Lakeside ‒ wer hat’s erfunden?

Unternehmer Klaus-Michael Kühne hat seiner Heimatstadt ein neues Luxushotel gegönnt. Das The Fontenay ist das erste Hotel dieser Klasse seit Jahrzehnten, und es wird seine wenigen Mitbewerber in Hamburg kräftig herausfordern. Die gleichermaßen ruhige und zentrale Lage an der westlichen Außenalster ist einmalig, der Standard hochwertig und zeitgemäß, das Interieur geschmackvoll hanseatisch. Über weitere Details berichteten andere Medien bereits in aller Ausführlichkeit.

Kühne ließ schon in der frühen Planung des Baus die Botschaft in die Welt setzen, dass es eine Spitzengastronomie in dem Haus geben werde. Mit einigen deutschen Drei-Sterne-Köchen gab es offenbar weit gediehene Gespräche bezüglich eines Umzugs in die Hansestadt. Doch daraus wurde nichts. Hinter dem Herd des Lakeside genannten Restaurants steht jetzt der Schweizer Cornelius Speinle.

Speinle kann mit seinen jungen 31 Jahren bereits auf eine eindrucksvolle Vita verweisen, die neben Stationen in Drei-Sterne-Restaurants wie dem GästeHaus Klaus Erfort und The Fat Duck zuletzt das eigene Restaurant Dreizehn Sinne im Huuswurz aufführt, das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet war.

Nun ist er in Hamburg angekommen, und der Arbeitsplatz könnte deutlich unattraktiver sein. Im siebten Stock des Hotels hat man einen herrlichen Blick über die Alster ‒ zumindest, wenn es hell ist.

Das Restaurant zieht alle Register eines zeitgemäßen deutschen Gourmetrestaurants: eine Farbpalette in Mausgrau, Aschgrau, Steingrau, gebrochenem Weiß und Cremetönen, ein Geräusche verschluckender Teppich und schummrig gedimmtes, etwas kühles Licht.

Aperitifsnacks folgen recht zügig. Ein Kubus mit Joghurtkrokant, roter Bete und Kaviar ist mit seiner hauchdünnen „Knusprigkeit“ und einem appetitanregenden Balanceakt zwischen Süße und Säure exzellent (8/10); ein Wachtelei mit Selleriepüree, Trüffel (welcher genau, wird nicht erwähnt) und angenehm salziger Hühnerhaut reiht sich in die Pläsierchen zum Start in den Abend ein (7,5/10).

Die Speisekarte schlägt eine Auswahl von fünf oder acht Gängen zu € 132 bzw. € 165 vor. Man kann das Menü durch die Auswahl von Miyazaki-Rind im Hauptgang noch um 40 Euro aufwerten. Auf das Upselling lasse ich mich der raren Zutat wegen ein und entscheide mich für insgesamt sechs Gänge.

Noch vor dem ersten Gang folgen weitere Amuse-Bouches. Eine Sphäre mit wachsweicher Hülle, dekoriert mit Parmesan und Basilikum, gibt am Gaumen eine kühle Tomatenconsommé frei, die ruhig noch intensiver schmecken könnte (6,9/10); eine Art Pomme Soufflée mit rohem Heilbutt und Erbsencreme ist akkurat gefertigt und erinnert, wie angekündigt, an Fish & Chips in eleganterer Form (7/10).

Ein Miniatur-Speckknödel mit Zwiebel und Käse ist trotz seines geringen Volumens recht deftig (6,9/10); und eine wie ein Brötchen zerteilte und mit Meerrettichcreme gefüllte Baiser-Sphäre mit Rotkohl gewinnt nicht nur den Preis für die vermutlich leichteste Speise, die ich je probiert habe ‒ der Snack scheint nicht mal ein Gramm zu wiegen ‒, sondern überrascht am Gaumen mit einem intensiven, authentischen Geschmack der angekündigten Zutaten (7/10).

Das ist zweifellos alles sehr gut umsetzt, allerdings erscheint mir dieser Prolog streckenweise wie ein Déjà-vu zu Beginn der Zeiten als Texturgeber, Quetschflaschen und Wasserbäder mit Kalziumchlorid die Küchen dieser Welt eroberten.

Die Weinkarte ist sehr ansprechend, vor allem, weil sie keinen Trends folgt. Sommelière Stefanie Hehn, die aus dem Drei-Sterne-Restaurant Überfahrt Christian Jürgens vom Tegernsee rekrutiert wurde, hat eine Karte mit internationalem Charakter geschaffen, die keine großen Namen scheut, Weine aus Frankreich und Kalifornien souverän in den Mittelpunkt rückt, fair kalkuliert und auch einige reifere Jahrgänge berücksichtigt. Auch spannend sind die thematischen „Flights“, eine Art Weinreise zu einem bestimmten Thema.

Nach offenem Champagner zu Beginn steige ich um auf einen 2005er Pinot Noir von Hamilton Russel aus Südafrika (€ 105), ein spannender Tropfen, der mich aromatisch interessanterweise an einen Bordeaux erinnert.

Ein weiteres Amuse-Bouche hält die Küche noch bereit. Auf einer Creme von Gänseleber findet man eine Art Gebäckschicht, darauf großzügig gehobelten schwarzen Trüffel, Enoki-Pilze und Kräuter. Das Geschmacksbild ist absolut stimmig, die süßlich-herzhafte, lauwarme Gänselebercreme passt hervorragend zu den erdigen Aromen der Pilze. Das ist ausgezeichnet, vor allem zusammen mit dem Stück knusprig gerösteter, warmer Brioche. (8,5/10)

Warmes Brot und gute Butter (Beurre Bordier) werden jetzt auch noch gereicht, und damit folgt der erste Gang des Menüs erst nach einer ganzen Stunde am Tisch und sieben, nicht immer ganz leichten, Speisen ‒ etwas zu lang.

Der erste offizielle Gang ist ein Gericht mit roher „White Tiger“-Garnele aus einer Zucht in Kiel. Rohe Garnelen zählen normalerweise wegen ihrer schleimigen Textur nicht zu meinen Lieblingszutaten, doch in diesem Gericht gelingt es, die gewöhnungsbedürftige Textur durch ansprechende Mitspieler auszubalancieren. Auf einer Schicht von dünnem, leicht geflämmten Lardo findet man Austernblätter, Kaviar und geeiste „Austernperlen“, eine Kombination, die Jod, Salz, Frische und Kühle ins Spiel bringt. Ein Puder („Staub“) von verkohltem Lauch und Garnelenköpfen fügt geschmackliche Tiefe hinzu. Obwohl das Produkt, das im Mittelpunkt steht, kein Weltklasseprodukt ist, ist die Komposition an sich hervorragend. (8/10)

Kaisergranat von den Färöern ist dann ein ganz exzellentes Produkt und kommt mit dem typischen nussig-süßen Geschmack auf den Teller. Eine für mich nicht ganz identifizierbare schaumige Creme schmeck dazu etwas ungewöhnlich, und ein grünes Arrangement mit Pak Choi, einigen geschmacklich ansprechenden Blüten und weiteren pflanzlichen Elementen ist gut kombiniert, aber mir fehlt bei dem Gericht ein „süffiger“ Zusammenhang, den das sehr gute Hauptprodukt verdient hätte. Separat dazu gibt es noch ein Schälchen mit zerhacktem Blumenkohl, Chorizo und einem grünen Jalapeno-Schaum ‒ die bisher wohlschmeckendste Speise des Abends! Sie begeistert genau durch den zusammenhängenden Wohlgeschmack, den ich beim Hauptteller vermisse. Dieses Schälchen hätte eigentlich nur um den Kaisergranat erweitert werden müssen, um als großartiges Gericht dazustehen. (7,5/10)

Es folgt ein Stück Steinbutt, ansprechend goldbraun gebraten und mit optisch genauso attraktiven Gemüsen wie Artischocke, Champignons und Zwiebeln serviert. Diese Zutaten haben das Potenzial für ein Gericht auf höchstem kulinarischen Niveau, doch die Probleme dieses Tellers kommen leider schnell zum Vorschein. Der Steinbutt ist übergart und nicht mehr saftig. Ein merkwürdiges Gel, welches das Stück Fisch bedeckt, ist dazu ähnlich entbehrlich wie die weiteren creme- und sauceartigen Experimente auf dem Teller. Auch eine Walnussvinaigrette mit Verjus zu den Gemüsen ist zu sparsam dosiert. Ähnlich wie beim Kaisergranat sind hier Zutaten voneinander getrennt, die eigentlich zusammengehören. Dieser Teller schreit geradezu nach einer klassischen Sauce (ohne Geliermittel).

Separat dazu gibt es noch die frittierten Bäckchen des Fischs, dessen Gräten hier als Griff fungieren, mit dem man sie in eine modern interpretierte Hollandaise mit erneut feingehobelten Trüffeln zu stippen. Das sind alles gute Ideen, aber bei der Umsetzung dieses Gerichts wurde das Potenzial leider nicht ausgeschöpft. (6,9/10)

Das nächste Gericht wurde außerhalb der Karte angeboten und beinhaltet eine Rotbarbe mit knusprigen Schuppen, fermentiertem schwarzem Knoblauch und Safran und ist in mehreren Dimensionen problembehaftet.

Rotbarbe ist in ihrer besten Qualität sehr aromatisch und verfügt über eine charakteristische, manchmal wachsweiche Textur. Dieses Filetstück ist dagegen etwas zäh. Die knusprigen Schuppen ‒ eine matsukasa yaki genannte Methode aus Japan ‒ sind hier ebenfalls etwas zu hart, sodass man beim Hinunterschlucken auf scharfe Kanten aufpassen muss. Hinzu kommt erneut eine Sauce, bei der weniger auf klassisches Handwerk, stattdessen umso mehr auf klebrige und magenfüllende Stabilisatoren gesetzt wird und damit einen elegant-schaumigen Genuss sowie präzise ausbalanciertes Safranaroma vermissen lässt. (6,5/10)

Die hier fehlenden positiven Eigenschaften zeichnet dieses Gericht nämlich normalerweise aus, wie man u. a. bei meinem Blogger-Kollegen Andy Hayler nachlesen kann (hier ein Foto des Gerichts, und hier noch eines aus einer anderen Quelle). Der war aber nicht im Hamburger Lakeside als er dieses Gericht genoss, sondern im Drei-Sterne-Restaurant Cheval Blanc in Basel im Jahr 2016. Ich erinnerte mich zufälligerweise noch an seine Bilder und das Gericht. Man könnte so eine Kopie natürlich als Hommage verstehen, doch das setzt voraus, dass der Urheber, in diesem Fall offenbar Peter Knogl, hätte erwähnt werden müssen, was nicht der Fall war. Natürlich haben Zutaten an sich keinen Urheber, aber bei einem in allen kompositorischen Details identisches kreatives Gericht wäre es nur schlüssig, von einem Plagiat zu sprechen. Schade, dass das Ergebnis dann nicht genauso exzellent ausfällt.

Mit Miyazaki-Rind geht es weiter. Es hat nicht den höchsten Fettgehalt, ist aber schon naturgemäß von sehr hoher Qualität. Den mit diesem Fleisch oft verbundenen Effekt, dass es am Gaumen schmilzt, erlebt man hier allerdings nicht. Zu dem Fleisch gibt es eine Ponzu-Sauce, chinesischen Brokkoli (Kai-lan), Auberginenpüree, Lauchöl und einige (recht trockene) Stücke Frühlingszwiebel. Eine gelartige Membran, rechts auf dem Teller, kann ich nicht genau identifizieren. Geschmacklich passt das aber alles gut zusammen. Das Fleisch steht hier eindeutig im Mittelpunkt des Genusserlebnisses. Dass man hierfür einen so hohen Aufpreis zahlen muss, ist jedoch betrüblich. (7/10)

Der Käsegang folgt in Form von sphärisiertem Reblochon vom Affineur Bernard Antony, dazu gibt es hauchdünne Apfelspalten und getrocknete Weintrauben. So seltsam die Idee klingt, die exzellenten Käse von Antony so stark zu verfremden, ist das in Summe doch sehr gelungen. Zusammen mit einem sehr guten, selbstgebackenen Früchtebrot, ist das ein intelligent zusammengestellter, hochwertiger und vergleichsweise leichter Käsegenuss. (7/10)

Eines meiner absoluten Lieblingsdesserts folgt als Einstimmung zum süßen Teil. Baba au Rhum, hier in einer deutlich anders interpretierten Variante, schmeckt sehr gut, aber die Sauce, in der das Gebäckstück liegt sowie auch das Gebäck selbst, enthalten nur wenig Rum, was mich die „karibische Aura“ dieses Klassikers etwas vermissen lässt. Sehr gut, dennoch. (7/10)

Vier Pralinen folgen noch. Bis auf eine recht neutral schmeckende Kreation mit Puffreis und Himbeere (6/10), ist bei den anderen Petitessen eine besser als die nächste. Eine Praline mit Passionsfrucht und Schokolade ist sehr gut, obwohl die etwas Passionsfrucht vermissen lässt (7/10); ein wie ein Stein aussehendes Milchspeiseeis mit hauchdünner süßer Glasur ist exzellent (7,5/10), und ein Röllchen mit Muscovadozucker, Schokolade und Haselnuss scheut sich nicht, einfach nur ein (vielleicht etwas zu) süßes, leicht knuspriges Dessertvergnügen zu sein (8/10).

Das Talent und die Ambitionen von Speinle und seinem Team stehen außer Frage. Ein paar Flüchtigkeitsfehler sind in der Startphase auch nicht der Rede wert. Wenn Herr Kühne in seinem Hotel jedoch kulinarisches Spitzenniveau installieren möchte, dann muss er seiner Küchenbrigade bezüglich des Wareneinkaufs einen Blankoscheck ausstellen. Produkte auf Weltklasseniveau sucht man hier nämlich vergebens. Doch nur mit diesen wird das Küchenteam seine Möglichkeiten voll ausschöpfen können. Kühne selbst muss das entscheiden, er hat das Ruder in der Hand.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Lakeside (→ Website)
Chef de Cuisine: Cornelius Speinle
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 22.03.2018
Guide Michelin: noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens 7 (Was bedeutet das?)
Diskussion bei Facebook: hier klicken