Gaon ‒ unerforschte Landschaft

Als ich aus dem Taxi steige, bleibt mir noch reichlich Zeit. Die Fahrt von meinem Hotel weiter im Norden der Stadt und dem Stadtteil Gangnam-gu ist, wie ich schon herausgefunden habe, kaum berechenbar und kann zwischen fünfzehn und neunzig Minuten dauern. Gerade ging es etwas schneller.

Ich ziehe also noch ein bisschen um die Häuser und genieße die Vorfreude auf ein Essen, bezüglich dessen sich mein Wissen weitestgehend auf viele Unbekannte beschränkt. Dabei ist ein Besuch im dreifach besternten Gaon einer meiner wesentlichen Motivationen, diese Reise nach Seoul überhaupt angetreten zu haben. Es wäre daher wünschenswert, lohnte sich die Ausbeute.

Das Gaon befindet sich in einem um diese Uhrzeit bereits geschlossenen Museum, dem Horim Art Center. Den Eingang zu finden, über den man das Restaurant erreicht, ist zwar nicht so herausfordernd wie es bspw. in Japan oft der Fall ist, enthält aber mindestens einen Irrweg. Ein Kuriosum ist auch, dass das Restaurant von einem Keramikhersteller betrieben wird, der KwangJuYo-Gruppe.

Erst vor kurzem hat das Restaurant eine Renovierung erfahren. Zuvor gab es hier ausschließlich private Speiseräume, in denen jede Tischgesellschaft individuell bewirtet wurde. Inzwischen speist man für gewöhnlich in einem regulären Speisesaal, der lediglich vier Tische für zwei bis vier Personen beinhaltet. Kaum zu glauben, dass sich eine solche Unternehmung lohnt.

Der fensterlose Raum ist sehr grafisch eingerichtet, mit papierbeschichteten Wänden, die nach einer unfertigen, aber präzisen Bastelarbeit aussehen, und einer Art Mobile als Raumtrenner. Das ist sympathisch unprätentiös und doch elegant und gemütlich.

Das Personal lässt in Bezug auf Höflichkeit keine Wünsche offen. Englisch wird auch gesprochen, aber der koreanische Akzent bietet die eine oder andere Herausforderung. Aus der übersichtlichen  Weinkarte mit dem Fokus auf Frankreich, ein bisschen Italien und Einzelnem aus dem Rest der Welt wähle ich zum Start des Abends eine Flasche 2017er Chablis 1er Cru „Beauregard“ von der Domaine Pattes Loup, den mir die Sommelière als Ersatz für einen anderen, nicht mehr vorhandenen Chablis vorschlägt. Mit ca. € 190 ist der Wein, wie ich erst viel später feststelle, leider maßlos überteuert, doch jetzt steht erst einmal der Abend vor mir.

Das einzig verfügbare Menü („unexplored territory“, ca. € 217) liegt bereits in Textform links vom edlen Platzteller und listet zehn Gänge auf, die im Groben nach der Zubereitungsart (kalt, geschmort, gedämpft, gegrillt usw.) unterteilt sind. Erst darunter findet man die jeweiligen Zutaten. Während ich noch versuche, eine geschmackliche Idee der Speisen zu erlangen, wird ein giftgrünes Getränk serviert. Es ist ein alkoholfreier Drink aus Petersilie, Alge, Zitrone und Apfel. Durch die Petersilie schmeckt das angenehm erdig, dennoch frisch, unerwartet gut (7/10).

Das Getränk ist bereits Teil des ersten Akts „five flavors of nature“, der anschließend mit einer Feige und einer Sauce aus Yam und Klettenwurzel fortgesetzt wird. Die Frucht ist weich und aromatisch, die Sauce floral, elegant und überraschend. (7,5/10)

Es folgen zwei Fingersnacks. Ein Röllchen, bei dem es ausschließlich um Champignon geht ‒ belegt mit hauchdünnen Champignonscheiben, gefüllt mit einer leicht pikanten Champignonfarce, dazu eine Creme und Champignon-Öl ‒ begeistert durch eine vielschichtige, waldige Geschmackswelt, die durch die fragilen Komponenten besonders leicht wirkt (8,9/10). Der zweite Snack beinhaltet ein zylinderförmiges Stück eingelegte Aubergine, darauf eine Zubereitung mit zwei Tage in einer scharfen, geschmacklich komplexen Sauce marinierten Garnelen, was zu einem Genusserlebnis seltenster Güte führt. Eine elegante, aber demonstrative Schärfe untermalt blumige, geheimnisvolle Aromen, Wärme und süffigen Wohlgeschmack. Unvergesslich gut (10/10).

Die letzte Kreation dieses schon äußerst ergiebigen Auftakts präsentiert sich in Form einer cremigen Suppe, in der man jeweils ein größeres Stück erdig-saftige Taro-Knolle, ultrazarten Hühnchens und Shiitakepilzes findet; Abschnitte vom Perillablatt kontrastieren das ätherische, leicht bittere und äußerst ansprechende Gericht. (8/10)

Der nächste Gang ist eine kalte Speise mit Garnele, die mit kleinen Stücken Birne, Gurke und Tomate angerichtet sind. Die einzelnen Zutaten sind so aromatisch, dass selbst dieser kalte Teller einen einnehmenden Duft nach Gurke und blumiger Zitrusfrische verströmt, letztere von einem Yuzu-Dressing stammend. Während die (bei Niedrigtemperatur gegarten) Garnelen zwar gut, aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten bleiben, ist es diese ganz besondere Geschmackswelt, die diesen unscheinbaren Snack zu einem außergewöhnlichen Genusserlebnis macht. Ganz besonders prägnant sind das intensive Aroma von Gurke und die unnachahmliche, florale Zitrusnote von frischer Yuzu. (8,5/10)

Die Exkursion auf dem Terrain dieser spannenden Küche geht weiter mit Abalone. Diese ist mundgerechte Häppchen geschnitten und durch langes Dämpfen besonders zart und aromatisch. Es ist, wie ich beim ersten Bissen schon feststelle, eine der besten, die ich je probiert habe ‒ auf einem Niveau wie Exemplare, die man bei Sushi Saito erleben kann, hier sogar noch etwas zarter. Hauchdünne Julienne von rohem Matsutake findet man obenauf. Der edle Pilz duftet ein bisschen so wie eine Kombination aus frisch aufgeschnittenem Holzstamm und altem Dachboden. Dieser „gemütliche“, warme Duft vermengt sich hier mit dem nur eine Meeresbrise andeutenden Aroma einer Algensauce zu einem appetitlichen Wohlgeruch. Am Gaumen bestätigt sich das Olfaktorische, das Gericht schmeckt mal leicht erdig, mal frisch nach Meer, dabei immer auch ein bisschen „muffig“, aber auf positive Weise, wie ein sehr gereifter, komplexer Wein. Fremdartig und abenteuerlich gut. (9/10)

Weiter geht es in geschmacklicher Hinsicht auf ähnlich Pfaden, aber mit völlig anderen Zutaten. Stücke von der Seegurke, eine eher seltsame Zutat, sind beim folgenden Gericht mit einer Garnelenfarce gefüllt. Das Duo aus Meerestieren wird in einem herzhaft duftenden Hühnerjus serviert, zwei Früchte eines Nadelbaums dekorieren die schlichte Komposition. Die Seegurke schmeckt naturgemäß sehr neutral, ist eher schmeichelhafter Texturgeber als markante Zutat, ergibt aber mit den Garnelen ein sehr schmackhaftes Ensemble. Es steht zwar prawns (Garnelen) auf der Karte, dennoch würde ich hier wegen der mürben Textur und des nussigen Geschmacks eher auf ein Krebstier wie Kaisergranat tippen. Der Hühnersud ist geschmacksintensiv und ein passender Begleiter dieses angenehm heißen und erneut sehr präzise zubereiteten Gerichts mit erlesenen Produkten. (8,9/10)

Der nächste Gang beinhaltet einen Haupt- und zwei Satellitenteller in einem auf den ersten Blick japanisch anmutenden Arrangement. Das moderne Geschirr ‒ und überhaupt die Präsenz eines Löffels ‒ deuten jedoch unmissverständlich nach Südkorea. In der größeren Schüssel findet das eigentliche Schauspiel statt. Es gibt Reis mit gedämpfter Blaukrabbe, Tintenfisch, Seeigel und einer papierartigen (nicht pappigen!) Algenzubereitung. Bereits dieses heiße Schälchen, das durch den Seeigel im positivsten Sinn nach Hafenbecken und Tiefsee duftet, ist eine geschmackliche Wucht. Der Reis wurde in einem Krebsfond gekocht und schmeckt zusammen mit dem üppig portionierten, feinen Krebsfleisch leicht süßlich und kraftvoll. Im Gegensatz bspw. zu japanischen Gerichten ‒ weil diese Analogie geschichtlich und geografisch eben nicht allzu weit hergeholt ist ‒ enthalten die koreanischen Gerichte oft auch Schärfe. Keine plakative, sondern eine auf elegante Art präsente Schärfe. So auch dieses Schälchen, aber noch viel mehr die kleine, dazu gereichte Suppe. Sie ist kein Dashi, sondern andersartig herzhaft und nachdrücklich pikant. Ein wenig eingelegte Alge in einem weiteren Schälchen schmeckt durch eine Sojapaste ein bisschen wie Erdnuss und ist ebenfalls scharf. Alles an dieser Trilogie ist stimmig, wohlschmeckend, kontrastreich, frisch und qualitativ auf einem Niveau, für das es sich (für mich) zu reisen lohnt. Schlicht grandios. (10/10)

Der beste Zander, den ich je gegessen habe, folgt dann. Das Filetstück ist so gegrillt, dass die Haut des Fischs goldbraun und so fein knusprig ist, dass man das appetitanregende Zerbrechen der Kruste mit dem Löffel hören kann. Der Fisch selbst ist zart, saftig und so aromatisch wie ich Zander bisher nicht kenne. Ein dicht eingekochter Muschelsud rahmt das Thema Meer ein, während der im Sud verarbeitete Ingwer sowie dünne Scheiben Rettichs mit ihrer jeweils eigenen Schärfe etwas daraus ausbrechen. Ein traumhaftes Gericht aus einer qualitativ anderen, meist verborgenen Welt. (10/10)

Eine kleine Unterbrechung des Schwelgens folgt mit dem nächsten Arrangement. Es gibt einmal einen Quader in gelartiger Konsistenz, der aus 48 Stunden lang eingekochten „medizinischen Kräutern“ sowie Kastanienhonig zubereitet wurde. Tatsächlich schmekct das ein bisschen sehr dominant nach Apotheke. Das andere Schälchen mit fermentiertem Kohl (Kimchi) und Birne ist zwar „quietschend frisch“ und angenehm pikant, riecht aber streng nach Mülltonne und macht das Erlebnis nicht viel besser. Obwohl das alles zweifelsfrei nach besten Maßstäben der jeweiligen Speisearten zubereitet ist, bereitet mir gerade dieser Geschmack, demgegenüber man zumindest als Europäer eine angeborene Abneigung empfindet, nicht die größte Freude. (6,9/10)

Nach und nach werden jetzt weitere Teller serviert, die schon als Begleitung zum folgenden Fleischgang gedacht sind. Ein salatähnliches Gericht ist ebenfalls Kimchi, allerdings nicht fermentiert. Die knackig frische Kohlbereitung, die mit Kastanie und Chili zubereitet wurde, bereitet deutlich mehr Genuss als ihre vergorene Schwesterspeise. Ebenfalls steht ein Teller mit dreierlei säuerlich eingelegten Gemüsen auf dem Tisch, alle sind auf unterschiedliche Weise köstlich. Ein mariniertes Perillablatt sticht von den Speisen besonders hervor und schmeckt überraschend intensiv nach Veilchen und Süßholz, mit einer deutlichen Schärfe.

Dazu gibt es dann Hanwoo-Rind ‒ Koreas Fleischesstolz, ganz zu Recht. Das gegrillte Fleisch ist in Streifen geschnitten und wird lediglich mit etwas Meersalz serviert. Buttriger Fettgehalt, Grillaromen, Salzakzente, kurzum hochwertigster Fleischgenuss, den ich zelebriere. 9/10 für dieses Kapitel.

Eine Parallele zur japanischen Kaiseki-Küche besteht offenbar darin, noch eine komplette Mahlzeit zu servieren, wenn man bereits satt ist. In diesem Fall gibt es ein Tablett mit acht Schüsseln. Die größte davon enthält ein Gericht mit Reis und in Sojasauce geschmortem Rind. Das Reisgericht ist heiß und duftet nach Pilzen und saftigem Schmorfleisch. Daneben findet man eine nicht weniger umfangreiche Suppe aus getrocknetem Pollack, die eher nach Wald als nach Meer schmeckt und daher exzellent zum Fleisch passt. Die beiden heißen Gerichte ergänzt man mit verschiedenen Beilagen ‒ u. a. Zucchini, knusprige Garnelen, Tintenfisch mit Knoblauch ‒, die allesamt mit hochwertigen Zutaten und unterschiedliche justierter Schärfe überzeugen. Die Schälchen bieten diverse Möglichkeiten, Aromen zu kombinieren. Trotz der herausfordernden Menge ist das Vergnügen viel zu schnell verputzt. Ganz fabelhaft, alles. (8,9/10)

Danach erfrischt ein Datteleis mit Dattelsirup angenehm den Gaumen. Das schmeckt etwas medizinisch, leicht bitter nach Kaffee, ist aber ein willkommener Übergang zum finalen Akt. (7/10)

Der besteht aus einem Ginsengtee mit Orangenschale und Zimt. Der angenehme, weihnachtlich schmeckende Tee begleitet drei kleine Süßspeisen ‒ einen Keks mit Pinienkernen, einen Reiskuchen mit Kastanie sowie ein Kürbisgelee. Geschmacklich alles etwas „dumpf“, aber allemal sehr gut. (7/10)

Das von mir noch weitgehend unerforschte Gebiet der koreanischen Spitzenküche ist heute Abend ein erfreuliches bisschen geschrumpft. Mein erstes koreanisches Drei-Sterne-Restaurant verlasse ich zufrieden, satt und mit einer ergiebigen Ausbeute an neuen Aromen und Referenzqualitäten. Es darf gerne weiter gehen, morgen schon.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Gaon (→ Website)
Chef de Cuisine: Kim Byung-jin
Ort: Seoul, Südkorea
Datum dieses Besuchs: 05.10.2019
Guide Michelin (Seoul 2019): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8,9 (Was bedeutet das?)
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