Frantzén ‒ fast Manhattan

Es gibt einen Grund dafür, dass ich mit dem Bericht über meinen zweiten Besuch im Frantzén so lange gewartet habe, dass ich ihn mir fast sparen könnte. Ich kenne diesen Grund nicht. Ich kann aber Vermutungen anstellen.

Um es gleich vorweg zu nehmen: das Frantzén ist nach wie vor eines der spektakulärsten Restaurants der Welt. Es ist jeden der drei Sterne wert, jede vorderste Platzierung in jeder Rangliste, jedes überschwängliche Lob. Wer bisher, sagen wir, nur in ein paar deutschen Sterne-Restaurants Erfahrungen gesammelt hat und dann zum ersten Mal ins Stockholmer Frantzén eintritt, wird schon im Eingangsbereich, in dem gerade Rehrücken in verglasten Kühlschränken abhängen, begreifen, dass Spitzengastronomie auch noch etwas anderes sein kann als ein schöner Abend in gediegenem Ambiente mit aufwändig dekorierten Tellern.

Als ich nun das zweite Mal im Frantzén mit dem Fahrstuhl ins Obergeschoss fahre und dort in einer wohnzimmerartigen Lounge fabelhafte Amuse-bouches verkoste, ist mir natürlich schon bekannt, was hier in den kommenden Stunden passieren wird. Mir ist es irgendwie zu bekannt, obwohl ich erst einmal zuvor hier gewesen bin. Ein solches Vorwissen habe ich natürlich in vielen Restaurants, die ich wiederbesuche, doch hier ist es anders. Die Abläufe sind choreografierter, etwas theatralischer, ein bisschen mehr auf etwas Einmaliges ausgelegt als auf etwas, das man häufig wiedererleben müsste. Ganz im Gegensatz zu ‒ um auf dem Niveau zu bleiben ‒ einem Besuch im Chef’s Table at Brooklyn Fare, in dem ich mühelos wöchentlich zu Gast sein könnte und diese Situation jeden Tag (!), seitdem ich dort das erste Mal zu Gast war, schmerzlich vermisse. Das Wissen um César Ramirez’ Restaurant in New York hat mich öfter traurig als glücklich gemacht, was eines seiner größten Erfolgsgeheimnisse ist.

Mein Blick schweift zurück auf die Amuse-bouches. Ein Weintrauben-Macaron mit roter Bete, Foie Gras und Hibsicus (9/10) und ein an die schwedische Spezialität råraka angelehntes Röllchen mit frittierten Kartoffelfäden, Felchenrogen, Dill und roter Zwiebel (9/10) leiten den Abend auf bekannt exzellente Weise ein.

Eine Tartelette mit Blumenkohlcreme, Aal, Lauch und Gurke ‒ alles ganz präzise herauszuschmecken ‒ begeistert gleichermaßen (9/10), bevor ein abwechselnd aus im Kreis geschichteten, dünnen runden Scheiben konservierten Trüffels (erdig, harzig) und eingelegten Selleries (frisch, pikant) zusammen mit Arganöl (nussig), Muskatnuss (feurig) und schwedischem Ahornsirup noch mal einen draufsetzt und neben einem ohnehin dauerhaft präsenten Wow-Faktor noch mal eine ordentliche Portion Oh-mein-Gott-ist-das-gut hinzufügt (10/10). Leider ohne Foto.

Also alles beim Alten.

Später am Tresen ‒ nach wie vor einer der eindrucksvollsten Orte, um ein Essen zu genießen ‒ beginnt das Menü (ca. € 300) mit einer Komposition von Jakobsmuscheln.

Diese sind in dünne Scheiben geschnitten, dazu gibt es Röschen von rosa Rettich, Schnittlauch und eine transparente „Vinaigrette“ mit Tomatenwasser und Traubensaft. Weitere Zutaten wie japanischer Ingwer, Yuzusalz und fermentierte Sardelle werden noch erwähnt, sind aber nicht unmittelbar zu entdecken. In Summe ist das ein sehr stimmiges Gericht ‒ säurebetont und floral ‒, welches die kritische Zutat Jakobsmuschel geschmacklich strahlen lässt. (8,5/10)

Es geht weiter mit dem fast schon legendären, mit Koshihikari-Reis knusprig frittiertem Kaisergranat, den man, Bissen für Bissen und mit der Hand, in einen Dip mit geklärter Butter tunkt. Die Qualität des Krustentiers ist, wie beim letzten Mal, absolutes Spitzenniveau. Saftig, nussig, fleischig, knusprig, in Summe ein puristischer und doch handwerklich raffiniert perfektionierter Hochgenuss. (10/10)

Küchenchef Björn Frantzén persönlich serviert den nächsten Gang. Es gibt Chawanmushi mit „gereifter Schweinebrühe“ und einer üppigen Portion Kaviar. Während kühler Kaviar und warmer Eierstich einen kurzweiligen Temperaturkontrast bieten, bauen die verschiedenen herzhaften Schichten des Gerichts geschmacklich perfekt aufeinander auf. Der eher milde Eierstich wird von der geschmacksintensiven Brühe aromatisiert, während der Kaviar „von oben“ alles salzt. Ein absolutes Wohlfühlgericht. (9/10)

Nördlicher Schnapper dekoriert den nächsten Teller, der, wie alle Gerichte hier, nach meiner Lieblingsfaçon angerichtet ist. Was will man auch mehr außer schöner Keramik, darin eine Zutat allerhöchster Güte und einem in Summe pikanten, buttrigen Wohlgeschmack? Letzterer kommt durch eine Beurre blanc zustande, die unter anderem mit Seeigel, Sanddornöl und Gochugaru, einem koreanischen Chiligewürz, zubereitet wurde. Die gehaltvolle Sauce bietet dadurch jodige, fruchtige und pikante Geschmacksspitzen, zwischen denen sich der üppig portionierte Fisch jedoch gut durchsetzen kann. Knusprige Fischschuppen, Fingerlimette und einige kleine Kapern komplettieren das mutig gewürzte Gericht auf Spitzenniveau. (9/10)

Zum Wein ist anzumerken, dass die Weinbegleitung (€ 180) auch bei diesem Besuch eine exzellente Wahl ist. Ich bin bekanntlich kein Freund von pairings, aber wenn man fernab von „Grauburgunder & Co.“ speist, geht oft wenig schief. Überdies ist die Weinkarte selbst für schwedische Verhältnisse maßlos überteuert. Bei der Weinbegleitung tischt man mitunter große Namen auf, was mir persönlich lieber ist als der nächste Geheimtipp ‒ wenngleich auch im Frantzén hin und wieder mir Unbekanntes kredenzt wird. Ich bin bisher auf jeden Fall mit einem 2015er Corton-Charlemagne von Vincent Girardin, einem 2013er Tokaji Furmint sec von Királyudvar und einem Bourgogne von der Domaine Leroy (Jahrgang nicht notiert), mehr als zufrieden.

Es geht weiter mit einer dicken Tranche aus einem Filet von Seeteufel. Wie bei den meisten Fischen im Frantzén, wurde auch hier eine spezielle Reifemethode angewandt, die dem Fleisch eine veränderte Textur und einen intensiveren, aber nicht „fischigeren“, Geschmack verleiht. Das steht dem ohnehin schon qualitativ herausragenden Fisch dieses Tellers sehr gut, immerhin kann Seeteufel auch in guter Qualität immer etwas wässrig und gummiartig sein ‒ keine Spur davon bei diesem optimal und gleichmäßig gegrillten Stück. Der Fisch kommt in einem Sud aus fermentierten Pilzen, der intensiv nach Wald und Kräutern duftet, aber grenzwertig salzig ist. Das Gericht besticht dabei durch viel Umami und vermutlich meine neue Referenzqualität für Seeteufel. (8,5/10)

Eine Art „Zwiebelsuppe“ folgt, wenngleich diese Assoziation etwas weithergeholt ist. Es handelt sich beim nächsten Gericht um eine teils flüssige, teils cremige Komposition um die Zutaten Zwiebel, Süßholz und Mandel. Mit dem Löffel nimmt man bspw. ein Püree von karamellisierten Zwiebeln auf, dazu etwas Mandelschaum, Mandelöl und eine Spur Süßholzsahne. Das Gericht erinnert mich geschmacklich (aber nicht konzeptionell) an eine vergleichbar grandiose Zwiebelkreation aus dem ABaC in Barcelona. Die Süße und die Röstaromen der Zwiebel sind schon reizvoll genug, ergeben aber mit den anderen Komponenten eine süffige, geschmacklich sehr harmonische Speise, bei der man eigentlich nur ungläubig mit dem Kopf schütteln kann. (10/10)

Zu dem Toast „grande tradition 2008“ kann ich ‒ auch bezüglich besserer Fotos ‒ eigentlich nur auf meinen vorherigen Bericht verweisen. Das am Platz fertig gestellte Stück Brot mit Parmesan-Mayonnaise, Balsamico tradizionale und einer unvernünftig großen Menge frisch gehobelter schwarzer Périgord-Trüffeln bleibt einer der ganz großen kulinarischen Glücksmomente. (10/10)

Auch den nächsten Gang stellt einer der Köche am Platz fertig. Es gibt Rehrücken, offensichtlich perfekt gegart, d. h. nicht zu blutig, dennoch saftig, leicht rosa und zart. Der Clou an diesem Gericht ist die Kombination mit den anderen Komponenten: auf das Fleisch wird eine dicke Scheibe scharf angebratener Foie Gras platziert ‒ „Rossini“-Stil, sozusagen ‒, nur um das naturgemäß eher magere Wild mit einer zusätzlichen, sehr zuträglichen Portion Fett zu versorgen. Das ganze Arrangement thront auf einem Kürbispüree, das mit XO-Sauce verfeinert und verschärft wurde. Ein mit karamellisierter Orange aromatisierter Jus verleiht dem Gericht eine „warme“, fast weihnachtliche Aura. Der Mut zu Schärfe, die Bekenntnis zu Fett als Geschmacksträger, die kompromisslose Produktqualität und das gewissenhafte Handwerk, das sogar noch in der beigemengten, hausgemachten XO-Sauce auf sich aufmerksam macht, all das ist sensationell. (10/10)

Im Glas ist inzwischen ein 2015er Pinot Noir „Freestone“ vom kalifornischen Weingut Occidental, das von Weinlegende Steven Kistler gegründet wurde. Gefällt!

Weiter geht das inzwischen ganz oben angelangte Menü mit Wachtel. Diese wurde über offenem Feuer gegrillt, der ganze Teller duftet nach Feuer, Thymian und einer üppigen Herzhaftigkeit, die den Mund wässrig macht. Ursächlich dafür sind weitere Zutaten wie Senfkörner, Kerbel, eingelegte Blaubeeren, Trompetenpfifferlinge und fermentierter Pfeffer. Die Wachtel selbst ist großartig. Das Fleisch, fest und dennoch zart, löst sich leicht vom Knochen der Keule, ist saftig, geschmacksintensiv und perfekt gegart ‒ nicht blutig. Die weiteren Zutaten ergeben ein sehr intensives, fast grenzüberschreitendes Geschmacksbild. Es gibt viel Salz, viele Röstnoten, viel Rauch und überhaupt sehr viel von allem. Trotz seiner Intensität ist nichts überdimensioniert, aber maximal ausgereizt. An der Grenze zu unvergesslich. (9/10)

Das Dessert hört auf Nordic Sundae und bezeichnet eine Kombination aus „geräucherter Eiscreme“, Ingwergelee, getrocknetem Eigelb, Dattelsirup und Margaritenblüten. Am Gaumen stellt sich hier eine wahre Geschmacksexplosion ein, mit einer interessanten Spannung zwischen floraler Eleganz der Blüten und einer Art Hustensaftgeschmack. Das ist teils kurios, teil grandios, aber durch diese Diskrepanz auch ein bisschen schwierig, ganz ins Herz zu schließen. (7,5/10)

Wenig später ‒ wieder in der wohnzimmerartigen Lounge angekommen ‒ gibt es noch einen „Gaumenreiniger“ in Form von einem köstlich-cremigen Marshmallow-Eis mit angenehm säuerlichem Granité mit Limette und Eisenkraut (8/10), sowie als Abschluss in rosenform gebrachte Meringue mit Himbeersorbet und Szechuan-Pfeffer ‒ traumhaft, aber einen Hauch weniger bewegend als eine ähnliche Kreation bei meinem vorherigen Besuch (9/10).

Einige makellose Petit-fours besiegeln dann endgültig das Essen, das zweifellos zu den besten des Jahres zählt. Doch ganz so gefesselt wie beim ersten Mal hat mich das Erlebnis nicht. Die perfekt umgesetzte Choreografie des Abends ist gleichermaßen beeindruckend wie repetitiv, wenn man sie ein zweites Mal erlebt, und das Essen hatte an wenigen Stellen ein kleines Aber. Doch das ist lediglich eine persönliche Empfindung, mein eigener schmaler Grat zwischen einem kulinarisch vollkommenen Essen (9/10) und einem ebenfalls kulinarisch vollkommenen Essen, das ich jeden Tag vermisse (10/10). Das Frantzén vermisse ich am nächsten Tag nicht. Aber wie komme ich jetzt bloß am schnellsten nach Manhattan?

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Frantzén (→ Website)
Chef de Cuisine: Björn Frantzén
Ort: Stockholm, Schweden
Datum dieses Besuchs: 16.02.2019
Guide Michelin (Nordic Countries 2018): ***
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