Masa – Wiederholungstat

In irgendeinem Townhouse, vielleicht in der Upper East Side, sitzt Masayoshi Takayama, Inhaber des Restaurants Masa, an seinem Schreibtisch und pustet dichten weißen Zigarrenrauch auf eine Skizze, die offenbar die Konzeption eines Gerichts ist. Mit sehr starkem Akzent – ungewöhnlich für jemanden, der schon fast vierzig Jahre in den USA lebt – erzählt er etwas über die Philosophie seines Essens. Am Ende sagt er: „Ich versuche, die Essenz von Wohlgeschmack zu extrahieren.“ und ergänzt keck: „Kapiert?“ – Szenen von der neuen Website des Masa, dem einzigen Drei-Sterne-Sushirestaurant der westlichen Welt.

Die Essenz von Wohlgeschmack ist bei Japanern gleichzusetzen mit dem durch L-Glutaminsäure hervorgerufenen Grundgeschmack umami, der in den meisten proteinreichen Nahrungsmitteln vorkommt. In Reis und Fisch und Soja zum Beispiel. Es ist der Geschmack, der solch wohltuende Empfindungen wie herzhaft, fleischig, süffig usw. hervorruft und von vielen avantgardistischen Restaurants häufig völlig vernachlässigt wird. Wer nach einem zehngängigen Menü noch insgeheim Appetit auf eine Margherita-Pizza hat (Tomaten und Weizenmehl „enthalten“ viel umami), weiß, wovon ich spreche. In japanischen Restaurants passiert einem das nicht.

Als ich vor vier Jahren schon mal im Masa war, war das damals meine erste Begegnung mit Sushi auf so hohem Niveau. Es hatte mich über alle Maßen begeistert, aber einen neuen Besuch hatte ich dort langfristig nicht vorgesehen. So viel Geld für Sushi sah ich künftig in Japan besser investiert, zudem fehlte mir in den USA auch der Bezug zur japanischen Kultur. Nachdem ich diesen jedoch mit meiner anschließenden Reise nach Tokio wiederhergestellt hatte und hinsichtlich Sushi-Qualität endgültig geläutert war, wollte ich künftig keine Gelegenheit mehr auslassen, authentisches, gutes Sushi auch außerhalb Japans zu suchen. Die Möglichkeiten dazu kann man jedoch an einer Hand abzählen. Als ich nun eine neue Reise nach New York plante, war es daher umso klarer, dass ich ins Masa zurückkehren musste, koste es was es wolle.

Da sind wir dann bei dem Punkt angelangt, auf den das Masa fast überall reduziert wird: die horrenden Kosten. Dabei kommt es noch schlimmer. Seit einer weiteren signifikanten Preiserhöhung Anfang März kostet das (einzig verfügbare) Omakase-Menü jetzt 595 Dollar netto, das heißt mit Steuern umgerechnet in etwa genau diese Zahl in Euro. Als ganz kleiner Trost ist der Service hier schon mit inbegriffen, Trinkgeld wird auch nicht akzeptiert. Als die Dame am Telefon zum Zeitpunkt meiner Reservierung ihren Pflichttext herunterspult, in dem es um Preis, Stornogebühren und eventuelle Allergien geht, habe ich das zunächst gar nicht so richtig mitbekommen. Doch als wenig später die Reservierungsbestätigung eintrudelte, stand es da, ganz unverblümt. Bei vielen Essern, die sich sonst auch nicht scheuen, viel Geld in gutes Essen zu investieren, ist da Schluss mit lustig. Bei mir jedoch siegte mein Verlangen nach gutem Sushi über den Verstand.

Heute Abend betrete ich also erneut die Räumlichkeiten des Masa, im 3. OG der Shopping-Passage im Time Warner Center, schräg gegenüber vom Per Se. Zwei Drei-Sterne-Restaurants befinden sich nirgendwo dichter beieinander als hier.

Das Ambiente ist eindrucksvoll wie eh und je: der täglich abgeschliffene, glatte Tresen aus weichem Hinoki-Holz; die hohen Decken; die Schälchen, Messer und Utensilien, die bei jedem Freund der japanischen Küche den Pulsschlag erhöhen – all das ist einladend und appetitanregend.

Anders als beim letzten Mal, wo ich die erdrückende Förmlichkeit des ständig hinter dem Rücken agierenden Personals als störend empfunden hatte, läuft es heute Abend anders ab. Zu zweit sind wir heute die einzigen Gäste am Tresen und geraten den gesamten Abend über in einen heiteren Dialog mit Sushi-Chef George Ruan und dem Sommelier, die damit nahezu exklusiv für uns zuständig sind. Um eine weitere Tischgesellschaft, die zu sechst an einem der Tische im Nebenraum sitzt, kümmern sich vorwiegend die anderen Chefs. Hierdurch entsteht eine – fürs Masa ungewöhnliche – aufgelockerte und entspannte Atmosphäre. Dafür ist Chef Masa heute leider nicht zugegen.

Das Menü beginnt mit Seeigel und Königskrabbe in einem erfrischenden Arrangement mit Dashigelee und Gurke (8/10), gefolgt von …

Toro-Tatar mit Kaviar, eine recht unjapanische, aber daher nicht minder köstliche Speise, die den zarten Schmelz von Thunfischbauch mit der jodigen Nussigkeit von Kaviar kombiniert. (9/10)

Es folgen drei hauchdünne Scheiben Bonito mit Glasnudeln, Kräutern und Ponzu. Die Fischqualität ist einmalig; das Gericht vereint Frische und ganz viel Umami, und nachdem man den Teller leergegessen hat, möchte man den Rest der aromatischen Sauce am liebsten ausschlürfen – aber ganz so nonchalant geht es hier dann doch nicht zu. (9/10)

Ein weiteres Ausnahmeprodukt folgt mit deep-sea snapper, womit hier eine seltene, im Westpazifik beheimatete Schnapperart gemeint ist, die nur kurz Saison hat. Für dieses Gericht wurde ein Filet über dem Binchotan-Grill gegart, in feine Scheiben aufgeschnitten und wird mit einem Viertel Sudachi-Zitrone serviert. Separat gibt es ein Daikon-Eis in Sojasauce. Das ist die Schlichtheit der japanischen Küche, die sich in die Erinnerung einbrennt wie die Holzkohle in den Fisch! Der Fisch ist saftig, schmeckt unglaublich nach frischer Meeresluft und Lagerfeuer; und der kühle, leicht pikante, „kohlige“ Rettich bietet spannendste Kontraste. (10/10)

Gang fünf ist ein Süppchen mit Japanese icefish, eine winzige Stintart, hier in einem heißen Dashi zusammen mit noch kleineren Shrimps und einigen Kräutern serviert. Das Dashi ist sehr mild, und es gibt auch sonst keine wahrnehmbare Würzung – stattdessen sprechen hier die Produktqualitäten, die wohltuende Hitze und das Handwerk ihre eigene Sprache. Nicht aufwühlend, aber exzellent! (8/10)

Der letzte Gang – bevor es zum Sushi übergeht – spricht dieselbe Sprache, ist aber in seiner ganzen Schlichtheit noch eindrucksvoller: Die kleine Suppe aus Wakame ist klar wie Gletscherwasser, leicht wie eine Brise, heiß wie Feuer und einfach faszinierend gut! (9/10)

Der Platz wird jetzt für Sushi eingedeckt. Schälchen werden platziert, Ingwer wird gereicht, frischer Wasabi wird gerieben, die Holzschachtel mit dem Fisch wird geöffnet. Ich liebe das: jedes Utensil und jeder Handgriff zeugen von dem Wesen der japanischen Küche. Es ist beruhigend und zutiefst zufriedenstellend, diese Abläufe zu beobachten.

Über die nächsten fünfzig Minuten wird dann Sushi serviert.

Chūtoro (mittelfettes Bauchstück vom Roten Thun)

Aji (Stachelmakrele)

Hirame (Sommerflunder), mit Ingwer

Tai (Meerbrasse)

Kinmedai (golden eye snapper, Glänzender Schleimkopf)

Ika (Tintenfisch) mit Sudachi-Zitrone

Kuruma-ebi (Garnele), roh

Kuruma-ebi (Garnele), gekocht

Nantucket Bay scallop (Jakobsmuschel)

Ōtoro (fettes Bauchstück vom Roten Thun), gegrillt, mit Frühlingszwiebeln

Smoked mackerel (geräucherte Makrele)

Needlefish (Hornhecht)

Deep-sea snapper (Schnapper) mit schwarzem Alba-Trüffel

Shiitake

Anago (Salzwasser-Aal)

Unagi (Süßwasser-Aal) in Gurke

Uni (Hokkaido-Seeigel)

Reis mit schwarzem Alba-Trüffel

Ōtoro mit Frühlingszwiebeln

Für ein Restaurant außerhalb Japans war die Qualität des Sushis bemerkenswert (im Schnitt ca. 8,5/10). Kein Wunder, schließlich leistet man sich hier den Luxus, die Ware nahezu täglich aus Tokio einfliegen zu lassen. Doch Fischqualität allein macht noch lange kein perfektes Sushi. Heute Abend waren vor allem die Anschnitte nicht immer perfekt ausgeführt, die Portionsgrößen nicht ganz optimal (ich habe sie als etwas zu klein empfunden), Trüffel passt überhaupt nicht in diese Welt, und auch die Hausrezeptur für den Reis (sehr warm, wenig Säure) war gewöhnungsbedürftig. Ob Masa-san es anders gemacht hätte? In vielen Details ganz sicher. Doch um diese Details geht es bei Sushi. Denn wäre hier schon Schluss, hätte Jiro Ono keine Geschichte zu erzählen.

Das Menü klingt schließlich aus mit einem exzellenten Pré-Dessert (wenn man das so sagen kann) mit Lotuswurzel (9/10) …

gefolgt von zwei Stücken frischer Kaki, doch meine Aufnahmefähigkeit ist inzwischen, mengen- und jetlagbedingt, auch nicht mehr allzu groß.

Was bleibt? Die Essenz. Das Masa serviert als eines von nur sehr wenigen Restaurants außerhalb Japans Sushi auf sehr hohem Niveau mit authentischen japanischen Zutaten. Wie viel einem das Wert ist, muss jeder für sich selbst entscheiden, aber für mich ist das Gold wert. Kapiert?

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Masa (→ Website)
Chef de Cuisine: Masayoshi Takayama
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 07.03.2016
Guide Michelin (NYC 2016): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8,9 (Was bedeutet das?)
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