Roadtrip, Stopp 2: Villa René Lalique, Wingen-sur-Moder (Teil 1)

Von Andernach sind es mit dem Auto knapp drei Stunden ins Elsass nach Wingen-sur-Moder, sechzig Kilometer südöstlich von Saarbrücken. In Wingen-sur-Moder, eine Knapp-zweitausend-Seelen-Gemeinde im Naturpark der Nordvogesen, steht die Villa René Lalique, umgeben von Wald, wie fast alles in der Region.

Das der Relais & Châteaux-Vereinigung zugehörige Haus befindet sich im Besitz des Schmuck-, Parfüm- und Glasobjekteherstellers Lalique, der seine Wurzeln hier im Ort hat. Die Objekte von Lalique prägen das Interieur des Hauses, von den luxuriösen, aber recht kitschigen Hotelzimmern mit gewöhnungsbedürftigem Marken-Raumduft bis zum Wasserglas im Restaurant.

Die Noblesse bedingt jedoch keine Förmlichkeit. Herzlicher könnte man im ganzen Haus kaum betreut werden. Vom (hygienisch makellosen) Check-in über den Verleih von Fahrrädern für (denkwürdige) Exkursionen in die Tiefen des Nadelwaldes bis hin zum tadellos souveränen und charmanten Service im Restaurant wird die Villa einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen.

Über dem mit zwei Sternen ausgezeichneten Restaurant des Hauses leuchtet der Name Jean-Georges Klein, der mich am Anfang meiner kulinarischen „Laufbahn“ so geprägt hat wie kaum ein anderer Koch. Das damalige Drei-Sterne-Restaurant L’Arnsbourg im zwanzig Minuten entfernten Baerenthal, in dem Autodidakt Klein über Jahrzehnte wirkte, bot mir entscheidende Schlüsselmomente beim Entdecken von wirklicher grandioser Küche. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich von großartiger Küche so überwältigt. Das ist nun zwölf Jahre her.

Im Jahr 2015 begann Klein nach 45 Jahren mit einem Wechsel vom L’Arnsbourg in die Villa René Lalique ein neues Kapitel. Ich musste irgendwann zurückkehren, zu Klein, ins Elsass und in die Nähe des Ortes, der mir so viel bedeutet hat.

Erst, als mir im kleinen Treppenhaus des Hotels ein maskierter junger Mann in Küchenmontur auf Deutsch „Hallo, Herr Walther“ zuruft, erinnere ich mich daran, dass hier seit einigen Jahren an der Seite von Klein der Österreicher Paul Stradner wirkt. Dieser hat, neben langjährigen Tätigkeiten in der Schwarzwaldstube und dem Brenners Park Restaurant, bereits mehrere Jahre mit Klein zusammengearbeitet. Inzwischen stehen beide gleichberechtigt am Herd, Klein vermutlich inzwischen eher als Mentor.

Der Speisesaal des großen Restaurants ist ringsherum komplett verglast, die Tische sind groß und den aktuellen Hygienestandards entsprechend ausreichend voneinander entfernt. Charmante Details wie Handdesinfektionsmittel an jedem Tisch und eine Papiertüte, in der man seinen Mund-Nasen-Schutz verstauen kann, während man am Platz sitzt, weisen stilvoll auf die neue Wirklichkeit hin. Schwere Lalique-Gläser und teure Kristallkaraffen werben diskret für die Glaskunst des Hauses.

Die über einen QR-Code digital angebotene Speisekarte bietet neben einigen (mir unbekannten) Klassikern aus dem früheren L’Arnsbourg fünf Menüs (€ 78‒€ 205) mit jeweils mehreren Auswahlmöglichkeiten. Die für ein französisches Spitzenrestaurant ungewöhnlich umfangreiche Auswahl ‒ sicherlich mehr als fünfzig Gerichte ‒ bietet genügend Optionen für viele Mahle. Ich bin immerhin zwei Tage im Haus, was mir die Möglichkeit verschafft, einiges auszuprobieren. Heute Abend wähle ich überwiegend von den A-la-carte-Klassikern. In der Karaffe kühlt derweil schon ein 2013er Meursault-Genevrières 1er Cru von der Domaine Michel Bouzereau (€ 210).

Drei Amuse-Bouches leiten das Essen ein. Ein verführerisch luftig-knuspriges Teigröllchen präsentiert „vegetarische Blutwurst“ (offenbar mit roter Bete) und Apfelgelee, sehr fein, mit ansprechender Säure (8/10); mit einem Œuf à la Russe mit einem Wachtelei wird ein angestaubter Fingerfood-Klassiker neu interpretiert und begeistert durch eine elegant herausgearbeitete Rustikalität (8/10); das Ganze schließt ein Bloody-Mary-Cocktail mit Vodka- und Tomateneis so erfrischend ab wie man sich diesen Cocktail eigentlich wünschen würde (7,9/10).

Ein Œuf parfait « Sarah Bernhardt »ist ein weiteres Amuse-Bouche und beinhaltet in der Eierschale eine schaumig-cremige Zubereitung mit Zwiebeln und Estragon. Die karamellartige Süße der Zwiebel und der anisartige Estragon sind auf wundervolle Art bodenständig und elegant zugleich, dazu gibt es ein Stück Toast mit Parmesan und würzig angemachten Kräutern aus dem Garten. Sehr Französisch, auf handwerklich höchstem Niveau und absolut köstlich. (9/10)

Die dritte Einstimmung nimmt Bezug auf die Region in Form eines Pot-au-feu. Zu erstaunlich aromatischen Schmorgemüsen, die zwar im Sinne des Gerichts „weich“ sind, aber dennoch gerade so eben nicht zerfallen, gibt es geschmortes paleron (Schulterstück) vom Rind und einen Markkloß. Etwas heiße Consommé wird angegossen, nicht zu viel, aber ausreichend, um das parfümartige Aroma, das von ihr ausgeht, zu genießen. A part gibt es noch eine weitere Bouillon, dichter eingekocht und gehaltvoll, sowie „Chips“ aus getrockneter Zwiebel und einem Kohlblatt, die man in eine würzig-frische Sabayon mit Meerrettich und Senf stippt ‒ eine Anspielung auf die traditionelle Art, dieses Gericht in zwei Gängen zu essen. Das großartige Gericht demonstriert eindringlich, wie die französische Spitzengastronomie es oft schafft, bekannte, bürgerliche Gerichte und deren Geschmacksbilder durch exzellente Produkte, kreative Ideen und makelloses Handwerk auf ein Spitzenniveau zu portieren. (9/10)

Mein erster gewählter Gang ist eine Emulsion von Kartoffeln und schwarzem Trüffel (€ 48). Ein sehr luftiges, fast schaumiges Kartoffelpüree ist bei diesem Teller mit Scheiben schwarzen Périgord-Trüffels komplett bedeckt. Bereits dieser intensive, ätherische, an Terpentin erinnernde Duft, der vom Teller ausgeht, ist fantastisch. Wenngleich mir die Kartoffelzubereitung eine Nuance zu schaumig ist, ist dieser Teller geschmacklich eine Wucht. (8,9/10)

Vor dem Hauptgang wird noch ein Waldorf-Salat eingeschoben, oder vielmehr eine Interpretation davon. Es gibt Granny-Smith-Eis, Nüsse, Trauben, Sellerie ‒ also im Wesentlichen die bekannten Mitspieler des amerikanischen Klassikers ‒, dazu noch Kresse und eine hervorragend abgeschmeckte Vinaigrette. Keck, würzig, frisch, köstlich. (8/10)

Den Hauptgang, in Salzkruste gegarter Petersfisch (€ 145 für zwei), präpariert der charmante Maître Patrick gekonnt am Tisch, während seine Kollegen weitere Beilagen auftischen. Das Ergebnis könnte kaum schlichter ‒ und kaum schöner ‒ anmuten.

Die Schneeweißen, großen Filets sind durch die Garung im Salzmantel besonders saftig und wohlschmeckend, eine Sauce vierge (zum Nachnehmen), ein separates Kräuterrisotto und ein paar weichgeschmorte Knoblauchzehen sorgen für unbeschwerten, mediterranen Genuss. Der Fisch ist heiß, die Sauce mit Olivenöl, Tomate, Basilikum und weiteren Kräutern ist so simpel wie genial. Ich verliere mich in dem Gericht, es gibt nur noch mich und diesen berührend einfachen, aber so eindringlichen Genuss. Zweifellos eines der besten Fischgerichte, die ich je genießen konnte. (10/10)

Die Überleitung zum Dessert wird mit gleich zwei Kreationen eingeleitet. Eine Lavendelmousse mit schwarzen Oliven, Erdbeeren und Olivenöl klingt wenig spektakulär, ist jedoch ein Hochgenuss. Zu besonders aromatischen Erdbeeren erinnert der Geschmack von Lavendel an die Provence; ein Bild, das durch etwas Salz (an den Olivenstückchen) und Olivenöl noch intensiviert wird. (8,5/10)

Pré-Dessert Nummer zwei ist dann handwerklich deutlich komplexer und stellt die wunderbar aromatische Meyer-Zitrone sowie Estragon in den Mittelpunkt. Die Aromen sind in unterschiedlichen Zubereitungen (Eis, Schaum und Cremes) auf kleinen Teigstücken appliziert. Das schmeckt alles sehr intensiv nach Zitrusfrüchten, der Estragon dazu will sich mir geschmacklich nicht voll erschließen. Dennoch erfrischend und sehr gut. (7/10)

Beim eigentlichen Dessert (€ 25) fiel meine Wahl auf ein Thema um Vanille. Die Stangen, die man hier wie Trüffeln in einer eigenen Schachtel präsentiert, sind laut Maître die einzigen wild wachsenden und stammen aus Mexiko. Der Schachtel entströmt ein intensiver, mild süßlicher Duft, der an tropische Breiten erinnert. Daraus gemacht hat man schließlich ein Eis und eine Creme, Letztere integriert in einem Mille-feuille, der handwerklich eine Referenz ist. Den verführerisch knusprigen und betörend parfümierten Genuss rundet eine Karamellsauce ab. Besser kann ein Dessert nicht sein, das nehme ich mit in meine Träume. (10/10)

Davor gibt es noch einen ebenfalls unverschämt guten Abschluss, unter anderem eine einfache, aber köstliche Kreation im Glas mit Ananas, Erdbeere und Orangencreme ‒ kühl, cremig, karibisch ‒ (7,9/10) und verschiedene Petit-fours wie ein mit heißer, flüssiger Himbeere gefüllter Beignet, eine Opéra-Schnitte „Mojito“ und Madeleines, alle auf Spitzenniveau (8,9/10).

Der erste Tag ‒ und Abend ‒ in der Villa kommt damit zu einem großartigen Abschluss. Morgen bin ich erneut hier und werde mich weiter durch die Karte probieren. Kein schlechter Plan.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Villa René Lalique (→ Website)
Chefs de Cuisine: Jean-Georges Klein, Paul Stradner
Ort: Wingen-sur-Moder, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 12.07.2020
Guide Michelin (F 2020): **
Meine Bewertung dieses Essens 8,9 (Was bedeutet das?)
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