Jin – Sushi und Sonne

Langsam, aber sicher, kommen die Gelegenheiten nach Europa. Die Gelegenheiten, um in den Genuss von authentischem Sushi zu gelangen. Denn wie jeder kulinarisch Versierte weiß, haben die Reiszylinder mit Avocado, Lachs und Mayonnaise mit Sushi nichts tun. Ich meine wirklich gar nichts, außer, dass man beides runterschlucken kann. Eine perfekt kross gebratene Ente hat mehr mit Sushi zu tun als California Rolls & Co. Warum? Weil es bei Sushi nicht um Reis oder Fisch geht, sondern um Textur und Temperatur, um Klebrigkeit, Körnigkeit, Schliff, Wärme, Säure, Frische, Biss, Volumen, Formen und Schnitte. Und um Respekt, Stille, Konzentration, Präzision, Interaktion, Tradition und noch mehr Worte mit „-on“. Wer das schon mal erlebt hat, weiß, wovon ich spreche. Das erste Mal Sushi ist eine Offenbarung.

In Europa konnte man das bis vor kurzem nirgends erleben. Das liegt einfach daran, dass die Zubereitung von Sushi ein japanisches Handwerk ist, welches die Mentalität eines Japaners benötigt, um authentisch umgesetzt zu werden. Und es benötigt fangfrischen Fisch sowie, zu guter Letzt, auch noch Gäste, die für all das bereit sind, tief in die Tasche zu greifen.

Außerhalb von Japan war eine solche Kombination bisher überwiegend nur in den Metropolen der USA anzufinden, z. B. im Masa in New York, Kusakabe in San Francisco oder Urasawa in Los Angeles (das leider geschlossen hatte, als ich neulich dort war). Auch in Hongkong wird man im Sushi Shikon großartigen Sushis fündig.

Doch nun tut sich auch in Europa einiges, allem voran in Paris und London. In Paris hatte ich vor einigen Monaten schon große Freude bei Sushi Okuda, nun stehe ich an diesem Mittag vor der Tür vom Jin, nur wenige Schritte vom Elysée-Palast entfernt.

Im Jin ist alles japanisch, bis auf die große Fensterfront nach draußen. Das ist witzig, ich kenne sonst kein einziges Sushi-Restaurant mit Fenstern. Doch das wird mir erst klar, als ich am Tresen Platz nehme und von dort aus nach draußen und in das Licht der Stadt blicke. Sushi und Sonnenlicht, irgendwie passt das nicht. Es ist ein merkwürdiger Kontrast. Beileibe kein störender, eher einer, der verdeutlicht, wie weit entfernt die japanische Kultur von hier ist. Wir mögen Helligkeit und Sonne und Heiterkeit und offene Fenster, aber das alles hat in japanischen Restaurants eigentlich nichts zu suchen. Die Freude, die man dort empfindet, entstammt anderen Dingen.

Viele dieser Dinge finde ich hier schon beim bloßen Umherblicken. Das weiche, helle Holz des Tresens; die getöpferte Keramik, aus denen Pinsel herausluken wie aus den Töpfen eines Künstlers; die aufblitzende Klinge des scharfen Messers; der frisch geriebene Wasabi; das warme Handtuch, das gerade gereicht wird: all das ist beruhigend, anmutig und appetitanregend.

Auf der Speisekarte gibt es zwei Omakase-Menüs (€ 95 bzw. € 145). Ich entscheide mich wegen des noch bevorstehenden kulinarischen Tagesprogramms zunächst für das kleinere, stocke aber im Laufe des Menüs noch ein paar Gänge auf, die hier und da bei anderen Gästen zu sehen sind. Auf einen optionalen Appetizer mit Kaviar verzichte ich. Ein solches Extra hat sich in westlichen Sushi-Restaurants offenbar etabliert und als profitabel erwiesen, hat jedoch mit japanischer Authentizität nichts zu tun.

Das Essen beginnt mit Hummer mit Blumenkohl und Misosud. Alles ist frisch und auf den Punkt, und die Geschmackswelt wird durch das Miso bereits auf Fernost gestimmt. Sehr fein.

Es folgt ein Sashimi vom Wolfsbarsch in herausragender Qualität: weder fischig noch zäh, sondern perfekt im Biss, mit einem nur andeutenden, flüchtigen Geschmack nach Frische und Meer. Japanische Schalotten, frisch geriebener, duftender Wasabi und etwas Meersalz vervollkommnen dieses kleine, ganz besonders glücklich stimmende Gericht.

Es folgen ein paar saftige, dicke Tranchen Roter Thunmit Wasabi. Der Thunfisch ist opulent und gehaltvoll, mit fantastischem Schmelz.

Dann folgt Gelbflossenmakrele mit etwas Sojasauce und Schnittlauch. Ich beobachte, wie wichtig es dem Sushimeister ist, dass die kleine Portion Schnittlauch in der Mitte des dunkleren Teils des Fischs platziert ist. Diese fast schon autistische Akribie, die jedem Detail in Zusammenhang mit Sushiherstellung gewidmet wird, macht Sushi zu einem hochwertigen Präzisionshandwerk, das viele Parallelen mit der Uhrmacherkunst aufweist. Komisch eigentlich, dass die Schweizer darin führend sind.

Abalone mit geräuchertem Kabeljau war nicht Bestandteil des Menüs, doch die wollte ich mir nicht entgehen lassen, nachdem das delikate Meeresschneckentier längst zu einem Favoriten von mir geworden ist. Diese hier ist allerdings etwas zäh und fade und damit leider kein Vergleich zu den Exemplaren, die in Japan auf die Teller kommen. Dennoch ein sehr guter Gang – meine Referenz ist immerhin Weltklasse-Sushi.

Jetzt geht es mit dem eigentlichen (Nigiri-)Sushi-Menü weiter.

Steinbutt

Kaisergranat – Steinbutt und Kaisergranat begegnet man in Japan eigentlich nicht, was diese Eröffnung zunächst etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen lässt. Doch das oberste Gebot hier heißt Frische, daher ist es nur legitim, auf lokale Produkte zurückzugreifen.

Auf jeden Fall sind diese beiden Häppchen wohltuend und wunderbar. Die klebrige Textur vom Reis, die Körner, die mit ihrem feinen Schliff und ihrer runden Form dem Gaumen schmeicheln: all das ist hohes Sushi-Niveau.

Jakobsmuschel

Tintenfisch

Thunfisch – zwei Schnitte von sehr hoher Qualität, vermutlich vom hochwertigen mittleren Rückenteil (Senaka-Akami) mit nur wenig Fett, aber einem intensiven Eigengeschmack und schönem Schmelz. Fantastische Qualität.

Stachelmakrele (?)

?

Kurzflossen-Mako, sofern ich das richtig verstanden habe.

Lachs

Handrolle mit Thunfisch, Reis und Soja.

Das Ende des Menüs leitet ein Misosüppchen mit Hummer-Dashi ein (etwas zu süß).

Es folgt Tamago, süßes Omelette, das in Japan deutlich anders schmeckt (dichter, weniger fettig und nicht ganz so süß).

Den Abschluss bildet ein hervorragendes Dessert mit Feigen und einem Gelee aus grünem Tee.

Das Jin ist ein wahres Juwel in dieser ganz und gar dem Genuss gewidmeten Stadt, die für anspruchsvollste Gaumen alles bietet – inzwischen auch authentisches Sushi. Es wird sich in dieser Hinsicht noch viel tun, da bin ich mir sicher. Wer nicht mal eben nach Japan reisen kann und dennoch ernsthaftes Sushi probieren möchte, der sollte hier bei Gelegenheit einkehren. Die Offenbarung, von der ich oben sprach, welche die ganze Faszination für Sushi anfachen kann, ist hier schon erlebbar. Jin, nichts wie hin!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Jin (→ Website)
Chef de Cuisine: Taku Watanabe
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 10.10.2015
Guide Michelin (F/MC 2015): *
Meine Bewertung dieses Essens 7,5 (Was bedeutet das?)