Sushi Amane ‒ Saitos Lehren

Jeder fängt mal ganz unten an. Shion Uino, ein junger Japaner, den man hier in New York vermutlich noch nach seinem Ausweis fragt, wenn er Sake einkauft, wirkt zum Beispiel gerade im Untergeschoss des japanischen Zwei-Sterne-Restaurants Mifune. Allerdings ist dies schon das zweite Kapitel in Uinos jungem Leben.

Angefangen hat er ganz oben, bei Sushi-Großmeister Takashi Saito in Tokio. Wer einmal bei Saito zu Gast war und sein überirdisches Sushi probiert hat, für den fängt zwangsweise ein neues Kapitel an, ob als Gast oder als Schüler.

Über acht Jahre war Uino bei seinem Meister, dessen Ruf dem talentierten Flügelmann Saitos nun bis nach New York folgt. Es gibt hier viel Konkurrenz. In kaum einer Stadt außerhalb Japans hat man derzeit so viele Möglichkeiten, in den Genuss von exzellentem, authentischem Sushi zu gelangen. Sushi Amane ‒ die Namensgebung des Restaurants hat sich mir bisher nicht erschlossen ‒ ist eine der heißesten Neueröffnungen der Stadt. Eine Reservierung war allerdings ohne große Umstände möglich.

Nach meiner Ankunft in New York an diesem Samstagmittag ist eine frühe Achtzehn-Uhr-Reservierung in einem Sushi-Restaurant genau das Richtige, um sich zu akklimatisieren.

Durch das Hauptrestaurant werde ich zusammen mit anderen Gästen eine steile Treppe nach unten geführt. Es gibt hier mehrere Räume mit regulären Tischen und Stühlen, die jedoch den gesamten Abend über unbesetzt bleiben werden. Wahrscheinlich handelt es sich um Räume für private Veranstaltungen des Hauptrestaurants.

Für einen kurzen Moment bin ich abgelenkt, mache ein Foto, drehe mich um, und alle sind verschwunden. Zwischen leeren Tischen, Wandspiegeln und dünnen Trennwänden fühle ich mich wie in einem Labyrinth. Ich stolpere in die Waschräume und muss einen Angestellten nach dem Weg fragen. Wohlbemerkt, es geht um einen Raum, der sich keine drei Meter von mir befindet.

Ein japanisches Restaurant ist eben immer nur dann authentisch, wenn man direkt davorsteht und es trotzdem nicht findet.

Als Uino-san mit dem japanischen Mise en Place beginnt ‒ Keramikgefäße an die richtigen Positionen schiebt, Messer zurechtlegt, Zutaten auspackt ‒ denke ich zunächst noch, es handelt sich um einen Gehilfen, so jung sieht der Kerl aus. Doch als er anfängt, mit dem Messer zu hantieren und Zutaten zurechtzuschneiden, weiß ich, dass die Vorstellung begonnen hat.

Ich fühle mich gut. Der überlange Tag legt sich zwar langsam wie ein Schleier über mich, doch allein der charakteristische Geruch eines Sushi-Restaurants ‒ nach hellem Holz, Soja und „appetitlicher Reinheit“ ‒ ist eine Wohltat, die jeden Flugkilometer wert ist. Meine Vorfreude auf die feinen Genüsse und auch auf die Herausforderung, die vielschichtigen subtilen Nuancen auszumachen, die dieses Handwerk auszeichnen, sind groß.

Das Menü ist mit ca. € 230 so teuer wie manch ein Drei-Sterne-Restaurant in Tokio. Das ist eine hohe Messlatte, aber es sind auch noch nicht die € 560, die man hier in New York im Masa als Minimumeinsatz auf den Tisch legen muss.

Uino-san beginnt das omakase-Menü wie sein Meister in Tokio. Es gibt zwei Stück gedämpfte Abalone (Seeohr) sowie gekochten Oktopus, dazu Wasabi, selbstverständlich frisch gerieben. Und so sehr es sich scheinbar um ein und dieselbe Eröffnung wie im März bei Saito-san handelt, trennen diese kleinen Teller Welten. Der Oktopus hier wurde z. B. so mariniert, dass er eine etwas unpassende Süße angenommen hat, zudem ist er deutlich zu kaubedürftig. Die Abalone ist sehr gut, aber ihr fehlt etwas Glanz, und auch die Schnitttechnik ist noch ausbaufähig. Wer solche Nuancen nicht kennt, für den erscheinen sie nichtig oder extravagant, doch sie sind tatsächlich leicht auszumachen. (6,9/10)

Mir fällt auch schnell auf, wie anders Uito-san in seinem kleinen Reich agiert. Während Saito von Anfang an so wirkt als wäre er eigentlich in einer ganz anderen Welt, ist der junge Japaner hier zwar ganz bei der Sache, dabei aber etwas „menschlicher“. Sein Blick schweift manchmal ab, es gibt Unregelmäßigkeiten in seinen Bewegungen, Momente des Zögerns, Korrekturen von Positionen, Asymmetrien beim Anordnen von Dingen. Es fehlt ihm (noch) die fast schon autistische Hochbegabung eines Saito-san.

Warum diese Vergleiche? Weil sie das A und O des Sushihandwerks sind. Scheinbar Perfektes muss sich mit wirklich Perfektem messen, und dann kommt noch etwas Perfekteres, und deklassiert alles Vorherige. Jeden Tag alles von vorne. Jahrelanges Reiskochen. Immer wieder. Immer wieder ein bisschen besser. Immer wieder der Vergleich zum Vortag. Jahraus, jahrein, bevor man überhaupt den Fisch berühren darf. Wie sollte man als Gast eine solche Hingabe ignorieren? Wie sollte man nicht vergleichen? Achselzuckendes Leckerfinden wäre die größte Beleidigung.

Es folgt eine Portion Sashimi eines thunfischähnlichen Fischs ‒ ich habe den Namen nicht genau verstanden ‒, der vier Tage gereift ist. Das Reifen von Fisch ist in Japan eine bewährte Methode, um dem Fisch noch mehr Umamigeschmack zu entlocken. Die Konsistenz dieses Stücks ist vergleichbar mit geräuchertem Lachs, der Geschmack weit subtiler, etwas fleischiger, geriebener Ingwer bringt einen angenehmen, frischen Kontrast zu diesem beispielhaften Snack. (8/10)

Uino-san hantiert inzwischen mit zwei kostbaren Schachteln mit Seeigelgonaden. Die eine aus Hokkaido ‒ der angesehensten Region für diese Zutat ‒, die andere aus einer ebenfalls japanischen Region, die ich leider nicht verstanden habe. Sie klingt wie „kishiyu“, aber ich habe hierzu nichts recherchieren können. Die Exemplare von dort schmecken sehr mild und erinnern mich entfernt an Haselnussöl. Der Klassiker von der Hokkaido-Halbinsel schmeckt dagegen in gewohnter Weise nach Jod, Gischt und Meeresspaziergang. Eine exzellente Produktschau, die im Westen nicht ohne Weiteres zu erleben ist. (8/10)

Weiter geht das Menü mit einem Süppchen auf Dashi-Basis, darin gegartes Muschelfleisch und obenauf hauchdünn aufgeschnittenes Perilla-Blatt (Shiso). Der Duft des herzhaften, dichten Suds und das blumige Chlorophyll-Aroma des exotischen Blatts lassen mich die Augen schließen. Wie wohltuend auch diese Hitze ist! Ich bekomme Gänsehaut und genieße diese meisterhafte Suppe wie in einer Wolke. (9/10)

Mit anderen Teilen vom Tintenfisch gefüllte Tintenfischringe kenne ich in sehr ähnlicher Darbietung ebenfalls von Saito. Das Meerestier ist hier eine Nuance zu zäh, besonders merkwürdig finde ich hier die stark angedickte Sauce, die zwar kräftigen und passenden Umamigeschmack aufweist, von ihrer Textur her jedoch artifiziell und „unjapanisch“ wirkt. Etwas frisch darüber geriebene Yuzuschale verleiht der schweren Speise ein bisschen Leichtigkeit. (6,5/10)

Als nächstes wird eine großzügige Menge Krebsfleisch (hairy crab, Chinesische Wollhandkrabbe) in seiner eigenen Karkasse serviert. Das ausgelöste, faserige Fleisch schmeckt exzellent und wurde zuvor in einer leichten Marinade mit Soja und Essig eingelegt, was dem Ganzen etwas appetitanregende Säure verleiht. Sehr exquisit und hervorragend umgesetzt. (7,5/10)

Eine sanft gegarte Makrelenart (sawara, Scomberomorus maculatus) folgt. Sie wird serviert mit einem säuerlich-herzhaften Sud und einer kühlen, kugelförmigen Zutat, die geschmacklich an Sauerkraut erinnert, vermutlich eine Art geriebener, marinierter Kohl. Das Stück Fisch ist an einigen Stellen etwas trocken, aber in Summe ist das ein qualitativ und geschmacklich attraktives Gericht. (6,9/10)

Es geht dann weiter mit der Abfolge von Nigiri-Sushi, im Einzelnen:

Glänzender Schleimkopf (kinmedai)

Seebrasse (tai)

Hering (kohada)

Uino-sans Sushi-Reis (shari) ist gekennzeichnet durch eine ungewöhnlich hohe Temperatur, eine milde Säure und hohe, kompakte Stabilität. Die Portionsgrößen sind genau richtig, Linkshändern serviert er die Stücke entsprechend gedreht, korrigiert dies jedoch hin und wieder. (Bisher alles 7/10.)

Es geht weiter mit einer Abfolge von Thunfisch-Nigiri.

Magerer Thunfisch (akami)

Mittelfetter Thunfisch (chūtoro)

Fetter Thunfisch (ōtoro)

Alle Qualitäten sind exzellent (8/10) und in unseren Breiten kaum zu finden, es existieren gleichwohl Steigerungen.

Tintenfisch folgt; der Reis ist nun aber definitiv zu warm, da wird man vermutlich nicht mehr von einem persönlichen Stil sprechen können. Wie immer ist dies aber nur eine von Dutzenden Stellschrauben einer ansonsten sehr guten Vorstellung.

Es folgt ein Stück Sushi mit gedämpftem Fisch („white fish“). (6,9/10)

Jackmakrele (aji) ist exzellent. Der Reis ist hier nun deutlich besser temperiert (handwarm). (7,5/10)

Aal, hier ist nun der Fisch ziemlich heiß, dafür aber qualitativ herausragend. (7/10)

Eine Handrolle mit mittelfettem Thunfisch schmeckt besonders ansprechend, weil auch ein zwiebelartiges Gemüse mitverarbeitet wurde.

Eine klare Suppe auf Dashi-Basis mit viel Schnittlauchgeschmack (7/10), sowie ein makelloses, dichtes Tamago (7/10) beenden ein sehr zufriedenstellendes, authentisches Sushi-Menü.

Der Facettenreichtum und die Komplexität dieser Küche sind beispiellos. Meine Faszination für Sushi und die japanische Küche im Allgemeinen bleibt nicht nur ungebrochen, sondern wächst mit jedem weiteren Mahl auf einem solchen Niveau. Shion Uino hat lange bei einem der größten Meister unserer Zeit gelernt, und doch sind die Unterschiede sehr deutlich. Der Guide Michelin vergibt im neuen Führer für New York City wenige Tage nach meinem Essen hier einen ‒ völlig angemessenen ‒ Stern, und ich freue mich schon, die Erfolge dieses jungen Meisters weiter zu verfolgen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sushi Amane (→ Website)
Chef de Cuisine: Shion Uino
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 21.10.2017
Guide Michelin (New York City 2017): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens 7,5 (Was bedeutet das?)
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