La Yeon ‒ drei Fragezeichen

Das pompöseste Luxushotel in Seoul heißt The Shilla. Ich hatte das Hotel für meinen Aufenthalt in Seoul kurz in Erwägung gezogen, die Idee aber wieder verworfen. Als ich an diesem Sonntagabend aus dem Taxi steige, um meine Reservierung im Hotelrestaurant La Yeon wahrzunehmen, bin ich etwas erleichtert, hier nicht Hotelgast zu sein. Denn der Luxus, den ich auf den ersten Blick erkennen kann, ist eher von der plakativen Sorte. Ein bisschen Las Vegas in Korea.

In der von Gold- und Brauntönen dominierten, riesigen Lobby wimmelt es von Menschen. Manche von ihnen stehen in langen Schlangen an einem Buffet an, das offenbar die Hauptattraktion eines anderen Hotelrestaurants darstellt. Zum Glück sind die drei Sterne nicht hier vergeben worden.

Im Fahrstuhl wird es ruhiger. Oben angekommen, herrscht dann gespenstische Stille. Über einen geschätzt zwanzig Meter langen Flur laufe ich auf einen unbesetzten, aber beleuchteten Empfangstresen zu. Die große Fensterfront zu meiner Linken eröffnet den Ausblick auf die Lichterflut der koreanischen Metropole, dreiundzwanzig Stockwerke unter mir.

Ich bin gespannt auf das zweite Drei-Sterne-Restaurant, das ich während meiner Reise nach Seoul besuche. Trotz eines umfangreicheren Mittagessens bringe ich auch schon wieder ausreichend Appetit mit. Meine Vorfreude auf einen kulinarisch und gastronomisch kurzweiligen Abend verwandelt sich in den nächsten Minuten jedoch zunehmend zu Skepsis.

Ich kenne nur wenige Spielcasinos von innen, erinnere mich aber lebhaft daran, dass allen eine ganz besondere, depressive Stimmung innewohnt, die auch hier vorherrscht. Es gibt ja auch Parallelen: Geld werde ich hier auch verlieren, das ist sicher; unsicher dagegen ist mein Gewinn. Die drei Michelin-Sterne im Eingangsbereich sollten die Wahrscheinlichkeit auf einen solchen allerdings deutlich erhöhen.

Ebenfalls etwas unangenehm ist die Präsenz eines unterschwelligen, aber unverkennbaren Geruchs nach kaltem Tabakrauch. Entweder durfte man hier irgendwann mal rauchen und hat es bis heute nicht geschafft, den Geruch loszuwerden. Oder man hat am Vorabend einer Zigarrenrunde stattgegeben. Andere Gäste dürfte es nicht gestört haben, denn vermutlich war niemand mehr hier. In einer Stunde ‒ dann wird es kurz nach halb neun sein ‒, wird auch mein Tisch der einzige sein, an dem noch jemand sitzt.

Zum Stöbern in der Speisekarte bestelle ich ein Glas offenen 2017er Saint Aubin 1er Cru „Hommage à Marguerite“ von der Domaine Pierre-Yves Colin-Morey für recht happige € 41. Die Weinkarte selbst bietet eine eher begrenzte Auswahl internationaler Weine zu hohen Aufschlägen. Ein recht guter Deal erscheint mir noch ein 2015er Château Chasse-Spleen für umgerechnet ca. € 94.

Bezüglich des Essens fällt meine Wahl auf das etwas kleinere Menü „La Yeon“ (€ 147), das sich von dem teureren Menü „Shilla“ (€ 203) augenscheinlich nur durch einen teuren Extragang mit Seegurke und Abalone unterscheidet. Das bisher recht genussfeindliche Ambiente bringt mich gerade auch nicht in die nötige Stimmung für das ausgiebigste Mahl.

Erste Snacks werden aufgetischt. Es gibt getrocknete Dattelstückchen sowie Gingseng-Chips. Letztere sind ganz besonders geschmacksneutral, erstere Kleben am Gaumen und lassen sich nur mit einem beherzten Schluck Burgunder herunterspülen. In einer Welt mit so vielen Möglichkeiten, appetitanregende Snacks zu ersinnen, verblassen diese hier zu Nichtigkeit. (5/10)

Weiter geht’s mit einem Kastanienpüree mit Milch und Kastanienflocken. Der süßliche Brei ist sehr heiß und schmeckt erwartungsgemäß auch ein bisschen nach Kastanie. Nicht schlecht, aber ich sitze gerade in einem Drei-(!)-Sterne-Restaurant. (6,9/10)

Als nächstes wird eine Kreation mit roher Jakobsmuschel serviert. Der Service ist trostlos und roboterartig. Die Muschel ist in Scheiben geschnitten und auf Friséesalat angerichtet, dazu sorgen frische Apfelstückchen für passende Säure. Dazu gibt es eine vergleichsweise große Menge eines mit Sojasauce und Yuzu zubereiteten Gels. Die Jakobsmuschel ist von zweifelsfreier Qualität und in ihrem frischsäuerlichen Umfeld aromatisch schlüssig integriert, ohne dabei jedoch irgendetwas wirklich Nennenswertes zu offenbaren. Das Gel schmeckt recht artifiziell. In Summe ist das ein akzeptables Gericht, wie man es auch in einem beliebigen Ein-Sterne-Restaurant in Deutschland finden könnte. (7/10)

Das bisher recht skurrile Menü geht weiter mit einem Hühner-Porridge mit Ginseng. Dazu gibt es ein Schüsselchen mit Kimchi, die koreanische Spezialität, in die ich mich bisher nicht verliebt habe. Diese ‒ flüssige ‒ Interpretation ist jedoch ganz angenehm und bietet zwar immer noch etwas von dem typischen Mülleimeraroma, dafür aber knackige Säure und angenehme Frische durch größere Apfelwürfel. Das naturgemäß breiige Porridge schmeckt ein wenig nach altem Koffer, eine aromatische Assoziation, die vom Ginseng herrührt. Das ist sympathischer als es klingt; einige Streifen Huhn obenauf sind auch sehr aromatisch und zart. Die Handschrift einer großen Küche bleibt mir auch hier verborgen, aber für das, was es sein soll, ist das sehr gut umgesetzt. (7/10)

Gang vier besteht aus zwei dünnen Scheiben gebratenen koreanischen Rindfleischs, die zuvor in Mehl und Ei paniert wurden. Darauf findet man einige kleingeschnittene Zwiebeln, daneben eine Sauce zum Stippen, das war’s. Das Rindfleisch ist gut ‒ längst nicht so bemerkenswert wie anderes Rindfleisch der vergangenen Tage ‒, aber was die Michelin-Inspektoren hier konsumiert haben müssen, um bei derartigen Speisen überhaupt an Sterne zu denken, ist sicherlich nicht Bestandteil der Speisekarte. (6,5/10)

Weiter geht’s mit gedämpften Torpedobarsch, der auf einer dicken Scheibe fermentierten Rettichs angerichtet ist. Dieser fördert erneut die charakteristische „Muffigkeit“ der koreanischen Küche zutage. Fisch, Rettich und kleine Pilze sind von einer pikanten, angedickten Sauce ummantelt, die eine weitere Differenzierung von Aromen etwas erschwert. Die Geschmackswelt hier ist insgesamt „kohlig“, „pfefferig“, aber bis auf eine erkennbar gute Garung und Qualität des Fischs, ist auch dieses Gericht nicht weiter bemerkenswert. (7/10)

Der nächste Gang bot verschiedene Optionen. Meine aufpreispflichtige Wahl (zzgl. € 34) fiel auf unter Holzkohle gegrilltes koreanisches Ribeye. Ob es sich hierbei um das qualitativ fabelhafte Hanwoo-Rind handelt, kann ich nicht in Erfahrung bringen, auch wundert mich die aus der Speisekarte nicht herzuleitende Zubereitung des Fleischs in Form einer Art gebratenen Hacks. Die frikadellenartigen Stücke haben einen hohen, buttrigen Fettanteil, was für Hanwoo-Rind spräche, sind aber nicht weiter gewürzt und enttäuschen in dieser Zubereitung eher. Dazu gibt es verschiedene gegrillte Gemüse, unter anderem eine sehr aromatische Zwiebel mit köstlichen Grillaromen sowie fleischige Pilze. Dieser vegetarische Teil des Gerichts, zu dem auch noch ein knackig frischer, sehr leichter Salat gehört, zählt zum spannenderen Teil der Komposition. (6,9/10)

Der aus mehreren Schälchen bestehende Hauptgang, bei dem wie üblich ein Reisgericht im Mittelpunkt steht ‒ hier mit Gemüse und Abalone ‒, bietet, darüber hinaus, verschiedene Schälchen mit fermentierten und marinierten Zutaten wie Tintenfisch sowie diverse Gemüse und eine Misosuppe. Geschmacklich ist das Gericht nicht vergleichbar mit scheinbar ähnlichen Kompositionen aus Japan, die deutlich abwechslungsreicher und produktfokussierter sind. Jedem dieser sechs Schälchen ist abermals ein „muffiger“, kofferartige Geschmack inne, ein bisschen wie bei korkigem Wein. Das mag zur Küche gehören, mein Fall ist das nur in Maßen. (6,5/10)

Ein Birnensorbet mit dem Kompott einer roten Frucht und einem sehr süßen Gelee schmeckt wie (sehr süße) Fruchtgummis (6,9/10). Dazu „passt“ ein nach dem Zimtkaugummi „Big Red“ schmeckender Tee, zu dem staubig-klebriger Reiskuchen mit Feigenmarmelade gereicht wird. Das ist beides fast ungenießbar (5/10).

Es ist jetzt 21:32 Uhr, und das Restaurant ist schon seit über einer Stunde wie ausgestorben. Mir reicht das Theater jetzt. Selten wollte ich ein Lokal dringender verlassen als in diesem Moment. Die drei Sterne hier sind an Absurdität kaum zu überbieten. Drei Fragezeichen wären zweifellos die geeignetere Auszeichnung.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: La Yeon (→ Website)
Chef de Cuisine: Kim Sung Il
Ort: Seoul, Südkorea
Datum dieses Besuchs: 06.10.2019
Guide Michelin (Seoul 2019): ***
Meine Bewertung dieses Essens 6,5 (Was bedeutet das?)
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