Le Meurice – midi à Paris

Ich bin kein Freund davon, auf eine Gelegenheit zu warten, um etwas zu zelebrieren oder zu genießen – einen guten Wein zum Beispiel, oder eben auch ein gutes Essen. Man muss sich die Gelegenheit manchmal einfach selbst schaffen, und so fliege ich an diesem Mittwochmorgen nach Paris, um mittags im „Le Meurice“ einzukehren. Bis zum Rückflug bleiben ungefähr sechs Stunden. Zeit genug, um in Yannick Allénos Frühlingskarte auf eine ausgiebige Entdeckungsreise zu gehen.

Das Restaurant Le Meurice befindet sich im gleichnamigen Hotel an der Rue de Rivoli, direkt bei den Tuileries-Gärten in der Nähe des Louvre. Es zählt zu den ganz großen Hotels dieser Welt, und man muss nicht lange um den heißen Brei reden: Hinter diesen Toren herrscht feudaler, ausladender Luxus. Mit viel Stil, Eleganz und Tradition, versteht sich, denn wir sind in Paris und nicht in Dubai.

Im Erdgeschoss dieses Hotelpalasts befindet sich straßenseitig das Restaurant, das vor kurzem einer Verjüngungskur durch Landsmann Starck unterzogen wurde. Die Atmosphäre im Speisesaal ist aus diesem Grund trotz der pompösen Dekoration aus der Zeit von Louis XVI. nicht im Geringsten erdrückend, sondern unerwartet erfrischend. Auch das hervorragende, junge Personal ist von Beginn an souverän und sehr freundlich, ohne Allüren oder überflüssiges Getue.

Das (zweite) Glas Champagner, Bruno Paillard Millésime (€ 28), entspannt inzwischen wohltuend vom kurzen Flug und der langen Fahrt durch die morgendliche Rush-Hour.

Der Blick in die Speisekarte („Printemps“) offenbart, was ich bereits zuvor im Internet überflogen hatte. Von dem Preisniveau, das in der ganzen Welt nur in Paris so durchgesetzt wird, darf man sich beim Stöbern nicht ablenken lassen. In diesen sauren Apfel habe ich vorher schon gebissen.

Ich wähle zwei Vorspeisen, einen Fisch- und einen Fleischgang und nehme mich – nach kurzem Zögern – dem weisen Ratschlag des Kellners an, die Vorspeisen jeweils als halbe Portion zu bestellen.

Kurze Zeit später werden einige Amuse-Bouches gereicht. Eine Passionsfrucht-/Foie-Gras-Praline auf einem Stab, mit festerer Gänseleber in der Mitte, umhüllt von einem intensiven, dichten Passionsfruchtschaum ist hervorragend. Auf einer Schieferplatte befindet sich zum einen schlicht der beste Lachs, den ich je gegessen habe – unglaublich dicht, aromatisch und reichhaltig – sowie etwas Geliertes von grünem Spargel, das ebenfalls Laune macht. Ein hocharomatischer, produktfokussierter Auftakt ohne Firlefanz und mit einem absoluten Qualitätshighlight.

Es folgt eine schaumige Avocadocreme mit geliertem Gemüse darunter, kalt serviert wie ein Gazpacho. Das Ganze ist perfekt abgeschmeckt, und die Aromen sind präzise und unglaublich konzentriert. Zusätzlich vermittelt ein Hauch Kreuzkümmel etwas Orientalisches. Das ist in seiner „Einfachheit“ ziemlich gut, aber keine Offenbarung.

In der Zwischenzeit wurde der Wein serviert, ein 2004er Vougeot Blanc von der Domaine Bertanga (€ 135), eine hervorragende Empfehlung der sehr netten Sommelière Estelle Touzet, die mir damit meinen Wunsch nach einem weißen Burgunder in genau dieser Stilistik übererfüllt hat. Auch hier charmanter, kompetenter Service, der begeistert.

Es folgt die erste Vorspeise, Cassolette de langoustines à la fondue de petits pois / Crème d’oignons doux et pâtes à l’encre (halbe Portion € 43). Das Gericht ist phänomenal. Der bretonische Kaisergranat ist in Perfektion gegart und stellt mit seiner eleganteren Aromatik und einheitlicheren Textur „wie immer“ jeden Hummer in den Schatten. Doch die Erbsen begeistern mindestens genauso! Leicht süßlich, genau richtig im Biss und mit einer Frische, die einen beinahe vermuten lässt, dass sich das kleine grüne Gemüse vor Minuten noch bewegt haben muss, sind sie ein derart besonderes Genusserlebnis, dass man jedem Städter ohne eigenem Gemüsegarten schon fast eine Reise nur der Erbsen wegen hierhin ans Herz legen möchte. Die weiteren Komponenten, wie die Tintenfisch-Pasta, ermöglichen ein paar weitere „Nebenakkorde“, doch die Musik spielt da, wo Kaisergranat und Erbsen sich treffen und von einer wahrlich meisterhaften „Zwiebelcreme“ zusammengehalten werden. Schon jetzt ein unvergessliches Gericht!

Die nächste Vorspeise reizt mich bereits von den Zutaten her ungemein: Etuvée d’asperges vertes et morilles au foie gras de canard, alsogedämpfter grüner Spargel mit Morcheln und Entenleber (halbe Portion € 60 (!)).

Bereits die Optik lässt erahnen, wie harmonisch das Ensemble am Gaumen ist. Die Zutaten sind eine gewaltige Demonstration von Produktperfektionismus. Auf dem Fond des Tellers befindet sich Foie Gras in cremiger Textur, die zusammen mit einer hervorragenden Sauce auf Geflügelfondbasis eine herzhafte, süffige Harmonie mit den beinah surreal frischen Spargelspitzen und ebensolchen Morcheln eingeht. Einfach nur köstlich. Biss, Textur, Frische und Wohlgeschmack auf beeindruckendem Niveau.

In Anbetracht noch folgender Hauptgänge war die Empfehlung des Kellners, sich bisher auf halbe Portionen zu beschränken, genau richtig, was auch die wenig zimperliche Portionsgröße des kommenden Fischgerichts verdeutlicht.

Bei Saint-Pierre doucement cuit au plat / Torsades croustillantes de pommes de terre et calmar à l’encre, sauce vierge salée à l’anchovis (€ 96) präsentieren sich drei Frischeprotze von Sankt-Petersfisch-Filets in einem aromatisch ausgefeilten, höchst komplexen Gesamtarrangement. Das Gericht wäre sicherlich nicht jedermanns Liebling, doch wer, wie ich, mit mediterranen Zutaten wie einer Sauce Vierge mit Anchovis und Tintenfisch an glitzerndes Mittelmeer, Fischkutter und Tintenfische, die auf Steine geschlagen werden denkt, kann mit diesem Gericht, zumindest für kurze Zeit, in genau diese Traumwelt entfliehen. Jeder Biss gleicht einem entspannten Schritt entlang einer Marina mit türkis glitzerndem Wasser.

Das Abrufen derartiger Assoziationen ist natürlich keine Grundvoraussetzung für eine Genießbarkeit dieses prachtvollen Tellers, doch demonstriert das Gericht eindringlich, wie stark Essen auch mit Gedanken und Erinnerungen spielen kann, ohne sichtbare Analogie auf dem Teller.

Über Selbstverständlichkeiten wie höchste Qualität und perfekte Garung muss man hier (und in anderen Spitzenküchen auf diesem Niveau) kein Wort verlieren; damit fängt jedes Gericht naturgemäß erst an. Fortgeführt wird dies hier mit zu kleinen, knusprigen Schnecken verarbeiteten und mit Tintenfischtinte eingefärbten Kartoffeln, die eine angenehm krosse Textur beisteuern. Der Rest ist Mittelmeer pur – Tomate, Oliven, Olivenöl, Limone, Basilikum. Die Idee ist vergleichsweise einfach und puristisch, die Umsetzung und „Wirkung“ jedoch außergewöhnlich. Eine kleine Reise in der Reise. (Die Portionsgröße ist im Übrigen tatsächlich äußerst großzügig bemessen. Selbst hier hätte wohl eine halbe Portion Genüge getan.)

Es ist jetzt zwanzig vor drei. Das Restaurant war zwischenzeitlich ausgebucht, doch mittlerweile dünnt sich die buntgemischte Mittagsgesellschaft, die von „jungen Kreativen“, über fernöstliche Geschäftsmänner bis zum offensichtlich betagt, vermutlich betuchten Pariser Ehepaar reicht, etwas aus. Und während manch einer davon seinen Kaffee genießt, erreicht mich jetzt der Fleischgang, Onglet de veau de lait poêlée / Macaronis nourris de crème, premières asperges aux sucs de tomate (€ 96).

Das Onglet, ein Zuschnitt, der in Deutschland leider viel zu selten anzutreffen ist und kurioserweise zu den Innereien zählt, zeichnet sich im Allgemeinen durch sein besonders schmackhaftes Aroma und eine dem Filet ähnliche Zartheit aus, ohne dabei jedoch zu mager zu sein.

So kommen bei diesem Gericht alle genannten Vorzüge des Fleischs zur Geltung, doch insgesamt verblüfft der Teller mit einigen Ungereimtheiten. Es beginnt mit einer aus meiner Sicht etwas fragwürdigen Präsentation und setzt sich fort über die Wahl einiger geradezu banal eingesetzten Zutaten wie z. B. die Sahnemakkaroni. Zwar steuern gerade diese eine willkommen cremige Textur hinzu und tragen durchaus zu einem insgesamt sehr süffigen Essvergnügen bei, doch hat das Gericht bereits von der Idee zweifellos eher gehobenen Bistro-Charakter als Drei-Sterne-Niveau. Unterstrichen wird dieser Aspekt leider noch durch eine misslungene Sauce, die lediglich nach Kalbsfond schmeckt (und wahrscheinlich auch nichts Anderes ist). Die Produktqualitäten aller Ingredienzen begeistern zwar auch bei diesem Gericht – vom Fleisch bis hin zur geschmolzenen und leicht gerösteten Zwiebel –, doch Einfallsreichtum und Außergewöhnliches fehlen hier.

Was die Portionsgrößen betrifft, kann ich ohne weiteres resümieren, dass dies einige der großzügigsten Teller waren, die ich je in einem Restaurant serviert bekommen habe. Das Klischee der unter einer Silberhaube servierten Erbse könnte kaum entfernter sein.

Natürlich verlasse ich das Restaurant nicht, ohne die Patisserie auszuprobieren. Diese bietet zur Einstimmung zwei kleine Schälchen mit Citrus- bzw. Schokoladen-Kompositionen, die sehr gelungen sind und nichts vermissen lassen, sowie einige Petit-Fours mit Macarons und anderen Köstlichkeiten, die sehr schnell verputzt sind.

Das Dessert, Barre fondante chocolat coco (€ 29), von denen eine „Barre“ beim Servieren gerade im Begriff ist, umzufallen, ist gut ausgeführt, aber weit entfernt von einem Meisterwerk. Auch der ziemlich flapsig aufgebrachte Schokoladenstreifen in der Mitte zeugt nicht gerade von Detailverliebtheit. Mundend ist es dennoch und passt hervorragend zum Café.

Das Mittagessen, um dessentwillen allein ich heute hierher gereist bin, ist nun zu Ende, und ich verlasse den Esstempel schwankend, gesättigt, ärmer und reicher. Ähnlich wie auch Bernard Pacauds L’Ambroisie setzt Yannick Alléno Qualitätsmaßstäbe, die nahezu beispiellos sind. So ist das Essen im Le Meurice eine überwiegend großartige – und trotz aller Pracht auch feinfühlige – Demonstration einer produktfokussierten, hocharomatischen Küche, die keinen Trends folgt und dennoch modern ist, in königlichem Ambiente. Äußerst erlebenswert. A bientôt, Paris!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Le Meurice (→ Website)
Chef de Cuisine: Yannick Alléno
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 27.04.2011
Guide Michelin (F 2011): ***
Meine Bewertung dieses Essens 10 (Was bedeutet das?)