Cloudstreet – Sri Lanka trifft Australien

Als Hamburger kann man schnell auf die Idee kommen, Singapurs Stadtteil Chinatown sei das, was das Schanzenviertel eigentlich sein müsste: lässig, einladend, vielfältig. Anstatt nach anspruchsloser Nahrungs- und Getränkeaufnahme suchender Gleichgesinnter in einer von den Behörden weitestgehend fallen gelassenen Gegend trifft man in der quirligen Amoy Street an diesem Freitagabend auf diverse ausgehfreudige Menschen aller Couleur, die das mannigfaltige Angebot Dutzender Restaurants und Bars in Anspruch nehmen, die alle eines vereint: sie wollen nichts sein, sie sind einfach. Sie sind zum Beispiel einfach und authentisch oder stylish, aber unprätentiös oder hochpreisig, aber einladend.

Eines der Restaurants, das in die letzte Kategorie fällt, ist das Cloudstreet. Gedämpftes Licht, Holzzargen mit Patina und ein halb durchlässiger Blick in ein schummeriges Innere steigern meine Freude, hier zu sein, noch bevor ich das Restaurant betrete. Ich atme tief durch und trete ein.

Das Ambiente ist ein stimmungsvoller Mix aus gemütlicher Wohnzimmeratmosphäre und einer offenen Küche mit einem umsäumenden Tresen in Tischhöhe. Knapp ein Dutzend Köche sind dahinter am Werk. Ganz offenkundig ist das nicht bloß eine Anrichtküche, wie es in einigen offen gestalteten Restaurants heute en vogue ist, sondern der Ort, an dem tatsächlich die ganze Arbeit stattfindet.

Küchenchef und Mitinhaber des Cloudstreet ist Rishi Naleendra, der auf kulinarischer Ebene die Wurzeln seiner Herkunft Sri Lanka mit langjährigen Erfahrungen als Koch in hochdekorierten Küchen Australiens kombiniert. Dort lernte Naleendra auch seine Frau Manuela Toniolo kennen, die mit ihm zusammen das Restaurant führt. Die eklektische Inneneinrichtung ist zweifellos eine Referenz zu diesen unterschiedlichen Einflüssen.

Das Menü wird omakase serviert, also ohne Speisekarte. Der Preis wird später mit SGD 288 (ca. € 187) auf der Rechnung stehen. Da man heutzutage online reserviert und alle Informationen dort zur Verfügung stehen, finde ich es – am Rande erwähnt – übrigens völlig legitim, in einem »Menü-Restaurant« nicht mehr über Preise zu sprechen. Jetzt geht es erst mal ums Genießen. Von der (natürlich bepreisten) Weinkarte wähle ich einen 2016er Bell Hill Chardonnay aus Neuseeland (ca. € 195), ein rarer Fund und eine sichere Bank.

Zwei erste Einstimmungen werden serviert. Ein mit Fadenteig frittiertes Wachtelei mit Kaluga-Kaviar leidet zunächst unter einem alles Andere erschlagenden Frittiergeschmack. Man schmeckt weder Kaviar, noch spürt man etwas von dem Ei, was ein wenig so wirkt wie ein erster verpatzter Aufschlag bei einem Grand-Slam-Turnier (6/10). Der zweite sitzt dann. Eine in einem Betelpfefferblatt eingewickelte Auster ergibt zusammen mit einer Kokosnuss-Basilikum-Sauce und Australischer Fingerlimette einen jodig-frischen, würzigen und federleichten Snack (7/10).

Vier weitere Petitessen erreichen den Platz. Eine Bergamotte-Meringue mit Rote-Bete-Füllung bietet appetitanregende Säure und authentische Aromen (7/10); ein Tartar von mit altem Mirin marinierter Meerbrasse (madai) auf einem Cracker mit japanischem Lauch und Kamille-Gelee überzeugt mit milden maritimen Aromen (7/10); eine Zubereitung aus gedämpfter Kartoffel, geräuchertem Hering und Eigelb schmeckt elegant nach Lagerfeuer am Strand (7/10); und eine Tartelette mit Wagyu-Rind der Qualität A5 aus Hokkaido mit frittiertem Tororo Kombu, einer Algenart, ist rauchig, exotisch, knusprig und erinnert entfernt und kurzweilig an den Geschmack von Ketchup (7/10).

Die Atmosphäre hier ist wunderbar. Lässig-elegantes Publikum, das junge Service-Team und der niedrige Tresen mit Blick auf das fokussierte Geschehen in der Küche bereiten mir beste Laune, und die spannungsvollen Snacks machen Appetit auf mehr.

Abalone von der südkoreanischen Insel Jeju wurde für den folgenden Gang gegrillt und wird zusammen mit »Majestic«-Kaviar und feinen Tranchen der Zitrusfrucht Sudachi in einer Zwiebelbrühe serviert. Dem Gericht entströmt der Duft nach süßer Zwiebel, vermengt mit etwas »Hafenbecken« und begeistert am Gaumen vor allem mit der bissfesten Textur des Schneckentiers und den klaren Aromen aller Zutaten. Sancho-Pfeffer-Blätter liefern dazu eine subtile Schärfe und etwas Bitterkeit. Sehr fein. (7,5/10)

Den nächsten Gang schmücken sizilianische Garnelen auf zweierlei Art. Der Hauptteller beinhaltet drei rohe Exemplare des Krustentiers, die in einer etwas angedickten Sauce aus einer japanischen Tomatensorte angerichtet sind, was die natürliche Süße der Garnelen unterstreicht und für etwas Umami-Unterstützung sorgt. Gefrorene Perlen aus spanischem Olivenöl liefern dazu erfrischende Kühle. Separat gibt es einen frittierten, knusprigen Garnelenkopf, der komplett essbar ist und den sehr mediterran anmutenden und qualitativ hochwertigen Gang kurzweilig abrundet. (7,9/10)

Unübersehbar kreativ geht es mit einem Gericht weiter, das optisch zunächst nur frittierten Palmkohl mit einigen Blüten und eine helle, schaumige Sauce preisgibt. Letztere besteht aus Mais, ist cremig, warm und leicht süßlich. Sie bedeckt Stücke von gegrillter Schweineschnauze und Aal. Ein wachsweiches Wachtelei sowie gepufftes Getreide ergänzen die ungewöhnliche Kreation, die vor allem auf der Texturebene viel Abwechslung bietet, dabei aber ohne Extreme auskommt. Das salzige Surf and turf ergibt mit der Maissüße und dem herben Kohl trotz aller Komplexität ein herzhaftes Wohlfühlgericht. (7/10)

Marron, das hummerartige Krustentier aus Australien, ist das Thema des nächsten Gangs und nimmt Bezug auf die Verbindungen des Küchenchefs zum fünften Kontinent. Zu dem ausgelösten Tier gibt es verschiedene Blüten und Kräuter, die Säure, Bitterkeit und florale Aromen beisteuern, eine Paste aus sri-lankischem Curry bringt eine aufheizende Exotik ins Spiel, die an eine indische Aromenwelt erinnert. Schlüssig ist dazu eine Kokos-Suppe mit pikanten Gewürzen und einem Geschmack nach Zitronengras und Kaffirlimette. Das seltene Krustentier stand hier in bestem Licht. (7,9/10)

Als kleinen Zwischensnack gibt es einen essbaren Teigstab, etwa in der Größe einer Salzstange, daran wurden mittels einer Aioli-Creme kleine, frittierte japanische Garnelen (Sakura ebi) befestigt. Das ist ein kurzweiliger Knabberspaß, den ich schneller verputzte als ich der Kamera Zeit gab, korrekt zu fokussieren. (7/10)

Weiter geht’s – noch immer angenehm kompakt portioniert – mit Seeteufel aus Frankreich, gereift und glasig gegart, serviert auf einem Kerala Ishtu, einer Art indischen Kartoffeleintopfs. Dazu gibt es Miesmuscheln, geräuchertes Hühnerfett, Queller und einige Blüten. Geschmacklich erinnert der flüssige Teil des Gerichts an eine Velouté auf Fischfondbasis, was sehr stimmig zu den exzellenten Meereszutaten passt. (7/10)

Zum letzten herzhaften Gang gibt es ein mit sri-lankischem Stout und Süßholz gebackenes Brot, luftig und würzig, dazu gute Süßrahmbutter und separat serviertes Meersalz. Das passt gut zum Wagyu »A4« aus Tochigi in Japan mit Kräuterseitling, einer Pilzcreme und einer Sauce bestehend aus einer 14 Monate fermentierten Sojasauce, Mirin und Sake. Das Gericht begeistert mit seinem Purismus, klaren Aromen und fantastischen Qualitäten. Die allenfalls zimmerwarme Kombination von Sauce und Fleisch fällt zwar kurz auf, doch eine Nachlässigkeit ist aufgrund der kurzen Wege zum Gast hier so gut wie ausgeschlossen. Geschmacklich und qualitativ ist das ein hervorragender Gang. Dazu habe ich im Glas einen offen ausgeschenkten, würzigen 2017er »La Poulosa« von Raúl Pérez aus Bierzo, Spanien (ca. € 26). (7,9/10)

Zu meiner Überraschung wechselt man zum Abschluss des Menüs in das darübergelegene Stockwerk. Diese Idee erinnert an die Flaggschiff-Restaurants von Björn Frantzén (Zén, Frantzén), bei denen das gastronomische Erlebnis auch in mehreren Etagen stattfindet.

Hier oben sitzt es sich gemütlich auf gepolsterten Sesseln an runden Tischen; ein Tresen dient als Bar und Dessert-Anrichte.

Die erste süße Kreation beinhaltet Honig-Eis, Sternfrucht und Ceylon Silver Needle-Tee in verschiedenen Zubereitungen und begeistert durch einen verspielten, fruchtigen Geschmack und eine prononcierte, aber passende Süße. (7,5/10)

Spargelsalat (celtuce), Yuzu, grüne Chili und Joghurt gelangen beim nächsten Gericht zum Einsatz, das mit einem frischen, gurkenähnlichen Aroma und süßen, blumigen Akzenten von Vanille-Öl positiv überrascht. (7,5/10)

Das hohe Niveau der Patisserie bleibt auch bei der letzten Kreation bestehen, die die Zutaten fermentierter Trüffel, Cascara (ein Aufguss aus den Schalen der Kaffeekirsche), Fingerhirse und Mandel beinhaltet. Die ungewöhnliche Zutatenliste ist die Grundlage für einen cremigen, flachen Hohlzylinder mit Füllung und einer obenauf liegenden Kekszubereitung. Die süße Speise erinnert geschmacklich an Blaubeermarmelade, dazu passt der Keks mit einer leichten Salzigkeit. (7,5/10)

Diverse Petit Fours sind dann keinesfalls optional. Jede Petitesse thematisiert zwei Hauptzutaten, genauer: Palmyrapalmen-Nuss und Arrak; Kokos und Karamell; Tamarinde und rosa Pfeffer; Blaubeere und Basilikum; Koji und Kastanienhonig; Vegemite und Toast. Alle überraschen auf eine andere Art und fassen im Wesentlichen die Vielfalt des heutigen Menüs auf einem Niveau zusammen, das in dieser »Dichte« das höchste des ganzen Abends ist (8,5/10).

Menüs mit so vielen Speisen und teils ungewöhnlichen Kombinationen müssen viel leisten, um abseits von Kreativität und Experimentierfreudigkeit auch noch mit Wohlgeschmack, hohen Produktqualitäten und Leichtigkeit zu begeistern. Rishi Naleendra und seinem Team gelingt all das und mehr auf hohem Niveau und in einer Atmosphäre, die ich zu den angenehmsten meiner Reise zähle. Aber morgen ist zum Glück auch noch ein Tag. Mein letzter hier in Singapur.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Cloudstreet (→ Website)
Chef de Cuisine: Rishi Naleendra
Ort: Singapur
Datum dieses Besuchs: 12.11.2021
Guide Michelin (SG 2021): *
Meine Bewertung dieses Essens: 7 (Was bedeutet das?)
Diskussion bei Facebook: hier klicken