Carbone – rühmliches Ende

Nur eine absichtlich etwas vernachlässigt erscheinende Fassade mit von innen abgehängten Fenstern und eine grotesk komplizierte Reservierung trennen die heute sonnige Thompson Street im New Yorker Greenwich Village von einer anderen Welt.

Ist das hier drin eine Theaterbühne? Ein Filmset? Oder wirklich ein Restaurant? Der Fliesenboden erinnert an die epische Filmszene aus Coppolas Godfather, mit dem Unterschied, dass hier laut, sehr laut, Dean Martins Things aus den Lautsprechern tönt.

Ein schmaler Gang, der zu einem anderen Speisesaal führt, lässt einen Ray Liotta aus Goodfellas vermissen, als dieser sich seinen (langen) Weg über einen Nebeneingang ins Copacabana verschafft; und in dem Raum dahinter sitzen zweifellos Al Pacino und der Rapper Bad Bunny, wie im Musikvideo zum Song Monaco, um eine neuere Analogie zu bemühen.

Dass das trotzdem von vornherein cool und nicht kitschig wirkt, liegt an einem sorgfältig kuratierten Ambiente, inklusive der in violetten Anzügen gekleideten Kellner, das man wegen seiner unzähligen Details sofort als Hommage an die italienisch-amerikanische (Koch-)Kultur versteht und nicht als Parodie. Dass man es in eines der gefragtesten Restaurants der Stadt geschafft hat, erhöht natürlich noch ein wenig den Coolnessfaktor.

Der Kellner an unserem Tisch ist mutmaßlich, aber offenkundig Mexikaner – und mutmaßlich, aber offenkundig auch jemand, der gerne isst, was schon mal einen Vertrauensvorschuss schafft.

Ich will eigentlich alles von der Karte bestellen. Es gibt zum Beispiel Caesar alla ZZ (32 $), Carpaccio Piemontese (34 $), Prosciutto & Mozzarella (29 $) oder Minestrone (26 $) als Vorspeisen, dann noch eine Pasta-Rubrik, die charmant mit Macaroni übertitelt ist, Fisch, Fleisch und Dessert. Wer auch nur einmal eine vergleichbare Speisekarte in New York vor sich hatte, weiß, wie gut das alles sein kann.

Ich bestelle einen Negroni, um mir etwas Luft zu verschaffen (24 $, ca. 22 €). Der wird frisch an der kleinen Bar gemixt und erreicht meinen Tisch zusammen mit köstlicher Salami, krossem Knoblauch-Petersilie-Brot und cremiger Mozzarella mit gutem Olivenöl. Das ist eigentlich schon ein maßvolles, aber glücklich machendes Mahl an sich.

Und das mit dem kulinarischen Glück geht dann einfach nur so weiter. Ich probiere ein Tagesgericht: gratinierte Austern »Posillipo« mit Lammwurst, Weißwein, Knoblauch, Kräutern und Tomaten (45 $), eine Interpretation eines traditionell mit anderen Muscheln serviertes neapolitanisches Gericht. Das ist so herzergreifend gut – heiß, süffig und doch ausbalanciert – , dass ich mich weigere, diesem Gericht eine andere als eine hervorragende Benotung zu attestieren. Wofür geht man sonst essen? (8/10)

Ich befürchte schon, dass das Carbone einem den Kopf verdreht. Denn auch die dünn aufgeschnittene Scapece von Aubergine und Zucchini mit Olivenöl und Parmesan ist frivol knoblauchbetont, kühl und doch von überraschender Üppigkeit (7/10). Wenn man das abwechselnd mit den Austern genießt, entstehen immer wieder appetitanregende Kontraste und Kombinationen, die den Genuss weiter nach oben schrauben.

In der einen Hand eine Gabel, in der anderen die Speisekarte, prüfe ich, wie es weitergehen muss. Dass es weitergehen muss, ist keine Frage. Ich trinke dazu einen offenen 2019er Barolo von Bovio (33 $) und Connie Francis singt I’m Sorry I Made You Cry.

Wenig später stehen nicht weniger als drei weitere Gerichte auf dem kleinen Tisch. Mario’s Meatballs kosten 27 $ und müssen schon allein deshalb gut sein, weil sie in der Speisekarte extra eingerahmt sind und den Vornamen des Mitinhabers Mario Carbone tragen. Sie sind es auch. Die mit milchgetränktem Brot zart und luftig gehaltenen Fleischbällchen aus Rind, Lamm und mild-süßlicher Luganega-Wurst sind fluffig und gehaltvoll zugleich; eine ganz besonders aromatische Tomatensauce mit fein gehobeltem, leicht geschmolzenem Parmesan sorgt für unwiderstehliches Umami und leicht frittiertes Basilikum obenauf für ätherische Frische – eine so bodenständige wie doch feinsinnige Sensation. Servierte man so etwas auf einem kleinen Degustationslöffel in der Größe einer Murmel, würde man das in jedem noch so feinen Spitzenrestaurant mit einem genüsslich Laut quittieren und sich ungläubig umsehen, ob man solch profane Genüsse in einem Sternerestaurant servieren darf. Darf man, aber das Carbone hat gar keinen Stern (mehr), da darf man eh alles. (8/10)

Dieser erste Fleischgenuss wird nur unterbrochen durch Lou Montes I Wonder Who’s Kissing Her Now und dem Pastaklassiker des Hauses schlechthin, Spicy Rigatoni Vodka. Bei diesem Gericht sorgt eine cremige, besonders schmackhafte Sauce für Genuss, deren offenes Geheimnis sowohl in einer geduldigen Reduktion der Zutaten als auch in der Verwendung von Vodka zur Zersetzung der Tomaten und dem Betonen der Schärfe der kalabrischen Chilis liegt. Die Pasta hat eine appetitlich bissfeste, aber nicht klebrige Textur, was nur bei den besten Herstellern der Fall ist; vielleicht ist sie auch hausgemacht, was bei dieser Art von Nudeln jedoch eher unüblich wäre. In jedem Fall steht dieses Gericht einer Paccheri pasta aus dem Da Vittorio in nichts nach. Ich war selten glücklicher beim Essen. Ist es berechtigt, derart simplen Gerichten kulinarische Höchstnoten zu attestieren? Über die Frage dürfen sich gerne andere streiten. (10/10)

Als dritte Speise steht ein pizzagroßes, mit Parmesan und Tomatensauce überbackenes Kalbsschnitzel auf dem Tisch (Veal Milanese, 95 $). Dass meine Bestellung mengenmäßig etwas übermütig war, selbst für zwei, wäre vom Kellner zwar eine freundliche Information gewesen, doch sind mir möglichst vielfältige Eindrücke wichtiger als passgenaue Sättigung. Hier geht es auch gar nicht ums Sattwerden. Das Carbone ist eine exzentrische Show, die umso lust- und genussvoller ist, je mehr man als Gast selbst daran partizipiert. Was das Schnitzel selbst betrifft, von dem ich zwischen den Fleischbällchen und Rigatoni immer mal wieder ein großes Stück abschneide, handelt es sich um sehr zartes, hochwertiges Fleisch mit einer überraschend weichen Panierung. Knusprige Ausführungen dieses Klassikers gefallen mir sensorisch zwar besser, werden jedoch ohne Beilagen schnell einseitig. Letzteres ist hier wegen der fast saucenartigen, schmackhaften Panierung nicht der Fall. Sehr gut, aber nicht aufwühlend. (7/10)

Für ein Dessert kann ich mich beim besten Willen nicht mehr entscheiden, aber ein kleiner Marzipankuchen mit Schokolade passt noch. (7/10)

Satt an allem, an dem man sich sättigen kann und in einem emotional aufgewühlten Zustand zwischen Glückseligkeit und Melancholie, bestelle ich die Rechnung.

Carbone. Wenn ich mal erschossen werden muss, dann bitte hier. Stellt nur sicher, dass Frank Sinatra dabei spielt und Martin Scorsese die Kamera draufhält.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Carbone
Chef de Cuisine: Mario Carbone
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 19.03.2024
Guide Michelin (New York City 2023): Empfohlen
Meine Bewertung dieses Essens: 8 (Was bedeutet das?)
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