Histoires – Ruhe bitte, hier wird geschlemmt

Wer anfängt, sich für die Welt der kulinarischen Sterne zu begeistern, kehrt üblicherweise nicht zuerst ins L’Ambroisie ein. In einschlägigen Ranglisten muss man lange danach suchen, die Küchenchefs stehen auf keiner Bühne, das gastronomische Konzept ist Schnee von gestern, und die Preise sind exorbitant. Und doch war dies eines der ersten Restaurants, die ich recht zu Beginn meiner kulinarischen Abenteuer besuchte. Diese Entscheidung war eine der besten, die ich je hätte treffen können. Der Qualitätsfanatismus von Vater und Sohn Pacaud hat zum richtigen Zeitpunkt entscheidende Weichen für mein Verständnis von großer Küche und der Welt der Sterne gestellt. Ich habe mich oft gefragt, ob Sohn Mathieu einfach so weitermachen wird, leise und unauffällig, aber dann, ganz plötzlich, zauberte er dieses Jahr eine spektakuläre Neueröffnung aus dem Hut: das Hexagone, ein gastronomisches Triptychon der Superlative an der Avenue Kléber in Paris.

Unter dem Œuvre Hexagone hat Pacaud ein gleichnamiges Restaurant, eine Bar mit außergewöhnlichen Cocktails und ein weiteres Restaurant namens Histoires unter einem Dach zusammengefasst.

Nachdem ich mittags bereits im Hexagone etwas von der neuen Pacaud-Luft geschnuppert habe, stehe ich jetzt, ein paar Stunden später, erneut vor der Tür und war selten gespannter auf alles Folgende. Denn was genau es mit dem Histoires auf sich hat, wie es dort aussieht und wie dort gekocht wird: all das ist mir zu diesem Zeitpunkt genauso wenig bekannt wie vermutlich den meisten Lesern.

Die Tür zum Histoires findet man selbst dann nicht, wenn man direkt vor sie geführt wird. In einem der hinteren Räume der Bar befindet sich an einer der aufwändig bemalten Wände ein unscheinbarer Bewegungssensor, der die Tür zu einer anderen Welt öffnet. Ich fühle mich wie Alice im Wunderland, die durch ihren Spiegel steigt.

Zurecht, denn auf der anderen Seite des Spiegels stolpere ich über ein surreales Stillleben. Ein Tisch mit umgestoßenen Gläsern und Flaschen, ein halb zurückgeschobenes Tischtuch und ein hastig abgerückter Stuhl werfen Fragen auf. Wo bin ich? Was ist passiert? Und was machen die Gänse hier? Daneben: ein Konzertflügel. Drum herum: Spiegel. Die Tür, durch die ich gerade kam: nicht mehr sichtbar.

Ganz benommen von diesen Eindrücken werde ich von einem der Restaurantangestellten an den Platz begleitet. Nur zwölf Gäste werden im Histoires bewirtet, alle speisen in kleinen Alkoven mit schummriger Beleuchtung, sitzen dabei auf bequem gepolsterten Sitzbänken oder Stühlen und blicken auf ein festliches Tischdekor. Es fühlt sich an als wäre man in einer verbotenen Welt und erinnert damit an das Konzept der Speakeasy genannten Geheimbars im New York der 20er Jahre zu Zeiten der Prohibition. Ungestört und unbeäugt dem Genuss frönen: das ist hier die unmissverständliche Botschaft.

Die auf Notenpapier gestaltete Speisekarte – Pacaud ist leidenschaftlicher Klavierspieler – umfasst jeweils drei Vorspeisen, Fisch-, Fleischgerichte (alle ca. € 100) und Desserts (€ 30). Es gibt auch zwei Menüs („Dégustation“ und „Découverte“) zu € 195 bzw. € 350, deren Zusammenstellung mir jedoch auch nach der Erläuterung des Kellners nicht ganz klar wird. Ich wähle schließlich einfach ein paar Gänge aus und überlasse der Küche Portionsgrößen und Abrechnungsmodus. Sie werden schon wissen, was sie tun.

Bemerkenswert ist hier auch die Möglichkeit, einige große Bordeaux-Gewächse glasweise bestellen zu können, die mittels des Coravin-Systems aus Jeroboam-Flaschen ausgeschenkt werden. Doch das kostet: zwischen € 35 (für 6 cl Château Lynch Bages 1999) und € 150 (für 12 cl Châteaux Margaux 1998). Ich bleibe zunächst bei einer gemäßigteren glasweisen Auswahl.

Es gibt zunächst aperitifbegleitende Snacks in Form von salzigem und süßem Gebäck (7/10) sowie eine Variation um das Thema Ei in verschiedenen herzhaften, heißen und allesamt wohlschmeckenden Kompositionen (8/10). Ein klassischer Auftakt, der gefällt.

Ein weiteres Amuse-bouche folgt wenig später in Form eines mit Gin aromatisierten Fasan-Raviolo mit Geflügeljus und Sahne (?). Der intensive Duft des brauen Jus ist betörend. Dutzende der aromatischsten Hühner müssen hier eingekocht worden sein: zu einem Elixier, das an meinen Lippen genauso haftet wie an meinem Gedächtnis. Der intensive Fond erinnert mich an Zeiten, in denen ich selbst bis spät in die Nacht Fonds gekocht und reduziert habe, einfach um es mal gemacht zu haben. (Heute mache ich mir nur noch selten diese Mühe.) Das ist großartig und in Kombination mit den gehaltvollen Aperitifsnacks schon ziemlich sättigend. Ich merke schon: ich habe etwas vor mir. (9/10)

Gang Nummer eins sind Jakobsmuscheln in einer Emulsion von geröstetem Toast (pain de mie toasté) und schwarzem Trüffel. Die Muscheln sind in dicke Tranchen geschnitten, die so dicht und fest und perfekt gegart sind, dass sie mit dem ersten Löffel meine neue Referenz für dieses Produkt darstellen. Ich bin nicht der größte Verehrer von Jakobsmuscheln, und dieser absolute Ausnahmeteller zeigt paradoxerweise, warum, indem er alle anderen Gerichte mit Jakobsmuscheln in den Schatten stellt. Das leicht nussige Aroma dieser Exemplare mir ihrer durchgängig feinen Textur, der „Biss“ dieses Schnitts, all das in Kombination mit der schaumig-sahnigen Emulsion mit ihren bäckereiartigen Röstaromen und dem erdigen Aroma der Trüffeln machen diesen französischen Teller im Berliner Geschirr ohne Zweifel zu einem der besten Gerichte dieses Jahres. (10/10)

Ich bitte jetzt um etwas größere Pausen, da die Portionen sehr mächtig sind.

Nach angenehmen fünfundzwanzig Minuten geht es dann weiter mit Hummer aus der Bretagne (genauer aus Guilvinec), gegart in einem Butternut-Kürbis, der zunächst verschlossen an den Tisch gelangt. Als der Deckel geöffnet wird, entweichen Düfte von Lagerfeuer, Kastanie, Rosmarin und Kürbis. Das Gericht selbst ist eine Entdeckungsreise durch diese Aromen und eine wachrüttelnde Achterbahnfahrt durch natürliche Texturen. Der Hummer ist dabei von beispielloser Qualität und Teil einer außergewöhnlichen Komposition. Wer hat schon mal Hummer mit Kastanien und Mais gegessen? Am Boden des Ensembles befindet sich dann noch eine Scheibe einer anderen Kürbissorte (Patisson), die man – im Gegensatz zum „Servierkürbis“ – auch noch mitisst. Außergewöhnlich gut, trotz eines etwas verschwimmenden Geschmacksbilds. (8-9/10)

Es wird jetzt doch Zeit für ein Schlückchen aus einer der Jeroboams. Bei einem Glas 1999er Lynch Bages schmeckt der nächste Gang sicherlich noch besser.

Abgesehen von einem Vierertisch mit einem asiatischen und einem amerikanischen Pärchen (alles Männer), die sich auf Englisch darüber unterhalten, wie günstig doch das Preisniveau in Paris sei (und mir damit ein großes Fragezeichen ins Gesicht zaubern), ist das Restaurant übrigens leer. Doch in meiner kleinen Schlemmnische ist mir alles, was Drumherum geschieht, ohnehin gerade gleichgültig.

Der nächste Gang, von dem ich mir inzwischen erhoffe, dass er etwas kleiner ausfällt, ist noch mächtiger als alle anderen. Was aussieht wie ein Stück Rinderfilet, ist eine üppige Portion Kalbsbries, die durch ihre Form an einen Calisson, dem rauteförmigen Mandelgebäck aus der Provence, erinnern soll. Die Sauce hat den „Glanz, den das Auge erfreut“ (Bocuse) und ist auch hier eher eine stark reduzierte Demi-glace, die mich mit ihren basisnahen Aromen von Kalbsknochen und Fondsgemüsen   erneut begeistert. Das ist meisterhaftes Saucenhandwerk.

Das Bries selbst weist mir eine etwas zu komprimierte Textur auf, die vielleicht durch das Informbringen entstanden ist. Bei der Garung wiederum vermisse ich Feuer und Röstaromen; dieses Stück wirkt eher wie sous-vide gegart und dadurch etwas zu uniform. Begleitet wird es von exotischen Früchten, u. a. Mango, die einen frischen, aromatisch sehr gelungenen Kontrast zu dem ansonsten fast schon zu mächtigen Gericht beisteuern. Und dann steht auch noch ein Schälchen mit exzellentem getrüffelten Kartoffelpüree daneben. Etwas davon stehenzulassen wäre unverzeihlich. (8/10)

Ich bin inzwischen am Rande meiner Kapazitäten, doch die Zeit spielt für mich. Nach einer entspannenden halben Stunde, um die ich bitte, geht das Festmahl zum süßen Teil über und macht seinen Anfang mit einem Schokoladenzylinder, bei dem eine kühle Haselnusscreme, Lakritz und Muscovado-Zucker die Hauptrollen spielen. Etwas Knuspriges im Inneren bringt zusätzlichen Genuss. Wo ist der zweite? (9/10)

Das Dessert, „Clémentine foissonnée“ ist ebenfalls grandios und betört mit intensiv-süßen Clementinen, die vom Geschmack an Dosenmandarinen erinnern. Das klingt wie Schmach, doch haben einige Früchte mitunter ein derart intensives Eigenaroma, dass sie regelrecht artifiziell schmecken – in dem Fall ein paradoxes Lob. Zu der Zitrusfrucht gibt es kandierte, geeiste Maronen in dünnen Scheiben, Eis mit ebenfalls zitrusfrischen Aromen und eine „Emulsion mit Bourbon-Vanille“, von der ich – selbst jetzt noch – eine ganze Schüssel essen könnte. (9/10)

Auf einem der drei köstlichen Petit-fours (9/10) finde ich dann sogar noch etwas von der Creme. Es könnte immer so weitergehen.

Das Histoires macht Gäste glücklich, die das klassische Handwerk lieben und dabei vor etwas Modernität nicht zurückschrecken. Denn wenngleich Mathieu Pacaud hier all seinen Erfahrungsschatz einbringt, ist dieser Ort keinesfalls ein zweites L’Ambroisie. Man spürt eine Experimentierfreudigkeit in allen Tellern, die dem traditionellen Handwerk guttut.

Der Rahmen, in dem man speist, ist extravagant und elitär – und damit ein Gegensatz zur weltweiten Abrüstung in der Spitzengastronomie. Diese Abrüstung ist gut, aber ein paar neue Rückzugsorte für dekadentes Schlemmen sind manchmal noch ein bisschen besser. Kein Grund, sich zu verstecken.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Histoires (→ Website)
Chef de Cuisine: Mathieu Pacaud
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 11.12.2015
Guide Michelin: noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens 8,9 (Was bedeutet das?)
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