Naturwein ‒ eine Frage der Qualität

Neben mir steht ein Glas Wein. Es ist ein Chambolle-Musigny 1er Cru „Les Baudes“ von der Domaine Sérafin aus dem Burgund, Jahrgang 2012. Ich bin sehr angetan von dem Wein, was mehrere Gründe hat. Da wäre die Brillanz im Glas, die mich ästhetisch sehr anspricht. Das funkelnde Rubinrot des Pinot Noirs erzeugt wunderschöne Reflexe auf dem Tisch und im Glas. Im Bouquet schwingt etwas Rose mit, sogar Minze, aber auch zurückhaltende Beerenaromen und exotische Gewürze. Am Gaumen präsentiert sich der Wein mit seidiger Textur, einer schmeichelhaften „Süße“ ‒ ohne wirklich süß zu sein ‒ und Sauerkirsche. Meine ganze Begeisterung für Burgund begründet sich in einem solchen Wein.

Der Wein bereitet mir aus weiteren Gründen Freude. Er erinnert mich an meine Reisen ins Burgund, zu Winzern mit schmutzigen Händen; zu den wertvollsten Weinlagen der Welt, die so unprätentiös vor einem liegen als wären sie verlassene Hintergärten. Der Wein hat also auch noch eine persönliche, emotionale Komponente. All das ist Teil des Genussvergnügens.

Ich habe mich früh für die feinen Nuancen der Lagen Burgunds interessiert und begeistert. Wie können zwei Weine, die nur wenige Meter voneinander gedeihen, aus derselben Rebsorte bereitet sind und vom selben Winzer verarbeitet wurden, so unterschiedlich schmecken? Warum gelangen Pinot Noir und Chardonnay ausgerechnet hier, an diesen unscheinbaren Hängen zu Referenzgewächsen? Warum stehen vor der einen Lage Pferde, während in anderen Traktoren herumfahren?

Die Antworten darauf sind in einem faszinierenden Zusammenspiel von Geologie, Klima, Chemie, Winzer-Philosophie und Handwerk zu finden, mit denen sich, neben den Winzern, auch Önologen und Agrarwissenschaftler beschäftigen. Die Herausforderungen sind vielfältig. Pilze, Bakterien, Viren, Nährstoffmängel, Schädlinge, Hagel, Dürre, Frost und mehr gilt es, bestmöglich zu kontrollieren, um ein gesundes Pflanzenwachstum zu ermöglichen und die gewünschten Erträge zu realisieren, ganz gleich, ob das Ergebnis industrielle Massenware oder individuelle Einzellagenweine heißt.

Die Menschheit hat über sechstausend Jahre Erfahrung mit Weinbau. Es dauerte zwar noch bis zum 17. Jahrhundert, bis Hefezellen zum ersten Mal unter einem Mikroskop beobachtet wurden. Weitere hundertfünfzig Jahre, bis zum Jahr 1835, dauerte es, bis erstmals die zutreffende Theorie formuliert wurde, dass Hefezellen den Zucker in Alkohol und Kohlensäure umwandeln. Heute kann man das alles genau beschreiben, bis hin zur kompletten Genomsequenz verschiedener Rebsorten. „Das alles“ beinhaltet chemische, physikalische und biologische Phänomene.

Auch der Weinanbau wird ständig optimiert. Rebschnitt, Reberziehung, Laubarbeit, Ertragsregulierung, Bodenpflege, Bewässerung, Pflanzenschutz und viele weitere Aspekte profitieren von Wissens- und Erfahrungszuwachs. Während so genannter konventioneller Weinbau auf wirtschaftliche und technische Effizienz ausgerichtet ist, zielt ein schonender Umgang im Weinberg vor allem auf den Erhalt der Bodenfruchtbarkeit und einem nachhaltigen Schutz des Ökosystems. Im biologischen Weinbau wird dieses Ziel bspw. durch den Verzicht auf verschiedene synthetische Herbizide und durch eine Düngung mit rein organischen und mineralischen Stoffen unterstützt. Auch bei der Vinifizierung gelangen u. a. hinsichtlich Klärung und Konservierung des Weins andere Verfahren zum Einsatz als wiederum beim konventionellen Weinbau. Ein schonender Umgang mit dem Wein trägt zum Schutz der Pflanzen bei und unterstützt den Winzer beim Erhalt seiner Lebensgrundlage. Das kommt in erster Linie dem Ökosystem und dem Winzer zugute.

Der stetige Zugewinn an Wissen hat dazu geführt, die Weinbereitung immer weiter zu optimieren. Mechanische Verfahren wie das Maischen, d. h. dem Trennen der Beere vom Rest der Pflanze, die Filtration, um Trübstoffe zu eliminieren, bis hin zu chemischen Verfahren, bspw. der Schwefelung, um den Wein u. a. vor mikrobakteriellem Verderb zu schützen, existieren hunderte Verfahren ‒ teils einleuchtende, teils fragwürdige ‒, um am Ende ein Getränk herzustellen, das uns schmeckt, ein wenig berauscht und dem Winzer dabei seinen Lebensunterhalt garantiert.

Aber was macht einen Wein, also das Endprodukt in der Flasche, wirklich besser? Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst klären, was Qualität in Bezug auf Wein überhaupt bedeutet. Ganz nüchtern betrachtet, regelt diesen Begriff bereits das Gesetz. In Deutschland bspw. muss ein Qualitätswein bestimmten Anforderungen hinsichtlich Herkunft, Mostgewicht und verschiedenen analytischen Grenzwerten genügen. Erfüllt ein Wein diese Eigenschaften nicht, kommt er ggf. noch als Landwein oder einfach als „Wein“ in Frage. Erfüllt ein Wein nicht einmal die Eigenschaften, ein Wein zu sein, darf er auch nicht als solcher verkauft werden. Ist er sogar unsicher ‒ sagen wir, weil er erblindendes Methanol enthält oder zur Hälfte aus Rohrreiniger besteht ‒, darf er gemäß dem Lebensmittelgesetz gar nicht in den Verkehr gelangen. Dem Gesetz geht es hier also überwiegend um messbare, chemische Eigenschaften des Getränks.

Trotz allem gibt es Qualitätsweine im Discounter für fünf Euro als auch im Fachhandel für fünfhundert. Man darf als Konsument also verwirrt sein. Ist ein Wein für fünfhundert Euro hundert Mal besser als einer für fünf? Wenn ja, was unterscheidet sie so fundamental?

Wem die Antwort „in chemischer Hinsicht ziemlich wenig“ nicht ausreicht, muss man die Antwort auf die Qualitätsfrage an anderer Stelle suchen, z. B. bei Expertenmeinungen. Doch wie beurteilen Weinkenner die Qualität eines Weins? Der amerikanische Weinkritiker Robert Parker führte vor Jahrzehnten sein berüchtigtes 100-Punkte-System ein und bediente sich als einer der Ersten an einer für Weinbewertungen sehr prosaischen Sprache, die sich auf die sensorischen Merkmale des Weins bezieht. Ein Konsument kann gut nachvollziehen, dass ein Wein hochwertig ist, weil er beispielsweise samtige Tannine und einen langanhaltenden Abgang mit einem Geschmack nach roten Beeren aufweist. Einen Wein, der bitter schmeckt und nach faulen Eiern stinkt, als qualitativ minderwertig zu bezeichnen, würde den meisten Konsumenten ebenfalls einleuchten. Zwar wird das Bild auch hier schnell diffus, z. B. wenn ein günstiger Supermarktswein höher bewertet wird als ein berühmter, teurer Wein. Doch, Hand aufs Herz, wer hat nicht schon bei sündhaft teuren Burgundern gelitten, weil sie mehr mit Batteriesäure gemeinsam hatten als mit ihrem klangvollen Lagennamen? In einem solchen Fall ist eben auch ein Chambolle-Musigny nicht besser als ein möglicherweise geschmacklich gefälligerer Wein aus dem Supermarkt.

Den Qualitätsbegriff an sensorischen Merkmalen des Getränks festzumachen erscheint grundsätzlich plausibel. Das ist mit anderen Lebensmitteln nicht anders. Eine Tomate aus dem Garten von Alain Passard ist nur deshalb ‒ und auch nur dann ‒ besser als eine gewöhnliche Tomate aus einem industriellen Gewächshaus, weil bestimmte wünschenswerte sensorische Attribute, z. B. ein intensiver Umami-Geschmack und eine saftige Textur, bei ihr ausgeprägter sind. Nur dann ist sie einer anderen Tomate qualitativ überlegen. Das ist eine wichtige Feststellung.

In dieser Hinsicht herrscht bei vielen Verbrauchern ohnehin ein romantisch verzerrtes Bild von einer scheinbar gesünderen Bio-Welt vom Acker aus der Umgebung. Für eine ausgewogene, gesunde Ernährung benötigt man keine hippe Biokiste. Es gibt keine unmittelbar gesunden und ungesunden Lebensmittel. Es gibt nur gesunde und ungesunde Ernährungsweisen und Lebensstile. Ein gesunder Körper verkraftet ohne weiteres auch mal eine Currywurst mit Pommes oder eine gespritzte Tomate. Auf der anderen Seite stellt eine einzelne Biokarotte im Körper auch nichts „Gutes“ an. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass konventionell angebaute Produkte für den Verbraucher irgendwelche Risiken mit sich brächten oder einer Ernährung aus dem Bioladen unterlägen wären. Im Gegenteil, Lebensmittel waren nie sicherer als heutzutage. Eine Biogurke, die man nicht gründlich zu Hause abwäscht, weist ein vielfach höheres Gesundheitsrisiko auf als eine in Plastikfolie eingewickelte „von der Stange“, wenn z. B. Kunden die Gurke anfassen und Keime auf sie übertragen. Das ist kein Plädoyer für in Plastik abgepackte Lebensmittel, aber wenn es um Risiken und gesundheitliche Aspekte geht, haben viele Verbraucher völlig falsche Vorstellungen und Ängste.

All dies vorweggeschickt, gelange ich zum Kern des Themas. Blickt man heutzutage in die Weinkarten vieler angesagter Restaurants und Weinbars weltweit, wird man schnell mit einem Begriff konfrontiert, mit dem längst nicht jeder Konsument vertraut ist: Naturwein (international verwendete Begriffe sind u. a. natural (wine), vin naturel, vin vivant, naked wine und artisan wine). Der Begriff ist gesetzlich nicht geregelt. Es dürfte also theoretisch jeder Wein so bezeichnet werden. Der kleinste gemeinsame Nenner, den sich jedoch alle kursierenden Definitionen von Naturwein teilen, ist der, dass es sich um Wein handelt, der mit einem Minimum an Intervention im Weinberg und bei der Weinbereitung hergestellt ist. Eine extreme Auslegung von Naturwein ist bspw. die Idee, dass man zu dem Produkt zurückkehrt, für das sich unsere Vorfahren vor tausenden Jahren einmal so begeistert haben: gepresster, vergorener Traubensaft, ohne Zusätze und ohne mechanische Hilfe. Ob es für das Ergebnis in der Flasche, und damit für den Verbraucher, sinnvoll ist, Tausende Jahre Erfahrung und Wissensgewinn im Weinbau links liegen zu lassen, sollte zumindest hinterfragt werden.

Verkostet man sich ein wenig durch das Thema, wird man als Weingenuss suchender Konsument schnell feststellen, dass viele Naturweine anders riechen und schmecken als herkömmlicher Wein. Sie schmecken oft etwas „wild“, sind nicht selten trüb, haben manchmal noch etwas Kohlensäure, manche stinken sogar. Anderen wiederum merkt man ihre unkonventionelle Herstellung kaum an. Es gibt günstige Naturweine und sehr teure, weiße, rote, sprudelnde und sogar orangefarbene. Über einen Kamm scheren kann man Naturwein ebenso wenig wie anderen Wein.

Aber es gibt mehrere Probleme.

Der erste Punkt, der mir schon vor dem ersten Schluck aus der Amphore säuerlich aufstößt, ist der Begriff. Der Wortstamm Natur suggeriert dem dafür empfänglichen Konsumenten, irgendwie besser, weil eben natürlich zu sein. Zudem impliziert der Begriff, dass es, wenn es schon so etwas gibt wie Naturwein, auch anderen Wein geben muss, Nicht-Naturwein, also unnatürlichen Wein. Und wer kippt schon gerne etwas Künstliches in sich hinein? Das ganze Thema klingt nach Klein gegen Groß, Handwerk gegen Konzern, Schürfwunde gegen Allergie, Heilpraktiker gegen Arzt, Blumenwiese gegen Monokultur. Damit bringt man schnell Sympathien auf seine Seite.

Doch so einfach ist das nicht. Zum einen muss man festhalten, dass Natur nichts von Grund auf Gutes ist. Natur ist wertfrei. In der Natur gibt es Viren, Erdbeben, Pocken, Arsen, Quecksilber, radioaktive Strahlung, schwarze Löcher und Würgeschlangen. Gut ist davon gar nichts. Schlecht auch nicht. Es ist einfach da. Zudem: wo endet die Definition von Natur? An den wilden Blumen am Rand des Weinbergs? Im Labor, bei Chemikern in weißen Kitteln? Warum heißen die dann Naturwissenschaftler? Und was soll überhaupt Nicht-Natur sein?

Aus Naturwein-Kreisen wird man aufdringlich damit konfrontiert, dass Naturwein anderem Wein vorzuziehen sei. Den meisten Personen aus dem Umfeld kommt inzwischen gar nichts anderes mehr ins Glas. Das erscheint gerade deshalb widersprüchlich, weil Naturwein-Liebhaber besonders oft ihre Offenheit und Neugier betonen.

Sowohl die Behauptung als auch die begriffliche Suggestion, dass Naturwein dem Konsumenten irgendwelche Vorteile böte, ist jedoch nicht haltbar ‒ nicht zuletzt, weil es „den Naturwein“ genauso wenig gibt, wie „den Nicht-Naturwein“. Ein passionierter Weinkonsument interessiert sich in der Regel nicht für Begrifflichkeiten, sondern für Preis, Qualität und Geschmack (mit individuellen Prioritäten). Bei Naturwein-Liebhabern steht jedoch fast immer das Dogma Naturwein im Vordergrund. Geschmack und Qualität ordnen sich dem häufig unter oder werden mitunter so zurechtgebogen, dass auch der säuerlichste, trübste und nach Huftierexkrementen duftende Rebsaft als hochwertig und spannend bezeichnet wird, jedoch keiner seriösen Weinkritik, die Wein anhand seiner sensorischen Merkmale bewertet, standhalten würde. Naturwein-Hardliner sind die neuen Etikettentrinker.

Der ideologische Überbau einer heilen Welt ist vor allem auch deshalb zynisch, weil auch Naturwein sich hinter der größten (und einzigen) gesundheitlichen Gefahr, die von Wein ausgeht, genauso so wenig freisprechen kann, wie herkömmlicher Wein: dem Alkohol. Auch der Inhalt einer Flasche Naturwein besteht immerhin aus einer ungefähr vier Zentimeter hohen Schicht Ethanol. Ein paar Flaschen feinster Naturwein auf ex befördern auch den bekehrtesten Naturalisten garantiert genauso schnell ins Koma wie dieselbe Menge Wein vom Discounter, führen bei dauerhaftem Missbrauch genauso zu Leberschäden und Alkoholismus, schaden einem ungeborenen Kind auf dieselbe Weise und verursachen durch das noch toxischere Abbauprodukt Acetaldehyd bei Maßlosigkeit genau denselben Kater. Die unwissenschaftliche Argumentation, dass das Fehlen von „Zusatzstoffen“ im Wein irgendwie bekömmlicher sei, der tatsächlich vielfach bedenklichere Alkohol jedoch nicht thematisiert wird, ist ein Paradoxon, das sich in unappetitlicher Nähe zu Esoterik und Verschwörungstheorien befindet.

Sieht man sich einige der einschlägigen Praktiken im Weinbau an, die oft bei Naturwein Anwendung finden, z. B. Biodynamie, wird man Zeuge weiterer esoterischer Praktiken, die unter anderem kosmische Energie, Kuhhörner und Homöopathie beinhalten. Einige der renommiertesten Weingüter der Welt, z. B. die Domaine de la Romanée-Conti, arbeiten mit diesen Praktiken, ein für Naturwein-Liebhaber oft kolportiertes Argument, dass Naturwein-Methoden ja in den besten Familien vorkämen. Doch das Argument ist eine Scheinkausalität. Esoterische Praktiken sind nicht kausal dafür verantwortlich, dass ein Wein an Qualität gewinnt. Das ist allenfalls eine Korrelation ‒ so, wie die Korrelation der Anzahl von Störchen und einer höheren Geburtenrate. Die Ursache, dass ein Wein großartig ausfällt, ist ‒ neben den Grundvoraussetzungen wie eine geeignete geografischen Lage mit entsprechendem Klima usw. ‒ vor allem eine penible und gewissenhafte Arbeit im Weinberg. Winzer, die biodynamisch arbeiten, gehen grundsätzlich schonend mit ihren Rebstöcken um. Das ist die eigentliche Kausalität.

Am Ende kann jeder trinken, was ihm schmeckt und jeder Winzer herstellen, was er möchte. Auch ein Naturwein muss sich aus Verbrauchersicht jedoch objektivierbaren Qualitätskriterien stellen. Das Verstecken hinter einem verklärten Gattungsbegriff reicht nicht aus, um gut zu sein.

Ich widme mich jetzt wieder meinem eleganten, seidigen Chambolle-Musigny. Ob das ein Naturwein ist? Ich weiß es nicht, und es ist mir vollkommen gleichgültig. Es ist ein hervorragender Wein, und das ist das einzig Wichtige.