Le Meurice Alain Ducasse ‒ Ducasse lass nach

Wer den gastronomischen Spitzenbetrieb des berühmten Hotels Le Meurice in der Rue de Rivoli in Paris leitet, hat eine Legende fortzuführen. Die Legende des fast zweihundert Jahre alten Hotels, das bereits Salvador Dalí lange sein Zuhause nannte.

Bei einem Besuch von mir im Jahr 2011 kochte in dem nach dem Hotel benannten Restaurant Le Meurice noch Yannick Alléno, natürlich auf Drei-Sterne-Niveau. Eine geringere Küchenleistung passt auch nicht zu dem Hotel, bei dem schon für besenkammergroße, muffige Zimmer vierstellige Preise aufgerufen werden.

Alléno blieb bis zum Jahr 2013. Danach folgte eine Modernisierung des palastartigen Speisesaals unter der Feder von Philippe Starck sowie eine Übernahme des Restaurantbetriebs von niemand geringerem als Alain Ducasse. Das ist unübersehbar, sein Name ist jetzt Teil des Restaurantnamens, wie bei allen Flaggschiffrestaurants des monegassischen Übergastronomen.

Neuer Küchenchef im Le Meurice war dann zunächst Christophe Saintagne aus dem Plaza Athénée, das zu der Zeit gerade renoviert wurde. Saintagne hielt die Höchstwertung des Restaurants im Guide Michelin noch zwei weitere Jahre aufrecht. Anfang 2016 übernahm schließlich der Franzose Jocelyn Herland das Ruder im Le Meurice. Dieser kochte zuvor jahrelang in Alain Ducasse’ Londoner Drei-Sterne-Institution auf höchstem Niveau.

Alléno, Saintagne, Herland, Ducasse: all diese Namen atmen drei Michelin-Sterne aus allen Poren. Umso erstaunlicher war es, dass kurz nach dem Antritt von Herland der dritte Stern vom Le Meurice abbröckelte. Zwar war zu der Zeit längst Redaktionsschluss beim französischen Guide Michelin ‒ und der Lapsus vermutlich der unruhigen Zeit des Wechsels zuzuschreiben ‒, doch Herland und Ducasse haben es bis heute nicht geschafft, den dritten Stern zurückzuholen.

Genau aus diesem Grund interessiert mich eine Rückkehr in das Restaurant besonders. Die Kombination Ducasse/Herland hat auch in London bestens funktioniert. Und das Budget dürfte in Paris nicht knapper und die Klientel mindestens genauso spendierfreudig sein wie in London.

In einem der wohl eindrucksvollsten Speisesäle der Welt befinde ich mich an diesem Freitagabend also auf Spurensuche. Meine Hoffnung auf einen in jedem Fall kurzweiligen Abend wird vom charmanten Personal bekräftigt. Auch ein Blick in die Speisekarte, die ich online bereits ausgiebig studiert habe, nährt meine Vorfreude auf eine produktfokussierte Küche mit Ducasse’scher Leichtigkeit. Eine Auswahl fällt mir ob der angebotenen Produktvielfalt wie üblich schwer. Es sind jedoch auch halbe Portionen möglich, was eine größere Vielfalt bei der Bestellung ermöglicht. Die souveräne Art des Personals, mit der man regelmäßig auch in französischen Spitzenrestaurants durch den Abend geführt wird, macht den Akt des Bestellens zu einem fließenden, humorvollen Prozess. Humor ist ohnehin eine der wichtigsten Eigenschaften guten Personals.

Humor ‒ in dem Fall Galgenhumor ‒ hilft auch, die Preise zu verkraften. Es gibt, abgesehen vom Dessert, kein einziges Gericht im zweistelligen Preisbereich, tatsächlich kaum eines unter € 120. Drei Gänge zuzüglich Käse und Dessert gibt es zum Vorzugspreis von € 380 (was regulär knapp € 500 verschlingen würde).

Ich benötige noch etwas für meine Auswahl und probiere währenddessen die Teigkissen, die gerade serviert wurden. Sie sind mit mildem Ziegenkäse, einer Spur nicht zu süßem Honig und wunderbar akzentuiertem Sauerampfer gefüllt. Ein exzellenter Auftakt. (8,5/10)

Von einer umfangreichen, stolz präsentierten Brotauswahl des Pâtissiers Cédric Grolet wähle ich ein ‒ sehr gutes ‒ Sauerteigbrot sowie ein kleines Baguettebrötchen. Letzteres ist so hart, dass ich es mühelos als gefährliche Schlag- oder Stichwaffe einsetzen könnte. Beim Versuch, es anzubrechen, zerspringt das Gebäck in tausend Teile als wäre es aus Glas. Ich suche ernsthaft eine versteckte Kamera. Und obwohl ich auf den kaum zu übersehenden Vorfall aufmerksam mache und dabei sogar mitteile, dass man dieses Brot niemandem mehr servieren sollte, interessiert sich dafür letztlich niemand. Die Brotexplosion bleibt trotz des ein oder anderen erstaunten Blickes von mir zunächst auf dem Tisch.

Dafür ist das bereits am Tisch stehende Gemüse eine Offenbarung. Die matte Farbe und die kleinen natürlichen Imperfektionen der zwischen großen Salzkristallen noch behutsam nachgarenden Gemüse täuscht über die darin enthaltene Geschmackspracht hinweg. Jedes Rübchen, jede Karotte ist ein Hochgenuss, und die kleinen Kartoffeln sind mit die besten, die ich je gegessen habe. Ein raffinierter Dip mit schwarzer Olive und Parmesan ist dazu ebenfalls exzellent. Die Restaurants von Ducasse bleiben für mich ein Gemüseparadies, auf vergleichbarem Niveau mit den Gemüsen von Alain Passard. Meine Höchstnote für nahezu unverändert servierte Rohstoffe ist, mit wenigen Ausnahmen 8/10.

Das dritte Amuse-Bouche besteht aus einer zuerst auf einem heißen Stein präsentierten und dann in einer Schale platzierten  Zucchiniblüte. Sie ist mit einer saftigen, herzhaft gewürzten Tintenfischfarce gefüllt. In Kombination mit dem Grillgeschmack sowie sehr elegant eingesetzten orientalischen Aromen im Dip ergibt sich daraus ein himmlischer Snack zum Augenschließen und Entfliehen in andere Welten. Grandios. (10/10)

Meine erste bestellte Speise ist ein intensiv nach Wald duftendes, zweiteiliges Ensemble aus verschiedenen Wildpilzen, dazu, auf dem Hauptteller, Brennnessel, Prinzessbohnen und bittere Kräuter (halbe Portion € 70). Die Kreation setzt am Gaumen die olfaktorischen Assoziationen fort. Alles schmeckt nach einem Spaziergang durch einen Sommerwald und den Kontrasten zwischen Licht und Schatten. Ein emotional starkes und qualitativ exzellentes Gericht, bei dem mir, vor allem bedingt durch die schwere Kräutercreme, jedoch etwas Leichtigkeit fehlt. (8,9/10)

Einige Nachlässigkeiten im Saal irritieren derweil. Mein zersplittertes Brot liegt immer noch auf dem Teller; der von mir bestellte 2005er Corton von der Domaine Bonneau du Martray (€ 300) ist deutlich zu warm und muss im Eiskübel heruntergekühlt werden; und der „Directeur de salle“ ist ein ulkiger Vogel, der wie eine überzeichnete Theaterfigur einer Person, die etwas zu verbergen hat, auffällig unauffällig seine Runden dreht. Ich bin der größte Fürsprecher von Lockerheit selbst in luxuriösesten Restaurants, aber der gute Herr fällt mit seinem pfeifenden Auf- und Abgehen und seinen abwechselnden Blicken zu Zimmerdecke und Fußboden etwas merkwürdig auf.

Ich probiere weiter einen Paté mit einer geschichteten Füllung aus Perlhuhn und Foie Gras (halbe Portion € 63). Er sieht aus wie aus einem Kochbuch der alten Schule und ist makellos zubereitet. Ein bissfester Mürbeteig umschließt das heiße Innere, dazu gibt es einige ‒ leider hier eher belanglose ‒ Gemüseröllchen und, so angekündigt und auch in der Speisekarte aufgeführt, eine Sauce Périgueux. Tatsächlich ist es aber keine. Auf dem Teller findet man anstatt der üppigen Trüffelsauce eine lauwarme Vinaigrette, die zwar einige wenige Trüffelstückchen, dafür aber auch Kapern, Frühlingszwiebeln sowie Essig und Öl enthält ‒ alles Zutaten, die mit einer klassischen Périgueux nichts zu tun haben. Die Sauce schmeckt dennoch sehr gut, das steht auf einem anderen Blatt. Ich bestelle davon auch etwas nach, weil die ursprüngliche Menge nicht ganz ausreicht, um die Pastete komplett damit zu begleiten. Insgesamt eine etwas zwiespältige Angelegenheit auf hohem, aber nicht gerade ansteigenden, Niveau. (7,9/10)

Mein nächstes Gericht ist Wolfsbarsch „Ikejime“, mit Schuppen gebraten, dazu gibt es Erbsen und, nicht wirklich erkennbar, Rhabarber (halbe Portion € 60). Meine Geruchsprobe ist zunächst vielversprechend. Gurkenabschnitte sorgen für ein frisches, klares Aroma in der Nase. Doch der Eindruck täuscht. Das Filet ist nicht besonders saftig, was durch die trockenen, gebratenen Schuppen noch verstärkt wird, hinzu kommen mehlige Erbsen und eine nicht näher identifizierbare Creme, die sämtliche Zutaten am Gaumen in einen geschmacklichen Einheitsbrei verwandelt. Schwer, handwerklich mangelhaft und qualitativ enttäuschend. Ich reklamiere das Gericht nach einigen Probiergabeln, verzichte aber auf Ersatz. (Dennoch findet sich das Gericht später erst nach einer Korrektur nicht mehr auf der Rechnung.) (6,5/10)

Einen Fleischgang probiere ich auch noch, obwohl sich meine Vorfreude bereits in Grenzen hält. Es gibt Kotelett vom Kalb „grain de soie“, eine Milchkalbszucht aus den Pyrenäen. Die Kombination mit geräuchertem Aal reizte mich, wenngleich man Mühe hat, diesen auf dem Teller zu finden. Die Fleischqualität ist sehr gut, die Sauce allerdings eher dürftig, weil das Vermengen des Fonds mit dem fettigen Bratenjus etwas zu rustikal ist. Auch die Gemüse am Rand mit den winzigen Stückchen Aal sind unauffällig. Ein spannungsloser Teller auf gutem Bistro-Niveau. (6,9/10)

Originell ist vor den Desserts dann zunächst ein Intermezzo in Form eines pikanten, heißen Shots bestehend aus einer wunderbar leichten, aber geschmacksintensiven Dashi-Consommé und Gemüsefond. Dazu gibt es einige dünn gehobelte Abschnitte verschiedener exzellenter Käse. (8,5/10)

Ein Art Granité mit Menton-Zitrone ist dann ebenfalls große Klasse (9/10) ‒ man wird sofort an die Côte d’Azur transportiert ‒, bevor ich das Essen dann mit einem Klassiker abschließen möchte.

Doch der Baba au rhum (€ 35) begeistert mich nicht. Ich kenne die vielen Nuancen dieses Desserts, die ich gerne mit den Stellschrauben eines Stücks Nigiri-Sushi vergleiche. Und obwohl die Restaurants von Ducasse stets nach demselben Rezept vorgehen, ist dieser Baba alles andere als perfekt. Die Außenhaut ist etwas zu hart, der Teig hat eine zu heterogene Struktur, und der Rum ‒ ich wählte Rhum JM von Martinique ‒ wird zu großzügig angegossen, sodass der Alkoholgeschmack dominiert. Das ist immer noch ein sehr schmackhaftes Dessert, erreicht aber bei weitem keine Perfektion. (7/10)

Bis auf einen hervorragenden Start war das Essen damit eher enttäuschend. Mir fehlte bei den Gerichten sowohl Leichtigkeit ‒ ein Wesenszug von Ducasse‘ Küche ‒ als auch eine kulinarische Vision wie bspw. das „Naturalité“-Konzept im Plaza Athénée. Auf Drei-Sterne-Niveau sind hier derzeit tatsächlich nur die Preise. Davon hat man sich beim Guide Michelin allerdings nicht blenden lassen und bewertet mit zwei Sternen derzeit noch großzügig. Immerhin waren es nur die nicht bestellten Speisen wie Amuse-Bouches und Pré-Dessert, die den Schnitt dieses Essens oben halten. Für dieses Preisniveau ‒ und mit all diesen Akteuren im Hintergrund ‒ war das heute Abend eine recht lauwarme Vorstellung.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Le Meurice Alain Ducasse (→ Website)
Chef de Cuisine: Jocelyn Herland
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 27.07.2018
Guide Michelin (F 2018): **
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