per Spatel direkt in den Mund gelegt wird (natürlich ein Spatel pro Gast) schmeckt, nun ja, nach ihrer einzigen Zutat. Am Ende eben lediglich Kürbiskernöl. (6/10)

Das nächste Gericht beinhaltet Knollen-Ziest (auch Chinesische Artischocke genannt), Chawanmushi, verschiedene Pilze, eine Steinpilzcreme und schwarze Trüffeln aus Spanien. Das bietet vielfältige Abstufungen erdiger Pilzaromen, dazu Umami und Salz, das ist richtig gut. (8/10)

Es geht weiter mit ausgelöstem Hummer, der in Sobrasada-Fett gegart wurde ‒ vermutlich sous-vide ‒, handwerklich und qualitativ auf jeden Fall makellos. Die mallorquinische Wurst verleiht dem Krustentier sonnige Würze und ist zusätzlich in der dazu servierten cremigen Sauce mit Eigelb zu finden. Damit man von der auch nichts verpasst, gibt es danach ein Stück Croissant ‒ himmlisch, von einer Bäckerei „die Straße runter“. Diese kleinen Details – dass man ausgerechnet in Washington Croissants bekommt, die ich in Europa in dieser Qualität allenfalls aus Paris kenne ‒, begeistert mich auf meinen Reisen immer wieder aufs Neue. (8/10)

Weiße Bohnen wurden für den nächsten Gang zu einer Creme und einer Art Gelee gekocht. Was an sich geschmacklich eher zurückhaltend wäre, wird mit scharfer Paprika und exzellentem spanischem Trüffel aufgepeppt. Unter dem Edelpilz entdecke ich noch Daikon, der Frische und Saftigkeit mitbringt und als „aromatisches Sprungbrett“ zum separat servierten Eiskraut fungiert. Das ist äußerst wohlschmeckend und aromatisch frappierend schlüssig. Besser wird es wohl kaum noch werden. (9/10)

Aber fast so gut. „Der Hase und das Meer“ (Hare and the Sea), so lautet der poetische Titel des folgenden Gangs. Eine Hasenbrühe duftet dabei wohltuend und klebt durch intensive Reduktion an den Lippen, dazu gibt es Seeigel aus Hokkaido ‒ offenbar nicht die absolute Spitzenware, es fehlt ein wenig an Intensität. Einige Kräuter liefern unterschiedliche Frischeakzente. Überraschend stimmig, und zweifellos auch ein Gericht auf Weltklasseniveau. (8,9/10)

Die Stimmung im Restaurant ist angenehm lebhaft. Überall wird etwas erklärt, angerichtet, es werden Weine verkostet, Gerichte zubereitet, angeregte Konversationen geführt. Darauf einen Schluck des hervorragenden Pinots!

Da habe ich ausgerechnet einmal meine Abneigung gegen Taube nicht im Voraus kundgetan, schon will es der Zufall, dass man sie hier serviert. Der Teller ist ein Paradebeispiel dafür, warum man mich ‒ bis auf seltene Ausnahmen ‒ mit Wildgeflügel jagen kann. Wenn man Taube nicht ausgiebig mit Sauce und Gewürzen traktiert, wie bspw. beim Klassiker von Juan Amador, bleibt es in der Regel bei einer trockenen, zähen und metallisch schmeckenden Angelegenheit. Gelungene Ausnahmen sind so selten, dass dies meine Abneigung gegenüber dem Produkt ausreichend begründet. Eine appetitlich säuerliche Heidelbeer-Gastrique sowie kleine Kugeln aus Foie Gras und Heidelbeergelee zeugen hier zwar vom eigentlichen Niveau der Küche, ändern aber am fehlenden Genussfaktor und schwachen Handwerk dieses Gerichts nichts. (6/10)

Ein „Honey Bear“ markiert dann den Übergang zum süßen Abschluss. Der Bär besteht aus „Käseeis“ und schmeckt exakt wie diese industriellen Hörnchen von Eisläden aus den Achtzigern, dabei allerdings kühl und etwas säuerlicher, durchaus sehr gut. Der Soundtrack ‒ im Moment spielt Tears for Fears ‒ passt zu dieser Zeitreise.  — 7/10

Es geht weiter mit einer Art kühlen Kokossuppe, zu der es gefriergetrocknete Pomelo, Kokostapioka und Thaibasilikum gibt. Das schmeckt kühl, mild süßlich und exotisch fruchtig. Hervorragend! (8/10)

This is not a Cronut“ bezeichnet die nächste, direkt am Tresen fertig gestellte Kreation. Der „Teig“ des scheinbaren Gebäcks besteht aus hauchdünnen, in ihrer Ursprungsform transparenten Oblaten aus Kartoffelstärke und Lecithin, die auch bei Ferran Adrià zum Einsatz kamen. Das Ganze wird um Yuzu-Gel, Himbeercreme und -staub ergänzt und ergibt eine voluminöse, aber fast masselose Kreation mit intensivem Geschmack nach Beeren. Es entsteht sogar die Illusion eines buttrig-knusprigen Blätterteigs, ganz ohne Kalorien. Faszinierend gut. (8,5/10)

Gegen 19:40 Uhr, perfekt choreografiert, um den Speisesaal für das nächste seating vorzubereiten, wird man nebenan in die barmini geführt, wo man in Ruhe noch Pralinen (inklusive Überraschungsei mit Lego-Männchen) verzehrt (7,5/10) und irgendwann die Rechnung bestellt. Die barmini ist sonst ein eigenständiges Restaurant mit einem kreativen Cocktailangebot und Snacks.

Das minibar by José Andrés zelebriert auf hohem Niveau ‒ und ohne sich dabei selbst auf die Schulter zu klopfen ‒ viele der kulinarischen Errungenschaften der spanischen Avantgarde. Dass das auch schon wieder über zwanzig Jahre her ist, merkt man ein bisschen, weil man nicht mehr so darüber staunt. Dennoch schafft man es hier, die gute alte „Molekularküche“ als etwas Zeitloses darzustellen, etwas mit Berechtigung, Tiefgang und hohem Genusswert. Das beherrschen auf diese Weise nicht viele. Gepaart mit der lässigen Atmosphäre ist das Restaurant in dieser Stadt jeden Umweg wert.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: minibar by José Andrés (→ Website)
Chef de Cuisine: Rubén Mosquero
Ort: Washington, D.C., USA
Datum dieses Besuchs: 06.03.2020
Guide Michelin (Washington 2020): **
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