Arpège – Essen beim Gärtner

Es existiert für mich kaum ein spannenderes Ereignis, als ein mir noch unbekanntes Drei-Sterne-Restaurant zu besuchen. Vom Reservierungsvorgang über die Reiseplanung bis hin zum Betreten des Restaurants, Platznehmens am Tisch und dem anschließenden Essen ist dies ein facettenreiches Geschehen, das mir immer außerordentlich viel Freude bereitet, ganz gleich übrigens, ob meine Erwartungen erfüllt werden oder nicht.

An erster Stelle dieser ganzen Bemühungen steht meist der Wunsch nach dem Erleben neuer, bisher unbekannter, Ebenen (kulinarischer) Glückseligkeit. Und damit ist nicht bloß ein schmackhaftes Essen gemeint; die Glückseligkeit, um die es mir hierbei geht, beschreibt beinahe rauschartige Momente der Freude, die allein dem Essen geschuldet sind. Dabei ist es essenziell, nicht genau zu wissen, warum gerade ein bestimmtes Gericht in der Lage ist, eine solche Empfindung auszulösen. Andere Gerichte, deren Güte sich mühelos in Worte kleiden lässt, z. B. durch die Benennung der guten Zutaten und des vorbildlichen Handwerks, können zwar wunderbar sein, doch sind es selten diese, die auf dem beschriebenen Niveau begeistern können.

Ist das Restaurant auch noch in Paris und heißt der Küchenchef Alain Passard – völlig abgesehen von den einschlägigen Höchstbewertungen –, dann umgibt das gesamte Ereignis auch noch eine Art mystische Aura (und diese Zeilen schreibt ein bekennender Rationalist), die mit einer besonders hohen Erwartungshaltung einhergeht. Vorschusslorbeeren gibt es trotzdem nicht.

Auf meiner rastlosen Suche nach den eingangs beschriebenen Momenten habe ich am heutigen Freitagabend also im L’Arpège einen Tisch. Alain Passard ist insbesondere in Zusammenhang mit seiner vor zehn Jahren revolutionären und geradezu frivolen Idee ins Rampenlicht gerückt, als er entschied, rotes Fleisch von der Speisekarte zu verbannen und sich vorwiegend Gemüse zu widmen. Lamm, Fisch und Geflügel gibt’s trotzdem, und damit auch keinen Grund, ihn als Vegetarier zu verschreien.

Als ich dann um kurz vor acht an einer Straßenecke aus dem Taxi steige, sehe ich kein Restaurant weit und breit. Doch genau hier muss es sein. Eine Schreckensvision, ich sei möglicherweise an einem falschen Ort abgesetzt worden, müsse nun von irgendwoher ein neues Taxi auftreiben, um dann verschwitzt und mit großer Verspätung nur noch zwei Kleinigkeiten von der Karte bestellen können, zerplatzt wie eine Seifenblase, als ich entdecke, dass der Eingang des Restaurants direkt vor meiner Nase ist. Erleichtert trete ich ein.

Es empfängt mich ein helles Ambiete mit Art-Deco-Flair und holzvertäfelten Wänden. Riesige (echte) Gemüse dienen als Tischdekoration. Das Restaurant ist noch fast leer, und sogar der Tisch kann frei gewählt werden — eine ungewohnt angenehme Offerte in dieser Art von Restaurant.

Bei einem Glas Laurent-Perrier Rosé (€ 26) und den ersten Amuses-bouches in Form von kleinen, mit verschiedenen Gemüsepräparationen gefüllten Snacks, studiere ich die Karte. Da ich möglichst viele unterschiedliche Eindrücke der Küche Passards erhalten möchte, stand meine Wahl für das (einzige) Menü („Cuisine choisie“, € 320) ohnehin schon fest.

Die kleinen Amuses bieten konzentrierte, vegetabile Aromen, die gefallen. In Summe sind sie einander jedoch recht ähnlich und hinterlassen keine bleibenden Erinnerungen. Meine Verwunderung ist groß, als eine junge Kellnerin wenig später dieselben Amuses ein weiteres Mal auftischt, nun auch mit den vorhin noch fehlenden Erläuterungen. Als ich sie freundlich auf die Wiederholung hinweise, erwidert sie ebenfalls freundlich, aber bestimmt, „ça ne fait rien!“ („das macht nichts“). Etwas irritiert verputze ich dann auch diese zweite Portion. Auch diese ist gut, wird aber durch die Dopplung nicht besser.

Als nächstes folgt das legendäre Œuf à la coque quatre épices, ein Pflichtgang in diesem Restaurant, der eindringlich zeigt, mit wie wenigen (handelsüblichen!) Zutaten man wundervolle Geschmackserlebnisse komponieren kann. Das flüssige, präzise temperierte Eigelb wird dabei u. a. mit Sahne, Gewürzen, Sherryessig und etwas Schnittlauch zu einer Leckerei kombiniert, die lauwarm ausgelöffelt wird. Ich hatte dieses berühmte Ei bisher schon einmal bei Mark Best, einem Schüler von Passard, am anderen Ende der Welt kennen gelernt. Dort servierte er es als Hommage an seinen Lehrmeister, und es gefiel mir noch ein bisschen besser, da die Sahne einen Hauch weniger süß war. Sei es drum, auch das Original ist durchaus erlebenswert.

Mit Couleur, saveur, parfum et dessin du jardin — zu Deutsch etwa Farbe, Wohlgeschmack, Duft und ein Bild vom Garten (natürlich Passards eigener) — wird nun ein kleines Meisterwerk aufgetischt. Der Teller, der aussieht wie die Mutter aller Sommersalate (und dabei ganz ohne Salat auskommt), besteht im Wesentlichen aus vier verschiedenen Tomatensorten, dazu Schalotten, Lauch, hauchdünn geschnittener Fenchel, etwas geriebener Hartkäse und einer würzigen, klassischen Vinaigrette ohne Firlefanz, dafür aber mit einer schönen Säure. Die wiederum passt hervorragend zu dem prallen Aromabouquet der Tomaten (süß/umami). Natürlich, aromatische Tomaten weiß jeder zu schätzen – allen voran Großstädter ohne eigenen Gemüsegarten wie ich –, und einen guten Rohkostteller nicht nur der, der sich Vegetarier nennt, aber in einem Sternerestaurant? Einem Drei-Sterne-Restaurant? Ja, unbedingt! Es ist ein Gericht, das alles hat, um glücklich zu machen. Perfekt ausgewählte Zutaten, ein durch und durch harmonisches Geschmacksbild und, vor allem, diese kleine Prise Zauber, die Kindheitserinnerungen aufflammen lässt an vergangene Urlaube in mediterranen Gefilden und erfrischende Mittagessen im Schatten. Objektivierbar ist das nicht, aber erlebbar umso mehr.

Vielleicht hätte man, frei nach dem bekannten Sprichwort, hier schon aufhören sollen, doch das ist natürlich nur ein theoretisches Gedankenspiel, das man im Nachhinein betreiben kann. Zu groß ist im Hier und Jetzt die Spannung, ob und auf welche Art Passard dieses Niveau halten wird und auch in Hauptgerichten umzusetzen vermag.

Vor der eigentlichen weiteren Menüfolge, wird zunächst noch ein Zwischengang serviert, ein wunderbar duftender „Gratin“ aus roten Zwiebeln mit einigen Streifen Zitronenschale und etwas Lauchgemüse. Anstatt auf Salz und Pfeffer setzt Passard hier nun vollständig auf das unveränderte Aroma des Gemüses. Durch die mild-säuerliche und leicht süßliche Zitrone und dem würzigen Lauch als Kontrast funktioniert das ganz gut, lässt aber mit seinem Purismus zumindest ein kleines Fragezeichen zurück.

Der nächste Gang, Bouquet de homard de Chausey au miel du potager, besteht aus einer Schichtung von Hummerfleisch und hauchdünnen Rübenscheiben, wobei eine Art Vinaigrette mit Honig als Hauptkomponente das Bindeglied darstellt. Da ich Süße außer in Desserts immer etwas kritisch gegenüber stehe, sind meine ersten Gehversuche mit diesem Gericht etwas gewöhnungsbedürftig. Dies überwunden, kommt aber dann ein durchaus gelungenes Zusammenspiel zwischen dieser Süße, einer appetitanregenden Säure und den Texturen des Hummers und den knackigen Rüben zum Vorschein. Durch die dominierende Honigsüße bleibt der vollendete Genuss für mich jedoch teilweise auf der Strecke.

Mit dem nächsten Gang, einer Spezialität des Hauses, die es so und in Variationen schon seit Beginn hier gibt, treibt Passard nicht nur Produktpurismus auf die Spitze. Robe des champs „Arlequin“ à l’huile d’argan ist ein Teller mit verschiedenen Gemüsesorten (Bete „Tonda di Chioggia“, Zucchini „Zéphir“, Aubergine „Black Beauty“ u. a.), die alle auf den Punkt gegart sind und durch obenauf gestreutes Couscous sowie Arganöl zusammengehalten werden.

Während man dann an den Gemüsen knabbert, muss man spätestens hier etwas innehalten. Wo man sich in vielen Restaurants auf Spitzenniveau fragen muss, wie sich überhaupt Aufwand und Wareneinsatz bezahlt machen (und das bekanntermaßen auch häufig nicht tun), sollte hier jedem auffallen, dass das Geschäftsmodell von Passard durchaus profitabel sein sollte. Dieser Gemüseteller etwa schlägt à la carte mal eben mit 67 Euro zu Buche. Um das zu verdauen, muss man schon zweimal zusätzlich schlucken. Und um jedem Missverständnis vorzubeugen: teure Luxusprodukte erwarte ich dafür mitnichten, aber zumindest ein ausgereiftes Geschmacksbild, ein vollendetes Handwerk oder eine erkennbare Innovation, die derart horrende Preise nachvollziehbar machen könnten. Eine auf Gemüse fokussierte Küche setzen andere Köche derzeit kreativer und mit spürbar mehr Elan um, z. B. René Redzepi im Noma oder wohl auch die von mir noch zu besuchenden Pascal Barbot (Astrance) und Michael Hoffmann (Margaux) u. a.

Dass es auch anders geht – nämlich mit nachvollziehbarem Wareneinsatz, sehr guter Ausführung und einem äußerst interessanten Geschmacksensemble – zeigt Passard dann wieder mit dem Turbot de Bretagne au „Côte du Jura“, der mit einer ungewöhnlich rauchigen Sauce und Gemüse serviert wird. Qualitativ bleibt das Prachtexemplar bestimmt für lange Zeit meine Referenz in Sachen Steinbutt. Sicherlich ein Höhepunkt während dieser zeitweise etwas nachdenklich stimmenden Achterbahnfahrt.

Beim nächsten Gang, Rôtisserie „Grand Héritage“ de Louise Passard, hatte man zu Beginn des Menüs die Wahl zwischen Ente, Lamm und Kalbsbries. Meine Entscheidung fiel auf den Bries, der sich in perfekter Garung auf dem Teller wiederfindet, zusammen mit einigen Bittergemüsen und einem leider ungenießbaren, weil stark nach Rauch schmeckenden Püree von etwas, das sich mir nicht näher erschließt. Wahrer Genuss stellt sich hier nicht ein, lediglich die Hauptzutat ist hervorragend umgesetzt.

Dann folgen auch „schon“ die Fromages Bernard Antony. Auf Käse aus dieser Quelle ist eigentlich immer Verlass, so auch hier, doch gerade in diesem Restaurant hätte ich anstelle eines Käsewagens eine Vorgabe aus der Küche bevorzugt. Es wäre interessant gewesen, hier etwas Kreativität hinsichtlich passenden Gemüses oder Obstes walten zu lassen. Eine Käseauswahl, die man selber treffen muss und auch noch ganz ohne Condiments auskommt, finde ich ausgesprochen uninspiriert und unterscheidet sich überdies auch nicht zur Standardausrüstung eines beliebigen Ein-Sterne-Restaurants.

Die Desserts sind klassisch und gut, z. B. ein Mille-feuille mit einer herrlichen Bergamottecreme, aber etwas zu viel Blätterteig, sowie ein mit Beeren(?) gefülltes Soufflé wie aus dem Bilderbuch. Sehr gut ausgeführt, aber erstaunlich konträr zum bisherigen Stil. Das ist mir allerdings auch wesentlich lieber als irgendwelche forcierten Gemüsespielerein beim Dessert.

Nach dreieinhalb Stunden ist damit dann ein bewegtes, aber nur in wenigen Teilen bewegendes, Menü am Ende angelangt, das in Summe zwar „irgendwie zufriedenstellt“, mich aber trotz allem nicht als Freund gewinnen kann.

Das Einzige, das die Küche an diesem Abend wirklich auszeichnet, ist die phantastische Produktqualität. Doch das allein ist eben nicht genug, um Preise, bei denen die Rechnung zu zweit leicht in den vierstelligen Bereich rutscht, und eine Drei-Sterne-Bewertung zu rechtfertigen (wobei für letztere der Michelin herhalten muss und nicht das Restaurant). So gewinnt man viel zu häufig den Eindruck, Passard „richte nur an“, sei eher Gärtner als Koch. Trotz ein, zwei Highlights werde ich den Gedanken nicht los, er mache es sich insgesamt zu einfach. Die meisten Gerichte – gerade die Gemüsekreationen, die für Passards Küche repräsentativ sind – kann man vermutlich so oder so ähnlich zu Hause selber zubereiten, entsprechende Rohstoffe vorausgesetzt.

Die Idee, den Restaurantnamen aus der Musik zu entlehnen, bei der ein Arpeggio (frz. Arpège) nämlich einen in seine Einzeltöne aufgelösten Akkord beschreibt (wie beim Spiel auf einer Harfe), finde ich eigentlich sehr gelungen – vorausgesetzt, die einzelnen Töne (Gänge) ergeben dann auch harmonisches Ensemble (stimmiges Menü). Ein Musikschüler würde nach dem heutigen Abend wohl noch mal zum Üben nach Hause geschickt.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: L’Arpège (→ Website)
Chef de Cuisine: Alain Passard
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 15.07.2011
Guide Michelin (F 2011): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8 (Was bedeutet das?)