L’Assiette Champenoise – wenig prickelnd

Eines von Frankreichs jüngsten Drei-Sterne-Restaurants ist von Paris nur knapp zwei Stunden Autofahrt in Richtung Osten entfernt und lässt sich damit gut mit einem Aufenthalt in der französischen Metropole verbinden. Tinquex, das Ziel in meinem Navigationssystem, ist ein unspektakulärer Vorort von Reims, der Hauptstadt des Champagners.

Kurz hinter dem wenig pittoresken Ortsbeginn biegt man links auf das Grundstück des L'Assiette Champenoise ab, ein Relais & Châteaux-Hotel mit gleichnamigem Restaurant. Küchenchef Arnaud Lallement hat sich mit seinem Restaurant in allen Gastro-Führern höchste Weihen erkocht. Nur gehört hat man von diesem Restaurant nicht besonders viel. Eine solche Zurückhaltung ist häufig jedoch ein guter Hinweis auf einen ganz und gar auf seine Küche und Lieferanten konzentrierten Küchenchef.

Als ich heute im Restaurant ankomme ist es erst 12 Uhr und damit eine halbe Stunde vor der offiziellen Öffnungszeit. Ich überbrücke die Zeit mit dem Stöbern in der Speisekarte, die mir in einem Vorraum zusammen mit einigen herzhaften Aperitif-Snacks in Törtchenform gereicht wird. Es handelt sich um Mürbeteigkuchen mit Foie Gras und Kürbis sowie eines mit Aal. Ziemlich rustikal und sehr teiglastig (6/10). Würde ich die Törtchen beide aufessen, bräuchte ich auch vermutlich nur noch ein Dessert aus der Karte, um satt zu werden.

In der Zwischenzeit schweift mein Blick über einen Michelin-Schrein, der sich über die Breite eines ganzen Regals spannt. Ich frage mich, wie wohl Michelin-Inspektoren darauf reagieren, wenn sie an meiner statt hier sitzen. Bestimmt verzückt.

Die Karte macht mir eine Entscheidung nicht leicht. Es gibt drei Menüs (Saveur, Héritage, Truffe blanche d’Alba, zu € 175, € 255 bzw. € 395), von denen das mittlere die Quintessenz der Küche Lallements thematisiert. Das wäre sicherlich sinnvoll, doch tendiere ich zunächst zu einer von der Menge her nicht ganz so ausschweifenden Auswahl aus dem A-la-carte-Teil. Doch nach einigem Hin und Her wird es das Menü Héritage.

Der Speisesaal ist sachlich und bieder, das Personal förmlich, die Butter zum (guten) Brot kalt und steinhart. Die ersten Punkte sind Geschmackssache, das mit der Butter ist nachlässig. Das ist zwar kein großes Thema – ich bin schließlich nicht hierhin gefahren, um Butter zu essen –, aber wenn es schon die Entscheidung eines Restaurants ist, einem Gast gleich als erstes Brot und Butter zu präsentieren, dann sollte auch beides sofort Freude machen. Schwamm drüber.

Das Amuse-Bouche ist dann ein Süppchen mit Schweinemett, Kohl und Kürbispüree. In einem rustikalen Wirtshaus wäre diese Speise toll, von einer mit drei Sternen ausgezeichneten Küche erwarte ich ein anderes Niveau. Diese Einstimmung ist weder handwerklich noch geschmacklich bemerkenswert, trotz zweifelsfrei guter Zutaten, soweit sich das erkennen lässt. (6-7/10)

Der erste Gang sind Jakobsmuscheln von sehr guter Qualität, aber mit etwas zu starken Röstspuren; dazu gibt es ein rettichartiges Gemüse, eine hervorragende, sahnige Sauce mit leichtem Curryaroma sowie vier Kleckse eines befremdlichen, recht stabilen, Sellerieschaums. Warum man ein gutes Produkt wie die Jakobsmuschel mit einem derartigen Schabernack begleiten muss, ist mir schleierhaft. Da Produktqualität und Saucenhandwerk jedoch makellos sind, bleibt im Schnitt ein „sehr guter“, aber keinesfalls begeisternder, Gesamteindruck. (7/10)

Gang zwei lautet auf Kaviar, Schwarzwurzel, Kerbel. Die üppige Portion Kaviar bereitet mit seiner nussig-jodigen Salzigkeit naturgemäß Freude, sehr gut dazu passt dann auch die Sauce mit Kerbel. Das unnatürlich schaumige Schwarzwurzelpüree, dem man den zugeführten Stabilisator schon ansieht, enttäuscht dagegen. (7/10)

Es folgt Kaisergranat, der mit zwei zitrusbasierten und mit Cayenne- bzw. Timut-Pfeffer pikant gewürzten Cremes serviert wird. Die Cremes komplementieren in spannender Weise die nussige Süße des Krustentiers, das zwar von guter, aber keinesfalls von einer derart guten Qualität ist, die eine solch puristische Darreichung rechtfertigen würde. Auf diesem Niveau ist eine solche Speise ziemlich einfallslos. (7/10)

Weiter geht es mit makellos frischem Taschenkrebs in einem hervorragenden Bouillabaisse-Sud. Eine geröstete Gebäckstange steuert eine willkommene Knusprigkeit bei. Für ein großes Ausrufezeichen fehlt auch diesem Gericht Außergewöhnliches, aber das war bisher der beste Gang. (8/10)

Gang fünf ist Blauer Hummer, zubereitet als „Hommage à mon papa“. Das Tier ist perfekt gegart und wird mit einer wundervollen, schaumig-buttrigen Krustentiersauce mit Sauternes gereicht. Geht doch! Das erste Gericht auf Drei-Sterne-Niveau, allem voran des hervorragenden Hummers wegen. Châpeau au papa! (9/10)

Nichtsdestoweniger werde ich den Eindruck nicht los, bisher weitestgehend langweilige Gerichte gegessen zu haben.

Dieser Eindruck verfestigt sich beim Wolfsbarsch mit einem Muschel-Jus, Rosenkohl und abermals Rübchengemüsen in Scheiben. Zwar schaffen es die hervorragenden Saucen jedes Mal, die Gerichte in ein gutes Licht zu rücken, doch über ein ziemlich trockenes und auf einer Seite fast verbranntes Stück Wolfsbarsch (mit labbriger Haut) kann ich nicht hinwegsehen, obwohl die Komposition geschmacklich gut ist. (6/10)

Eigentlich müsste ich etwas anmerken, doch mit welchem Ziel? Ich bin nur froh, es bald geschafft zu haben, da die Portionen und die Kochweise mit viel Butter sehr mächtig sind.

Im Rückblick auf den hervorragenden „königlichen Hasen“ kürzlich im Epicure bin ich besonders gespannt auf den lièvre à la royale, der sich jetzt in dieser Silberschale unter einem Kartoffelpüree verstecken soll. Wobei: ein Püree ist es gar nicht, eher ein schaumiger Brei. Darunter ist dann das geschmorte, zerfallende Fleisch, das erstaunlich uncharakteristisch im Geschmack ist – etwas zu mild für einen Hasen, der stundenlang in Dutzenden Aromaten geschmort haben soll. Insgesamt schmeckt das alles so als hätte man beliebiges dunkles Fleisch zusammen mit Kartoffeln und E322 in einem Mixer püriert. (6/10)

Umso erstaunter bin ich jetzt über den Auftritt Lallements, der mir als kleinen Happen zwischendurch, nur so zum Probieren, ein paar Scheiben phänomenal gereiften Rindfleischs an den Tisch bringt. Es stamme von Alexandre Polmard, einem der berühmtesten Rinderzüchter der Welt, um dessen Lieferungen sich sogar Spitzenrestaurants schlagen müssen. Der geradezu rührende Umgang Polmards mit seinen Tieren genießt Weltruhm. Tatsächlich schmeckt man das in jedem Bissen dieses außergewöhnlichen Produkts.

Das ist schon sehr paradox. Da sitze ich seit Stunden in einem Drei-Sterne-Restaurant und bekomme zum ersten Mal etwas wirklich Besonderes zu essen – so als wolle man zeigen, was man hier eigentlich genießen kann. An einem Gericht, in dem das Fleisch verwendet wird, werde derzeit aber noch gearbeitet, erklärt Lallement, und ich bin irgendwie ganz froh darüber, das unveränderte Produkt gekostet zu haben.

Der nächste Gang – ich mache mir inzwischen ernsthafte Sorgen darüber, wie ich das herannahende Abendessen schaffen soll – ist Kalbsbries. Das Stück ist ungefähr so groß wie eine Babyananas, goldbraun und leicht knusprig gebraten, noch heiß und damit perfekt in seiner Zubereitung. Die Sauce dazu ist, wie alle Saucen hier, hervorragend. Dazu spielen Pastinake und Zwiebeln noch eine Rolle in Form eines etwas überflüssigen chipsartigen Gebildes. Ich genieße das Stück Bries mit der Sauce Stück für Stück, bis nichts mehr davon übrig ist. (8-9/10)

Ein Kaffee und die Rechnung wären jetzt genau das Richtige. Doch schon die Kaffeeauswahl gestaltet sich kompliziert; zwischen über einem Dutzend Sorten Bohnen soll man eine Auswahl treffen. Jetzt mal ehrlich: welcher Gast kennt sich schon mit Kaffeesorten aus? Ich wähle irgendeine. Der Kaffee schmeckt.

Bevor das Dessert kommt, vor dem ich aufgrund der Portionen jetzt fast schon Angst habe, serviert man noch ein paar Dutzend(!) Petit-fours. Warum davon so viele auf dem Tisch stehen, darüber kann ich nur mutmaßen. Entweder möchte man, dass ich wirklich alle vierzehn Canelés, sechs weitere Gebackstücke mit Creme, acht Schokoladenpralinen, fünf Lollis und ein paar Bonbons alleine verzehre (das wäre bösartig); oder man möchte eben einfach großzügig sein. Aber was geschieht dann mit dem Rest? Werden die Canelés wieder eingesammelt und den Tischnachbarn präsentiert? Das fände ich unhygienisch. Die verbleibende Möglichkeit: man schmeißt sie weg. Das wäre Verschwendung. Wie man’s auch dreht: den ganzen Tisch mit Süßspeisen einzudecken ist völlig übertrieben. Die ein, zwei, die ich probiere, sind aber tadellos. (8/10)

Das Dessert – sagte ich schon, dass ich nicht mehr kann? – heißt schlicht Chocolat, beinhaltet verschiedene Präparationen von guter Schokolade: ein Schokolanden-Zylinder, Schokoladeneis, Schokoladenkugeln, Schokoladenstreifen, Schokoladenpulver. Das Eis ist fast geschmolzen als es am Platz ist, und der Rest der Konstruktionen wirkt merkwürdig amateurhaft, lange im Voraus präpariert und lässt mich nach ein paar Löffeln endgültig resignieren (6/10).

Meine Sättigung wird wieder abklingen (hoffentlich schon in ein paar Stunden), doch der Eindruck eines in seiner großen Gänze sehr langweiligen Menüs bleibt bestehen. Nicht eine einzige Zutat war auf dem (extrem hohen) Niveau, das ich von einer Drei-Sterne-Küche erwarte; nicht eine Kreation war besonders interessant; und selbst von klassischer Perfektion kann man – außer bei den Saucen – kaum sprechen.

In der Champagne prickelt eben nur der Champagner. Daran hat sich für mich auch nach diesem Essen nichts geändert.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: L’Assiette Champenoise (→ Website)
Chef de Cuisine: Arnaud Lallement
Ort: Tinquex, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 12.12.2015
Guide Michelin (F/MC 2015): ***
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