L’Abysse et L’Agneau ‒ Sushi und Lamm

Nach L’Abeille, L’Ambroisie, L’Arcane, L’Archeste, L’Arôme, L’Atelier de Joël Robuchon und L’Axel hat Paris inzwischen ein weiteres besterntes Restaurant, das mit L-Apostroph-A beginnt. Als wäre das alles nicht schon schwierig genug auseinanderzuhalten.

L’Abysse ‒ nach dem französischen Wort für Untiefe oder Tiefsee ‒ heißt das neue Sushi-Restaurant von Yannick Alléno. Den Meisterkoch, der sowohl hier in Paris als auch in Courchevel jeweils ein Drei-Sterne-Restaurant betreibt, hat man bis dato eigentlich nicht in Verbindung mit japanischer Küche gebracht. Die französische Hauptstadt dagegen schon, denn sie bietet, zusammen mit weiteren Ausnahmen, vor allem in London (The Araki) und Stockholm (Sushi Sho), die rare Möglichkeit, authentisches Sushi auf hohem Niveau zu probieren.

Dass sich ein berühmter französischer Küchenchef nun dem Thema widmet, ist neu und spannend. Natürlich steht der vielbeschäftigte Alléno hier nicht selbst hinterm Tresen, sondern allen voran Yasunari Okazaki, der in Tokio viele Jahre sein Handwerk erlernt hat und nun im L’Abysse das Sagen hat. Alléno ist heute aber erfreulicherweise anwesend und verbringt mehr Zeit im L’Abysse als oben im Drei-Sterne-Restaurant.

Das Interieur des Restaurants versucht nicht, japanische Restaurants zu imitieren. Im Gegenteil, es ist ein geradezu eklektischer Mix aus mondänem französischem Luxus, japanischer Zurückhaltung und einer stellenweise recht skurrilen Wanddekoration.

Charmantes Personal reicht die Speisekarte, die ich mir zu einem Glas 2015er Meursault „Vieilles Vignes“ von der Domaine Vincent Girardin (€ 32) zu Gemüte führe. Es gibt zwei Menüs: Omakase für das volle Programm (€ 280) oder das „Menu rencontre“ für € 150. Weinbegleitungen werden dazu für € 140 bzw. € 75 angeboten. Schöpft man zu zweit aus den Vollen, kann die Rechnung schnell vierstellig werden. Willkommen in Paris.

Ein Schälchen mit einer Maiscreme und roter Bete eröffnet das Menü leicht salzig und angenehm kühl. Überraschend, äußerst gut und stilistisch nicht in eine Länderecke zu zwängen. (7,5/10)

Der zweite Auftakt ist ein würfelförmiger, umami schmeckender Artischockentofu, der mit jodig-mildem Hechtrogen sowie Algentempura getoppt ist. Der Happen bietet eine hervorragende, rauchige Geschmackstiefe. (8/10)

Kreation Nummer drei sind Bouchot-Muscheln, die auf dem Stück einer aus Weißkohl und Nori hergestellten Rolle präsentiert sind. Das schmeckt eigentümlich, nach Erde und Meer, warm und kühl und nach Frankreich und Japan zugleich. (8/10)

Noch geheimnisvoller ist ein Sakegelée, das in einer Creme mit Belon-Austern und weißen Bohnen serviert ist. Das transparente Gelee schmeckt ausgewogen bitter und süß zugleich, die Austerncreme ist intensiv „meerig“. Erneut sind hier zwei Pole auf dem Teller, die doch eine Einheit bilden. (7,5/10)

Es folgt ein Sashimi von mittelfettem Thunfischbauch (chuo toro) und Wolfsbarsch, dazu, schlicht und klassisch, frisch geriebener Wasabi. Ich bin zwar erst wenige Wochen zwangsweise Sushi-abstinent, und doch ist es schon wieder eine große Erleichterung, einen solchen Teller vor mir zu haben. Die Qualitäten beider Fische sind außergewöhnlich, und meine Freude am frischen Wurzelgemüse groß. Der Thunfisch ist von einer der besten Qualitäten, die ich bisher in Europa probiert habe ‒ in dieser Form nur noch getoppt vom The Araki in London. Fast noch faszinierender ist der Wolfsbarsch, der zwar seine natürliche, feste Textur aufweist, dabei aber dennoch buttrig zart ist und nach diesem kleinen Hauch „Mehr-als-Nichts“ schmeckt. Ganz japanisch, ganz groß. (8/10)

Nigiri-Sushi folgt. Die Reihe beginnt mit Petersfisch. Das Stück Sushi ist auffällig klein, das neta, die Fischauflage, ein bisschen „ausgefranst“ und matt, was jedoch kein Makel ist, sondern an der (westlichen) Wahl der Fischsorte liegt. Am Gaumen fallen der lockere Reis sowie eine zurückhaltende Säure auf. Küchenchef Okazaki verwendet für sein Sushi in Frankreich kultivierten Sasanishiki-Reis, der ein kurzes Korn hat, etwas weniger klebrig ist und eine „zarte“ Textur hat. Die Top-Sushi-Restaurants in Japan verwenden überwiegend andere Sorten, aber das Ergebnis hier ist erstaunlich gut.

Tintenfisch, getoppt mit einem Tintenfischtinte enthaltenden Gelee, ist noch besser. Das neta ist präzise geschnitten und portioniert, die feinen Einschnitte im Fleisch verteilen das intensive Gelee am Gaumen. Das ist sogar hervorragend.

Es folgt Wolfsbarsch, hier in Form eines deutlich kaubedürftigeren Stücks als vorhin beim Sashimi. Durch den Fisch mit sehr „klarem“, fast neutralem Geschmack fällt die sehr geringe Säure des Reises etwas negativ auf, obwohl drei verschiedene Reisessigsorten bei der Garung des Reises verwendet werden.

Gelbschwanzmakrele ist etwas zu dick geschnitten und schmeckt leicht fischig. Das ist eher mäßig.

Es folgt ein Intermezzo mit einem Hummer-Nigiri mit Vanille und einem separaten Schälchen mit einem sehr wohlschmeckenden, kühlen Gemüsegelee mit Sojasauce und Sesam. Ich bin nicht der größte Freunde der Textur roher Krustentiere, was sich hier erneut bestätigt, dennoch ist das Ganze sehr gut.

Ein Nigiri mit magerem Thunfisch ist auf hohem Niveau, aber etwas zu dick geschnitten.

Auf sehr ähnlichem Niveau ‒ das heißt weiterhin in einer Region um 7/10 ‒ geht es weiter.

Dorade ähnelt handwerklich und qualitativ dem Stück davor.

Für Rotbarbe wurde offenbar neuer Reis verwendet, der deutlich zu warm ist.

Eine Rolle mit Wagyu-Tatar ist mit einer appetitanregenden Säure ausgestattet, doch zwischen Reis und Noriblatt geht das Fleisch etwas unter. Nach wie vor ist das dennoch sehr gut. Meine Kritikpunkte beschreiben ein ohnehin hohes Niveau.

Mittelfetter Thunfisch kommt erneut in nicht besonders authentischen Proportionen daher und verfügt über eine sehr gute, aber leicht „wässrige“ Qualität. Das ist bei den Qualitäten, die man in Europa einkaufen kann ‒ selbst bei „Top-Ware“ ‒ leider ein gängiger Makel.

Fetter Thunfisch. Am Gaumen ist das zwar immer irgendwie markant, aber die Beschaffenheit dieses Stücks ist etwas seltsam. Das (leicht angeflämmte) Stück Fisch fällt geradezu auseinander, da die Fettstränge das Fleisch nicht mehr zusammenhalten. Alles hat eine sehr heterogene Struktur und ist erneut viel zu dick geschnitten. Eine danach servierte Handrolle aus demselben Teil ist etwas ausgewogener.

Hinter mir bringt man einer am Tisch sitzenden Gesellschaft, von der auch Yannick Alléno Teil ist, derweil eine ganze Platte mit Nigiri ‒ ein weiterer Hinweis darauf, dass man sich hier auch zu westlichen Gepflogenheiten bekennt.

Das untermauert der folgende Gang mit magerem Thunfisch ‒ das Nigiri ist hier deutlich besser proportioniert ‒ und schwarzem Trüffel von sensationeller Qualität. Der Edelpilz fügt dem Nigiri einen interessanten, erdigen Geschmack hinzu. Ein ebenfalls hervorragendes Maki mit Thunfisch und Kaviar ist die zweite Komponente dieses sehr französisch inspirierten Intermezzos. (8/10)

Szenenwechsel. Die Kombination aus einem seltsamerweise noch immer deutlich präsenten Appetit sowie der Tatsache, dass sich direkt über mir ein grandioses Drei-Sterne-Restaurant befindet, führt dazu, dass ich wenige Minuten später oben an einem Tisch sitze und einen A-la-carte-Hauptgang dazwischenschiebe. Zu meinem Glück gab es dort eine Stornierung. Aber wenn ich drei Sternen schon so nah bin, hält mich eigentlich auch nichts mehr auf.

Nach unscheinbar aussehenden, aber himmlisch schmeckenden Amuse-Bouches (8,9/10) bestelle ich L’Agneau de lait des Pyrénées (€ 195) aus der wunderbar produktbetonten, aber astronomisch teuren Speisekarte.

Das Milchlamm wird in drei Gängen serviert. Den Auftakt macht eine Pastete mit Lamm und Quitte, dazu erfrischender Portulak mit einer Vinaigrette mit Brennnesselöl. Hitze ‒ ein so wichtiges Attribut von beglückender Küche ‒ transportiert appetitanregende Aromen direkt in meinen Kopf. Es duftet nach Schmorfleisch, Obstbäumen, Bäckerei und Gewürzen und nach der säuerlichen Frische des Salats. Das Gericht ist im Kern klassisch französisch, dicht und schwer und dabei doch so präzise umgesetzt wie nur eine moderne Küche dazu in der Lage ist. Diese Pastete ist sicherlich die beste, die ich je gegessen habe. (9/10)

Es folgt Milchlamm in mehreren Stücken, die in einem heißen Steingefäß mit Teigkruste an den Tisch gebracht werden und dort auf Fichtennadeln und heißen Steinen kurz zu Ende garen. Serviert wird das Fleisch dann mit einer grande sauce moderne mit Trüffeln und in Essig marinierten Zwiebeln.

Alléno, dem Meister der modernen Saucenkunst, gelingt damit wahrhaftig Großes, eine süffige, nach Zwiebeln, Ketchup und Hotdog duftende Sauce, aber natürlich viel subtiler, eingerahmt von erdigem, ätherischem Trüffel. Das Lamm, das aufgrund der Größe der Karrees wirklich klein gewesen sein muss, schmeckt wunderbar. In diesem Kontext ist ein Garpunkt, der über rosé hinaus gewählt ist, beabsichtigt. Je qualitativ hochwertiger das Fleisch, umso unwichtiger ist ohnehin die Idee eines idealen, gar blutigen oder rosa Garpunkts. Das Fleisch ist butterzart, mit authentischem, subtilem Lammgeschmack, und das am Gaumen schmelzende Fett bringt noch das Aroma der Fichtennadeln mit, das von einem Potpourri aus Kräutern auf dem Teller weitergetragen wird. Nichts weniger als grandiose Küche, die ich jedem dringend ans Herz legen möchte, der bei Sterneküche an Gels, Cremes und lauwarme „Tellerkunstwerke“ denkt. (10/10)

Dazu trinke ich offen ein, zwei Gläser 2013er Ségla de Château Rauzan-Ségla (€ 22). Der Bordeaux passt dazu perfekt.

Gang drei des Gerichts sind mit Polenta hergestellte Ravioli, die mit Lammrückenmark (amourette) gefüllt, mit einer Muskatnuss-Sabayon übergossen und in einem Persillade-Saucenspiegel angerichtet sind. Der Teig der Ravioli hat aufgrund der Polenta eine dickere, festere Textur; die ungewöhnliche Füllung nimmt man im Zusammenspiel mit den Saucen jedoch nicht direkt wahr. Die Saucen sind abermals absolutes Spitzenniveau, mir fällt kein Ort ein, an dem man derzeit bessere Saucen genießen kann als bei Alléno. Dieser Abschluss ist ein unkomplizierter, herzhafter Snack, der besonders wegen des Saucenhandwerks so herausragend ist. (8/10)

Zwanzig Minuten später sitze ich, passend zu den Desserts, wieder unten im L’Abysse.

Es gibt eine Art Kuchen mit Kürbis, Schokolade und Nori mit einer für ein Dessert nach meinem Geschmack deutlich zu „meerigen“ Geschmackswelt (6/10), danach ein direkt am Tisch schockgefrostetes Perillablatt (als eine Art modernes Tempura) und einer in etwas leicht Süßlichem eingelegten „Perle“ aus Selleriewurzel. Das ist sehr delikat, mit einer guten Balance zwischen dem pfeffrig-fruchtigen Blatt und einer feinen Honigsüße aus dem geheimnisvollen Schälchen (7/10).

Ein fruchtiges, leicht pikantes Gebäckstück mit Birne und Ingwer (6,9/10) sowie ein geschmacklich eher unauffälliger und etwas trockener Zitronenkuchen (6,5/10) ziehen den süßen Abschluss etwas in die Länge.

Ein Highlight folgt noch in Form von dunkler, knuspriger Gebilde mit Schokolade und Yuzu, was geschmacklich an „Erfrischungsstäbchen“ erinnert, nur feiner. Hervorragend, sogar. (8/10)

In der Stadtvilla an den Champs-Elysées klingt damit für mich ein kulinarisch äußerst abwechslungsreicher Abend aus. Das L’Abysse ist kein rein japanisches Restaurant. Das Essen ist eine Verneigung vor der gegenseitigen Faszination von Frankreich und Japan für ihre jeweilige Kultur. Dieser Aspekt macht das L’Abysse so besonders.

Wer authentisches Edomae-Sushi sucht, ist in Paris besser im Jin oder Sushi B aufgehoben. Aber wer erleben möchte, wie sich ein französischer Drei-Sterne-Koch in die ganze Chose einmischt, dem empfehle ich ein Abtauchen in die Untiefen des Pavillon Ledoyen. Wenn man irgendwann wieder auftaucht, hat man vielleicht sogar das Glück gehabt, vier Sterne an einem Abend zu verspeisen. Das geht auch nicht alle Tage.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: L’Abysse (→ Website)
Chef de Cuisine: Yasunari Okazaki
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 08.02.2019
Guide Michelin (F 2018): *
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