reinstoff – Zähneputzen nicht vergessen

Das Restaurant reinstoff hat alles, um ein ziemlich angesagter und pulsierender Laden zu sein: Es ist in Berlin, das Interieur versprüht schicken Industriecharme, das Team ist jung und die Speisekarte kreativ. Vor gut zwei Jahren war ich zum letzten Mal hier. Ich hatte recht gut gespeist, aber ein Funke sprang damals nicht so recht vom Teller zu mir über. Die Atmosphäre war mir etwas zu düster, der Service zwar kompetent und freundlich, aber trotzdem zu steif, das Publikum zu still und die Produkte auch nicht unbedingt zum Niederknien.

Doch genau in dieser Zeit entschieden die Inspektoren vom Guide Michelin, die Küche des reinstoff auf zwei Sterne aufzuwerten. Auf diesem Niveau sah ich mein Menü damals zwar nicht, doch mein Eindruck war ohnehin, dass die deutschen Tester vielerorts für die 2012er-Ausgabe etwas zu tief in die Sternetüte gegriffen hatten.

Aber über dem reinstoff leuchten die zwei Sterne bis heute, und so bin ich gespannt, an diesem Abend erneut hier einzukehren.

Die Weinkarte listet fast immer noch ausschließlich deutsche und spanische Gewächse, womit dem Wunsch meiner trockenen Kehle nach einem Glas eiskalten Champagners leider nicht nachgekommen werden kann. Und wären wir hier in Spanien, würde ich das ja verstehen, aber wir sind (laut Facebook) in einem „Nobelrestaurant“ in Berlin-Mitte, ohne jeglichen erkennbaren Bezug zur iberischen Halbinsel. Eine solche Restriktion finde ich an diesem Ort nicht nachvollziehbar und irgendwie aufgesetzt.

Wie dem auch sei. Bei einem Cava also stöbere ich dann in der Karte, die zwei Menüs bietet. Meine Entscheidung fällt auf das Menü „weiter draußen“ (8 Gänge, € 145).

Den Auftakt macht eine Batterie von Amuse-Bouches mit Mut zu Akzenten und teilweise schönem Säurespiel. Zufrieden – aber fern von euphorisiert – probiere ich mich durch die Petitessen. (Melone, Mate und Wodka; Sonnenblumenkerne und Algen; Confiertes Salatherz und Vinaigrette (sehr gut!); Küchenkraut Mauerpfeffer).

Ein weiteres Amuse, Birchermüsli, schmeckt lasch und pappig und hinterlässt bei mir mehrere große Fragezeichen, aus welchem Grund so etwas serviert wird. Schmeckt das irgendjemandem in der Küche wirklich gut? Ich meine so richtig, zum Ausschlecken und mit Nachschlag?

Bevor ich dieser Frage weiter nachgehe, beginnt das eigentliche Menü. Der erste Gang ist „Steinpilztrüffel im Sommer, Zitronentagetes und Hühnerschmorsaft“.

Das Gericht duftet beeindruckend intensiv nach nassem Waldboden nach einem Sommerregen. Die Steinpilze sind makellos und schmecken in Kombination mit dem zitrusartigen Aroma der Tagetespflanze und dem herzhaften Hühnerfond ausgezeichnet. Mühe habe ich nur mit der etwas fahrigen Optik des Gerichts (dutzende verschachtelte Komponenten auf einem gemusterten Teller), aber das ist natürlich Nebensache.

Kaisergranat, junge Lindenblätter und Piniennuss“ stellt einen Kaisergranat in den Mittelpunkt, der von seiner Qualität für ein Essen in einer deutschen Großstadt nicht mehr als ganz ordentlich ist. Und das meine ich nicht beanstandend, sondern völlig sachlich. So ist das eben, wenn man Vergleichsmöglichkeiten hat (z. B. hier, hier oder hier). Der aromatische Sud ist gelungen, aber die weiteren Zutaten klingen ausgefallener als sie sind: Wer, wie ich, noch nie Lindenblätter probiert hat, weiß hiernach, dass er nichts verpasst hat, und die Wahl des ungeläufigen Synonyms Piniennuss (statt Pinienkern) im Titel schreit nach so viel Aufmerksamkeit wie Lady Gaga in einem ihrer Kostüme.

Weiter geht’s mit einem von mir aus dem Menü „ganz nah“ zusätzlich eingeschobenen Gang, „Grüner Kohlrabi: geröstet und gehobelt, Nudelblätter im Sud und Seezungen-Bottarga“. Dieser Gang schmeichelt mir mit einer aus dem Gemüse subtil und fein herausgearbeiteten Eleganz, lediglich den Bottarga hätte man als Gegenpol gerne noch ein bisschen mutiger einsetzen dürfen.

Der verlockend klingende und farbenfrohe Gang „Tomaten: Raritäten aus ‚Gretes Garten‘ und Bayo-Reis“ sieht intensiv aromatisch aus, aber ein Aha-Erlebnis am Gaumen bleibt leider aus – nicht nur bei mir, sondern, wie übrigens bei fast allen Gängen bisher, im Einklang mit allen am Tisch.

Gelungene Akzente setzt der Lüneburger Flusswels mit Aalsauce und süß-sauren Radieschen. Erst jetzt wird deutlich, wie unterfordert die Salz- und Umami-Rezeptoren in diesem Menü bisher waren. Der intensive Jus ist zum Reinlegen und die Qualität des Fischs hervorragend. Na bitte!

Aus ganz ähnlichen Gründen exzellent ist auch ein kleiner Zwischengang: Ochsenschwanz-Curry mit Linsen, Mango und Kichererbsen. Die fast schon Robuchon-ähnliche Kreation ist wunderbar süffig; alles schmilzt am Gaumen zu einem wohlschmeckenden Ensemble.

Das schwarzbunte Rind mit Gewürzen aus dem Morgenland – sowie mit gebratener Nuss mit Ackerbohne, Maiskolben, Safran und Zimtstrauch – fällt dann zwar anstandslos aus, aber nicht besser als unzählige andere Gerichte dieser Art. Hier fehlen entweder Akzente (wie z. B. damals bei einem recht ähnlich konzipierten, aber viel mutiger gewürzten Gericht von Alexandro Pape im Fährhaus), oder, wenn schon puristisch, ein qualitativ noch viel überzeugenderes Produkt.

Und für alle, die mit Gags in Restaurants sympathisieren, ist dann sicherlich das Pré-Dessert gedacht. Auf einem Glas mit Gin, Gurke und Tonic-Eiskugeln liegt ein Zahnbürstenrohling, dessen „Borsten“ aus Joghurt und Minze hergestellt sind. Aus der Tube drückt man dann eine „Zahnpasta“ mit Eukalyptus-, Fichten- und Minzöl darauf, bevor man sich das Ding in den Mund steckt. Abgesehen davon, wie lächerlich das aussieht, denke ich für einen kurzen Moment, ich sei bereits zur nächtlichen Zahnpflege in meinem Hotelzimmer angekommen. Bäh! Schnell den Gin hinterherspülen.

Dann folgen noch Käse und ein paar Desserts. Davon ist alles ganz in Ordnung, aber später, nach meinem tatsächlichen Zähneputzen, auch schon wieder vergessen.

Ich resümiere wie folgt:

Viele Gäste in Deutschland finden so etwas toll. Sie zahlen vergleichsweise viel Geld für einen Restaurantbesuch und erwarten dafür ein besonderes, nicht alltägliches, Erlebnis. Für diese Klientel müssen auch die äußeren Umstände besonders, d. h. möglichst andersartig sein als sie es gewohnt sind. „Junge Lindenblätter“, „Piniennüsse“ und Zahnbürsten erfüllen dieses Bedürfnis natürlich perfekt.

Mit meinen heutigen Schilderungen kritisiere ich auch gar nicht besonders die Küchenleistung, die ich zwar lange nicht auf Zwei-Sterne-Niveau sehe, die aber vermutlich genau das erfüllt, was die meisten Gäste sich wünschen. Doch für mich persönlich bietet ein solches Essen nichts, das für meine derzeitigen kulinarischen Bedürfnisse in irgendeiner Weise von Belang wäre.

Und dennoch war der Abend erstklassig! Ich habe alte Freunde wiedergesehen, neue Freundschaften geschlossen, unser Tisch war gedeckt, die Gespräche heiter und die Gläser voll. So gesehen fehlte nicht viel.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: reinstoff (→ Website)
Chef de Cuisine: Daniel Achilles
Ort: Berlin, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 18.07.2013
Guide Michelin (D 2013): **
Meine Bewertung dieses Essens 6,9 (Was bedeutet das?)