Quay ‒ keine Oper

Als ich am Nachmittag in Sydney ankomme und von meinem Hotel auf den Circular Quay blicke, steht vor dem Kreuzfahrtterminal ein riesiges Schiff. Das liegt in der Natur der Sache, doch es wäre schade, würde sich an dieser Situation bis heute Abend nichts ändern.

Schließlich befindet sich das Restaurant Quay (sprich: [ki]) direkt im Kreuzfahrtterminal und bietet normalerweise einen ungehinderten Ausblick auf das Hafenbecken und die berühmte Oper. Dieser Ausblick zählt für mich zu den eindrucksvollsten urbanen Kulissen.

Am Abend ist das Schiff zwar weitergezogen, doch irritiert mich dann gleich die Platzierung im oberen der beiden Stockwerke des Restaurants. Überhaupt erkenne ich das Restaurant kaum wieder, in dem ich vor sieben Jahren schon einmal war ‒ um dann am nächsten Tag gleich noch mal dort einzukehren. Peter Gilmore ist einer der berühmtesten Köche Australiens, das Quay ist für viele das beste des Landes.

Die Einrichtung ist zeitgemäßer geworden. Weg von einer spießigen 90er-Jahre-Formalität, hin zu mehr Purismus und an den Tischen zu geradezu skandinavischer Schlichtheit.

Nur nicht im Obergeschoss. Dort herrscht eine derart biedere und grelle Atmosphäre, dass ich das (noch nicht einmal begonnene) Essen wirklich abbrechen würde, wenn ich keinen anderen Tisch bekomme. Und erst bei meiner zweiten, offenbar etwas dringlicher vorgetragenen, Nachfrage klappt das schließlich, und der Abend beginnt von vorn.

Ich bereite Restaurants nur ungern Schwierigkeiten und bin ‒ man glaubt es vielleicht kaum ‒ ein sehr pflegeleichter Gast. Aber wenn es hakt, dann hakt es. Ich ziehe mittlerweile auch schnell Konsequenzen und finde mich nicht mit Situationen ab, in denen ich mich unwohl fühle. Schlüssel zur Lösung aller Probleme ist immer Souveränität und Freundlichkeit.

Der neue Tisch ist hervorragend, der Ausblick ungetrübt, und auch der Wein, ein offen servierter 2015er Chardonnay „Wallis“ vom Weingut Ten Minutes By Tractor (umgerechnet ca. € 18) von der Mornington Peninsula funkelt im Glas. Die Weinkarte ist überwiegend regional und daher sehr interessant, weil die Australier viele ihrer Schätze zu Hause trinken. Als weitere Begleitung für den Abend bestelle ich eine Flasche 2011er „Cabernets“ vom exzellenten Weingut Lake’s Folly aus dem Hunter Valley (€ 166). Die Weine sind rar und bei uns so gut wie gar nicht zu beschaffen.

Es gibt ein Sechs- und ein Zehn-Gänge-Menü (€ 130 bzw. € 170), von denen ich die kleinere Option wähle. Immerhin steckt mir noch ein grauenhafter Flug mit Qantas von Hongkong in den Knochen. Selbst die Crew war überrascht, dass es noch Maschinen mit der sechzehn Jahre alten Business-Bestuhlung gibt. Das klingt nach einem Luxusproblem, hatte aber mit Luxus so viel zu tun wie die völlig heruntergerockten Sitze und ein Bildschirm mit Gameboy-Auflösung mit meiner Erwartung an ein Minimum an Komfort bei dem saftigen Ticketpreis.

Als Amuse-Bouche gibt es eine Tartelette mit Shiitake-Creme und knusprigem Schwein ‒ salzig, knusprig und mit handwerklich auffällig gutem Mürbeteig. (8/10)

Eine Komposition mit verschiedenen Meerestieren stellt schließlich den ersten Gang des Menüs dar. Oktopus, Jakobsmuschel und eine weitere Muschelart, jeweils sehr puristisch, ergeben mit Algen, einer speziellen Sojasauce und gereiftem weißem Essig ein leichtes Gericht mit dennoch „tiefem“ Umami-Geschmacksbild. Eine großartige Produktschau. (9/10)

Mit Zutaten aus dem Meer geht es weiter. Australien hat diesbezüglich beachtliche Qualitäten zu bieten. Das beweist erneut das folgende Gericht mit in Butter pochiertem und in pastaähnliche Streifen geschnittenem Tintenfisch, Blaukrabbe und Abalone. Brokkoli spigarello, Hirschhornwegerich und Bärlauch begleiten auf geradezu florale, elegante Weise die Schätze aus dem Meer. Sehr wohlschmeckend, und erneut bleibt mir nichts anderes übrig, als über die Produkte zu staunen. (8,9/10)

Die Leichtigkeit macht beim nächsten Gang eine kurze Pause. Eine crumpet genannte Zubereitung aus Gerste, die sich mit ihrer dichten Konsistenz irgendwo zwischen Sauerteigbrot und pancakes positioniert ‒ geschmacklich übrigens auch ‒, isst man mit Butter und (exzellentem) schwarzem australischem „Terra Preta“-Trüffel. Das schmeckt „getreidig“, fettig, rustikal, von allem jedoch eine Nuance zu viel. (6,9/10)

Den folgenden Gang ließ ich noch aus dem anderen Menü mit einbauen. Er stellt tasmanischen Seeigel zur Schau, in einem japanisch anmutenden Arrangement mit verschiedenen Schälchen. Im Gegensatz zur Kaiseki-Küche soll man hier jedoch alle Komponenten miteinander vermengen. Die Grundlage bildet das Gefäß mit Seeigel (von sehr guter Qualität und mit typisch seidiger Textur) und Seeigel-Chawanmushi. Ein weiteres Schälchen enthält Flocken von getrockneter Fischblase, getrocknetes Eigelb und Fischeier, das dritte ein Dashi. Das Potpourri verschiedener jodiger Meeresaromen ergibt ein vielschichtiges, gleichwohl ausgewogenes und hervorragendes Gericht. (8/10)

Nun geschieht, abseits des Tisches, etwas sehr Befremdliches. Um es gleich deutlich zu formulieren: auf der Herrentoilette kotzt sich jemand in aufschreckender Lautstärke die Seele aus dem Leib, und zwar so heftig und so lange, dass das Personal bereits besorgt vor der Tür steht und den Blicken der anderen Gäste auch nur mit Ratlosigkeit begegnet. Am Ende ‒ das erst nach einer guten halben Stunde naht ‒ war es angeblich ein stark alkoholisierter Gast. Das Ereignis geht aber nicht spurlos an allen vorüber. Auch ich empfinde etwas Unbehagen. Erbrechen in einem Restaurant (das viel rohes Meeresgetier serviert), das sorgt schon für Kopfkino.

Diese merkwürdige Situation bringt einen kleinen Stimmungs- und Appetit-Dämpfer mit sich. Doch das freundliche Team ist professionell und freundlich und serviert nach einer kurzen Atempause den nächsten Gang.

Doch der will mir nicht so recht schmecken. Geräucherte Schweineschnauze, Rasiermesser-Muschel, Shiitake-Pilz und Seegurken-Cracker ist ein Surf and Turf mit diversen „fischigen“ Zutaten, deren Finesse sich mir hier partout nicht erschließen kann. Die Gabeln, die man sich zusammenbastelt, sind irgendwie nicht so recht definierbar. Etwas skurril und geschmacklich nicht auf dem Niveau der vorherigen Gänge. (6,9/10)

Leider serviert das Restaurant nicht mehr den berühmten Eight Texture Chocolate Cake, eines der besten Desserts, die ich je gegessen habe ‒ und die einzige ernsthafte Konkurrenz zum Schokoladenkuchen aus dem L’Ambroisie. Ein „White Coral“ genanntes Dessert wird hier nun als neues signature dessert serviert. Eine Ganache aus weißer Schokolade wurde hierfür unter Vakuum mit Luft angereichert und dann mithilfe von flüssigem Stickstoff gefroren. Das Ergebnis ist eine fragile, kühle Masse, die mit etwas Fantasie an eine Koralle erinnert. Serviert wird das High-Tech-Gebilde auf einer Guaven-Eiscreme (Feijoa) mit Kokoscreme. Das schmeckt leicht, frisch und fruchtig, aber auch ziemlich süß und recht artifiziell. (6,9/10)

Das zweite Dessert ist ebenfalls weiß und besteht aus kristallisiertem „Oloroso-Karamell“ über Pflaumencreme und Pflaumenmarmelade. Das ist sehr ähnlich zum vorherigen Dessert, aber im Vergleich dazu wegen hier auch noch fehlender Temperaturkontraste ‒ alles hat Raumtemperatur ‒ noch etwas dürftiger. (6,5/10)

Als stünde das befremdliche Ereignis zur Mitte des Menüs auch für eine Zäsur hinsichtlich der kulinarischen Qualitäten, konnte eigentlich nur die erste Hälfte des Essens überzeugen. Die Kreationen mit Meerestieren überragten die anderen Gerichte qualitativ und geschmacklich, die Desserts standen im dunklen Schatten der Schokoladenkuchen-Vergangenheit. Inzwischen kann ich jedoch auch bestätigen, dass das Essen bekömmlich war. Morgen wiederkommen muss ich diesmal trotzdem nicht.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Quay (→ Website)
Chef de Cuisine: Peter Gilmore
Ort: Sydney, Australien
Datum dieses Besuchs: 02.10.2018
Meine Bewertung dieses Essens 7,5 (Was bedeutet das?)
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