Amador – im Sinne des Bib

Die damalige Idee des Guide Michelin, besonders gute Restaurants mit Prädikaten zu versehen, die einen Umweg oder eine Reise dorthin empfehlen, lag bekanntermaßen darin begründet, die Abnutzung und damit den Absatz von (Michelin-)reifen zu fördern. Diese Grundidee erscheint zwar hinsichtlich des Fortschritts bei der Auswahl an Verkehrsmitteln etwas aus der Mode gekommen, aber zumindest ich trete den heutigen Weg zum Restaurant Amador im hessischen Langen mit dem Auto an, das mit Pneus des kulinarisch bewanderten Reifenherstellers ausgestattet ist. Der hätte sicherlich seine wahre Freude daran. Sogar der „Bib“, das Michelin-Männchen, winkt mir irgendwo an der A7 in Richtung Süden zu – wie bezeichnend.

Die Tatsache, dass die fünfhundert Kilometer weite Fahrt aus dem Norden unter besonders widrigen Witterungsverhältnissen dieses frühen Wintereinbruchs stattfindet und zermürbende siebeneinhalb Stunden in Anspruch nimmt, erhöht dabei ungerechterweise die Hoffnung auf eine besonders hohe kulinarische Entschädigung am Abend.

Wie sich zeigen wird, stellt die Erfüllung dieser Hoffnung das Team rund um Juan Amador vor keine großen Schwierigkeiten.

Das gelbstichige Interieur in diesem schönen Fachwerkhaus ist dem Wohlfühlfaktor allerdings ziemlich abträglich; schlichtes Weiß auf dem Tisch und eine etwas zurückhaltende Beleuchtung könnten hier kleine Wunder bewirken.

Man reicht ein Erfrischungstuch in einer Glasschale. Das Tuch ist anfänglich zum Volumen eines Dame-Steins komprimiert, bis es mit etwas Wasser begossen wird und sich dann zu seiner vollen Größe entfaltet. Ein Schmunzler. Mich würde interessieren, wie viele Gäste schon versucht haben, das Tuch zu essen.

Es folgen ein paar Snacks, die wir bei ein, zwei Gläsern Ruinart Blanc de Blanc (Flasche € 149)degustieren. In einem Glas Spanische Rauchmandeln, auf weiteren Platten Sashimi vom Joselito-Schinken, Focaccia mit Lardo-Speck, Süß-sauer marinierte Tomaten, Luftkissen mit Cabrales gefüllt.

Mit diesen simplen Snacks zählt das Restaurant nicht gerade zu denjenigen Häusern, die schon vom ersten Bissen an mit Genuss auftrumpfen. Da sie keine Vorfreude auslösen, sondern Hoffnung auf Besseres schüren, sind sie meiner Meinung nach fehl am Platz.

Die Menükarte wird gereicht. Sie ist unterteilt in drei Abschnitte „les froids“, „les chauds“ und „les douceurs“, also kalt, warm und süß, mit je fünf Gerichten (€ 209). Die Vielfalt und Menge sind beeindruckend, der Fokus vieler Gerichte ist das Meer.

Sinnvollerweise kommt man jetzt gleich zur Sache. Den Beginn macht die Geeiste Beurre Blanc mit Kaviar, Haselnussmilch & Malzbrot. Die klassische französische weiße Buttersauce, hier als Eis, besticht durch ein bezirzendes Aromenspiel zwischen süß und säuerlich, wunderbar ergänzt durch die nussigen, salzigen Aromen des Kaviars. Zusätzlich unterstützt wird die Komposition durch eine leichte Herzhaftigkeit des Malzbrots, einer milden Haselnusssauce, die alle Aromen noch näher zusammenfügt und einem nicht unwesentlichen, frischen Akzent von etwas Schnittlauch. Was für ein (zweiter) Start!

Der Austern-Raviolo mit Algen, Soja, Sesam und Yuzu lädt zur Erkundung ein. Ich bin bekanntlich kein Austernfreund, aber derart in Szene gesetzt kann ich nicht widerstehen. Das Gericht ist schnell verspeist und schmeckt erfrischend nach Ozean – oder sagen wir, wegen des dezenten Fokus auf asiatische Aromen, nach Pazifik.

Zum Niederknien ist Trüffel aus Alba mit Kartoffel, Carbiniero (statt ursprünglich Hokkaidokürbis) & Wurzelspeck. Mein Gott, sagt hier selbst der Ungläubige, im Angesicht dieser nur als Wunder zu bezeichnenden Zusammensetzung von Aromen. Das Gericht ist beeindruckend harmonisch, begeisternd ausbalanciert, auch der intensive Trüffelgeschmack setzt sich nicht als alleiniges Element in den Vordergrund, sondern brilliert im Akkord mit den anderen Komponenten. Herzhaft, erdig, wunderbar.

Ich bin äußerst positiv überrascht vom bisherigen Stil, der unerwartet viele klassische Elemente beinhaltet, ja geradezu zelebriert. Ein Fokus auf moderne Küchentechniken, die man hier aufgrund vergangener Berichterstattung vermuten könnte, ist hier nicht zu finden, sondern eine derart sinnvolle Integration derselben, dass man eigentlich überhaupt nicht mehr über die Techniken sprechen muss. Das Produkt, die Aromen und der Wohlgeschmack stehen im Vordergrund – der wohl wichtigste Fokus jedes guten Essens. Bitte weiter!

Der nächste Gang, Gazpacho mit Eismeergarnelen & Mango, hat offenbar seine Stärken an den vorherigen Gang abgegeben und vermag niemanden am Tisch zu überzeugen. In Anbetracht der bisherigen Gerichte wirkt dieses völlig aus dem Rahmen. Recht belanglose Garnelen schwimmen in einer Art Mango-Smoothie. An dieser Kombination ist weder aromatisch noch von der Produktwahl etwas Besonderes zu finden und überzeugt mich abermals, dass Garnelen in der gehobenen Gastronomie wenig zu suchen haben.

Der Tatar vom Hessischen Ochsen mit gelierter Soubise, roten Rüben & Pommery-Senf und, seltsamerweise in der Karte nicht aufgeführt, Foie Gras. Das Gericht ist bemerkenswert vielfältig in der Möglichkeit, die beiden Protagonisten Tatar und Gänseleber mit den anderen Elementen zu immer neuen Geschmackseindrücken kombinieren zu können. Alle Zutaten sind perfekt abgeschmeckt und aufeinander abgestimmt, und auch der kühle, cremige Pommery-Senf gefällt  hier mit seinem Temperaturspiel.

Das zweite Drittel des Menüs, „les chauds“, beginnt mit dem Kaisergranat mit Mandeln, Brokkoli & Nussbutter. Ein puristischer Hochgenuss. Die Nussbutter ist intensiv aromatisch und offenbar auch mit Krustentierjus verfeinert, gewinnt aber durch eine leichte Karamell-Süße noch hinzu. Es ist eine der besten Saucen, die ich je verkostet habe. Der Kaisergranat ist von außergewöhnlicher Qualität, perfekt gegart geht mit dem Jus eine geschmackliche Harmonie par excellence ein. Das Gericht benötigt für mich keine weitere Komponente – zwar tragen die Mandeln noch etwas Frische und Textur bei, aber sowohl der Brokkoli als auch der separat dazu gereichte Krustentierjus sind hier für mich überflüssig.

Die Felsenrotbarbe mit Granny Smith, Meerrettich & Ziegenkäse ist qualitativ sehr gut, vielversprechend präsentiert, kann jedoch aromatisch nicht überzeugen. Alles ist etwas einheitlich.

Zwischendurch wird vom sympathischen Service übrigens einfach mal das Wasserglas ausgetauscht. Eine originelle, einfache Idee, die ich sehr begrüße und noch nie irgendwo gesehen habe.

Der St. Pierre mit Ochselmaul, Entenleber & Beeftea ist durch das umwickelte Räucherfleisch einen Hauch zu salzig, aber noch an der Grenze, um dem Genuss dieses exzellenten Gerichts nicht abträglich zu sein. Es ist sehr ausgewogen, wohlschmeckend herzhaft, und der Sud ist herausragend.

Das nächste Gericht, Jakobsmuscheln mit Kalbsbries, Périgord-Trüffel, Bohnen und Williamsbirneist überwältigend. Es ist eines dieser Gerichte, die mich ihres Geschmacksbilds wegen sprachlos machen und zutiefst berühren. Dabei ist es schwer zu beschreiben, wie das Gericht schmeckt – alles ist so „fein“. Die Jakobsmuschel und der Bries sind von herausragender Qualität und präzise gegart, der grüne Sud ist phantastisch und bildet eine perfekte aromatische Brücke zwischen allen Zutaten. Es ist einer dieser Momente des Essensglücks, die selbst auf diesem Niveau selten und im Voraus nicht auszumachen sind. Vielen Dank für diese Bereicherung!

Anstelle der nun vorgesehenen Mieral-Taube auf Holzkohle gegart mit eingelegten Aprikosen, Buchenpilzen & Nougat bietet man mir – meiner Tauben-Antipathie wegen – als Alternative ein Gericht mitKalb. Das Fleisch selbst begeistert nicht allzu sehr, aber ich bin ohnehin überrascht, dass so spontan eine Alternative möglich war. Das „Drumherum“ ist hervorragend: alles schmeckt nach Wald. Die eigentlich vorgesehene Taube würde zu dieser Aromatik wahrscheinlich besser passen, aber auch so ist das intensive „Wald-Aroma“ ein Genuss.

Kurz nach Mitternacht geht es weiter mit den Desserts. Den Auftakt macht Cabrales, weiße Schokolade, Quitte & Kernöl. Eine überraschende, sehr ausgewogene Kombination. Die Zutaten sind nicht nur aromatisch, sondern auch vom Mengenverhältnis her präzise aufeinander abgestimmt. So ist der spanische Blauschimmelkäse, der eigentlich die Hauptzutat darstellt, aufgrund seines intensiven Geschmacks eher zurückhaltend dosiert und in Kombination mit der Quitte und der weißen Schokolade niemals zu dominant, aber dennoch stets präsent.

Das nächste Dessert ist eigentlich keines. Es handelt sich um eine Interpretation des italienischen Klassikers CapresemitJoghurt-Mozzarella, Tomate & Basilikum. Tomate und Basilikum kommen hier als eine Art kaltes Pulver daher und sind durch den Wasserentzug intensiv aromatisch. Erscheint konstruiert, funktioniert jedoch wunderbar. Besonders in Kombination überzeugen die Zutaten sowohl geschmacklich als auch vom Spiel mit Texturen. Sehr gelungen.

Die nun folgenden Desserts und Petit fours sind hinsichtlich Ihrer Vielfältigkeit und Kreativität erstaunlich, geschmacklich jedoch alle eher mittelmäßig. Am besten gefallen mir noch die Maccarons. Nach der bisherigen Tour de Force ist das jedoch alles kein Beinbruch – man erwartet gar nicht noch mehr Großartiges. Im Einzelnen:

Fürst Pückler, Manjari, Erdbeere & Vanille. Zu staubig, da lob ich mir das Original.

Cheesecake & Cookies „Nitro“. Nach dem zweiten Anlauf klappte es dann auch mit der physikalischen Darbietung...

Hommage an Paul Haeberlin: Weißer Pfirsich, geeister Rieslingschaum & Pistazie. Sieht spannend aus, ist mir aber etwas zu schaumig und „künstlich“ im Geschmack.

Saure Pommes mit Kalamansi-Geschmack / YoghuretteBrausefels von der Himbeere mit BasilikumMacarons: rote Bete + Meerrettich / Mole + Passionsfrucht / grüner Apfel + weiße Schokolade. Sehr gut!

Es ist jetzt zwei Uhr morgens und nach sechs Stunden am Tisch vermutlich mein längster Restaurantbesuch, wenn auch knapp. Die Darbietung war beeindruckend und begeisterte mich vor allem wegen mehrerer Aspekte: Juan Amador verzichtet an fast keiner Stelle auf die für vollendeten Genuss meist unerlässliche klassische (französische) Basis – dies wird besonders bei den intensiven Saucen und Jus  deutlich, die hier ausnahmslos großartig sind. Diese klassische Basis kombiniert er mit einigen Elementen weiterer europäischer Küchen (Spanisch, Italienisch) und bedient sich dabei sehr subtil auch moderner Küchentechniken, ohne diese in den Vordergrund zu stellen (bis auf bei einigen wenigen Desserts). Auf diese Weise entsteht ein ganz eigener Stil, der sehr produkt- und aromenfokussiert ist und das wichtigste Ziel guten Essens dabei niemals aus den Augen verliert: wahrer Wohlgeschmack.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Amador
Chefkoch: Juan Amador
Ort: Langen, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 03.12.2010
Guide Michelin (D 2011): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8,9 (Was bedeutet das?)