Alain Ducasse au Plaza Athénée

Alain Ducasse ist unbestrittener Großmeister und umtriebiger Missionar der (französischen) Gourmetküche, Autor beeindruckender Kochliteratur ("Wer wie ich ein 1000-seitiges Kochbuch geschrieben hat, der muss vom Essen besessen sein!") und der einzige Koch, der gleichzeitig drei Restaurants mit jeweils drei Michelin-Sternen betreibt (in Paris, Monaco und London, zwischenzeitlich auch in New York) – unter anderem.

Seine Küche steht dabei für makellos frische, saisonale und mediterran geprägte Produkte wie Gemüse, Fisch, Krustentiere und wenig Fleisch, die er in authentische, zugängliche Kompositionen verwandelt.

Allerdings bin ich nicht Ducasse-Biograf, sondern heute Abend zum ersten Mal zu Gast in seinem Restaurant im Hotel Plaza Athénée in Paris. Meine Erwartungen sind hoch, aber nicht am höchsten. Wichtigster Grund für meine Zurückhaltung ist, dass ich Restaurants gegenüber skeptischer geworden bin, deren Namensgeber vermutlich mehr Zeit im Flugzeug verbringt als in der Küche.

Der Abend beginnt im noch leeren, aber nur wenige Zeit später vollbesetzten Saal, der erst kürzlich neu gestaltet wurde. Überdimensionierte Kronleuchter mit unzähligen herabhängenden Glaskristallen, ausladende Fenstervorhänge sowie Weiß- und Crème-Töne bestimmen die Atmosphäre; modernisierter feudaler Luxus ist die offensichtliche Gestaltungsvorgabe und steht ohne Zweifel in Einklang mit den Erwartungen der Stammkundschaft des Plaza Athénée.

Bei einem Glas Bollinger Rosé (€ 32), mache ich mich mit der in einen Metallrahmen eingefassten Speisekarte vertraut, die vor mir auf dem Tisch installiert wurde. Sie beinhaltet fünfzehn Gerichte (zzgl. Käse und Dessert), unterteilt in „Printemps 2010“, „Spécialités“ und „Plaisirs de Table“. Weder die Einteilung, noch die Beschreibung, noch die sehr ähnlichen Preise aller Speisen helfen dabei, sich zurechtzufinden, aber bei einem zweiten Glas Bollinger klappt es dann doch. Der Kellner überzeugt mich allerdings, von meiner Idee von vier Gängen vor Käse/Dessert abzurücken und mich auf drei zu beschränken – sie seien doch üppig portioniert. Ich lasse mir die Option schließlich offen.

Als Amuse-Bouches werden zunächst zwei unterschiedliche Gebäcke serviert – eines davon lauwarm und mit einer Spargelmasse gefüllt, das andere eine Art Keks aus zwei kleinen, runden Weißbrotscheiben, die von einer Creme zusammengehalten werden, ich glaube, es ist Avocado, bin mir aber nicht sicher. Beide verdienen mit Sicherheit keine Bestnote in irgendeiner Kategorie, was ich gerade als Auftakt enttäuschend finde.

Danach folgen zwei frittierte Froschschenkel mit Sauerampfer-Dip. Die Schenkel sind hauchdünn frittiert, innen sehr heiß (hier wäre ein entsprechender Hinweis sinnvoll gewesen), gut gewürzt und dekadent fettig; der Dip passt dazu gut. Das simpel konzipierte Fingerfood ist effektvoll und angenehm „frech“. Aber eine Silberschale mit Zitronenwasser und Damastserviette zum Reinigen der stark beanspruchten Finger folgen sogleich. Man muss schon genau hinsehen, um das Schälchen mit der Zitrone nicht für einen weiteren Gruß der Küche zu halten.

Den ersten Gang wähle ich, wie angeboten, en demi (€ 95 (!)): Langoustines rafraîchies, caviar gold, nage réduite, bouillon parfumé. Die Langustinen sind von sehr guter Qualität. Die Tatsache, dass sie erkaltet sind, ist zwar beschrieben und beabsichtigt, trägt allerdings nicht zu einem besseren Geschmackserlebnis bei. Ich wundere mich über diese Entscheidung. Die Kombination mit dem Kaviar ist – sowohl geschmacklich als auch sensorisch – sehr gut; das Gericht muss sich jedoch im Vergleich mit den genialen Meerestier/Kaviar-Kreationen von Thomas Keller oder Bernard Pacaud hinten anstellen. Ganz hervorragend dazu ist allerdings die separat gereichte Bouillon, die, neben einer ganzen Fülle von Aromen, besonders durch den dezenten Einsatz von Ingwer gefällt.

Mit der umfangreichen Weinkarte (1001 Positionen, fast ausschließlich Frankreich), habe ich mich schon vor der Anreise auseinandergesetzt und wähle zum Begleiten der Fischspeisen nun den 1998er Hermitage „Chevalier de Sterimberg“ von Paul Jaboulet Ainé (€ 180), der trotz oder wegen seiner bereits etwas oxidativen Noten hervorragend ist: opulent, mit Noten von Honig, Sherry und Mandel.

Gut dazu passt auch der zweite Gang, Homard breton en tronçons, petits pois et fanes, suc corsé (€ 120), der in einem schwarzen Teller serviert wird – eine farbenprächtige Augenweide. Der „kräftige Saft“ (suc corsé) wird separat angegossen. Das Gericht ist ein Potpourri von Hummer und jungen, knackigen Gemüsen, hauptsächlich Rübchen und Erbsen, – und damit ein perfektes Frühlingsgericht. Alle Zutaten sind jeweils auf den Punkt gegart und makellos frisch. Das Gericht lebt durch die intensiven Eigenaromen aller Komponenten – und schafft es dabei dennoch nicht, geschmacklich vollends zu begeistern. Es sind zu viele Zutaten, die in einem (lediglich) guten Krustentiersud schwimmen und um ihre jeweilige Anerkennung wetteifern. Ich hätte mir hier einen stärkeren Fokus auf insgesamt weniger Komponenten, Aromen und Texturen gewünscht.

Nach einer angemessenen kurzen Pause geht es weiter mit den Pièces de veau du Limousin, garniture Crécy, jus truffé (€ 80). Die gebratenen Koteletts vom Limousin-Kalb könnten kaum besser anmuten, als sie vor dem Tranchieren am Tisch noch einmal auf einem Silbertablett präsentiert werden. Auch nach dem Aufschneiden und Anrichten haben sie nichts von ihrem appetitanregenden Äußeren verloren. Dazu gesellen sich noch ein Stück Geschmortes vom selben Kalb, Karotten- und Lauchgemüse und der Trüffeljus.

Auch dieses Gericht hinterlässt einen guten, aber keinen herausragenden Eindruck bei mir. Zwar ist das Kotelett sehr gut (rosa, zart, Fettschicht genau richtig), aber das Geschmorte teilweise etwas trocken und dafür zu groß portioniert. Als der zum Ausgleich dieser Trockenheit erforderliche Trüffeljus viel zu früh zur Neige geht und ich den Kellner um Nachschub bitte, kommt er wenig später mit einem Kännchen zurück und gießt neuen Jus an – nur leider einen anderen, ohne Trüffeln. Ich sage nichts, allerdings ist dies ein ziemlich grober Fauxpas. Gerade der Trüffeljus war sehr harmonisch zu dem Fleisch – unaufdringlich und trotzdem präsent –, und damit ein Hauptbestandteil dieses Gerichts. Dass man eine solche Komponente einfach durch eine andere ersetzt, ist unfassbar. Soll damit Vielseitigkeit oder Beliebigkeit demonstriert werden? Die Frage bleibt offen.

Begleitet hat dieses Gericht derweil ein 1999er Côte-Rôtie von Tardieu-Laurent (€ 165), der absolut mustergültigen, aber leider noch etwas jungen Syrah verkörpert. Zwar war dies meine Wahl, aber ein Hinweis auf seinen noch jugendlichen Charakter hätte ich mir unter den Umständen im Voraus gewünscht.

Das üppig portionierte Kalbsgericht beantwortet schließlich meine anfängliche Unsicherheit hinsichtlich eines weiteren Hauptgerichts. Sie lautet nein, vielen Dank, das Dessert kann dann kommen! Da man sich im Voraus bereits festlegen musste, wird keine neue Karte gereicht.

Vor dem Dessert werden noch ein paar süße Kleinigkeiten gereicht. Sie wirken auf mich wenig reizvoll, und bis auf die „Kirschtaler“ möchte ich die anderen Dinge (Makronen und eine Art süßes Knabbergebäck) nicht einmal probieren. Eine derartige Lieblosigkeit finde ich an diesem Ort verblüffend, ist es mitunter doch durchaus möglich, aus allem Essbaren wirklich wunderbare Dinge herzustellen (s. L’Arnsbourg, Aqua und andere).

Das Dessert, Choco/menthe en déclinaison (€ 32) ist sehr gut, und die Frische vom Minzeis bildet einen guten Abschluss. Die danach noch gereichten Pralinen entziehen sich dann jedoch wieder meinem Verständnis von gehobener Patisseriekunst.

Zwar hatte ich meine Erwartungen anfänglich ein wenig herabgeschraubt, nicht jedoch meine Hoffnung, hier doch etwas Großartiges zu erleben. Leider blieb die Großartigkeit aus. Jedes Gericht war gut, aber keines wirklich durchweg hervorragend – geschweige denn denkwürdig. Berücksichtigt man die Reputation (es ist Alain Ducasse!) und die so offenbar nur in Paris durchsetzbaren Preise, muss ich ein enttäuschendes Resümee ziehen.

Die Gerichte heute Abend folgten alle unverkennbar Ducasse’ Absicht einer klaren, authentischen, französisch geprägten Mittelmeerküche, jedoch ließ er die Produkte nicht ihre jeweiligen Möglichkeiten ausschöpfen. Kein einziges der Gerichte war in der Lage, zu begeistern oder zu verblüffen.

Ob die Ursachen hierfür tatsächlich im chronischen Anwesenheitsmangel des Patrons begründet liegen, kann ich noch nicht abschließend beurteilen. War das heute wirklich sein Stil oder lässt Ducasse seinen Küchenchefs (hier in Paris ist das Christophe Moret) viele Freiheiten? Wenn ja, wie wirken sich diese Freiheiten in den anderen großen Ducasse-Restaurants in Monaco und London aus? Lässt sich überhaupt ein gemeinsamer Ducasse-Stil feststellen?

Der Abend hat damit einige Fragen aufgeworfen, denen ich – trotz der heutigen Erfahrung – beizeiten auf den Grund gehen werde.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Alain Ducasse au Plaza Athénée (→ Website)
Chef de Cuisine: Christophe Moret
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 28.05.2010
Guide Michelin (F 2010): ***
Meine Bewertung dieses Essens 7,9 (Was bedeutet das?)