L’Air du Temps – das Parfum

Ländliches Belgien, Kräutergarten vor der Tür, kreatives Menü, hohe Bewertungen in Restaurantführern und -ranglisten, internationales Publikum, volle Reservierungsbücher. Nennt man diese Rahmenbedingungen, kommen derzeit viele Restaurants in Frage. Das L’Air du Temps, die vierte gastronomische Station auf meiner kürzlich unternommenen Benelux-Reise, ist eines davon.

Was diesem Restaurant und seinem vielseitigen koreanischen Küchenchef Sang Hoon Degeimbre – gelernter Fleischer, Ex-Sommelier und mit früherem Berufswunsch Apotheker – vorauseilt, sind sowohl die Lorbeeren in Form von zwei Michelin-Sternen als auch der Ruf, eine durch die Gewächse aus dem riesigen Garten geprägte, kreative und wegweisende Küche zu servieren.

Das Restaurant ist erst vor kurzem nach Liernu umgezogen, ein kleines Fleckchen in der wallonischen Gemeinde Éghezée, umgeben von flachen Feldern soweit das Auge reicht. Das Anwesen beherbergt sowohl Restaurant als auch zweckmäßige, modern ausgestattete Zimmer. Alles riecht noch nagelneu.

Am Nachmittag treffe ich mich mit einem der Köche im gigantischen Garten. Degeimbre stößt später auch noch hinzu. Wir schlendern durch das weitläufige Areal, ich probiere Kräuter und Pflanzen mit erstaunlichen Aromen. Hunderte von Pflanzen gedeihen dort – verschiedene Kohlsorten, Kräuter, Tomaten und vieles mehr –, doch noch interessanter wird es dann in dem kleinen Schuppen nebenan.

Hier, im Geheimlabor von Degeimbre, das nachts als perfekte Kulisse für einen Horrorfilm dienen könnte, sind Karotten in Kisten vergraben, sprießen Dutzende Kräutersorten aus Töpfen, hängen Kabel von der Decke und Schläuche von der Wand.

Die Wirkstätte eines Freaks, keine Frage, und das meine ich im allerpositivsten Sinn!

Am Abend betrete ich dann gegen sieben Uhr das Restaurant und werde in einem der drei – recht kleinen – Speisesäle platziert. Besonders gemütlich ist es hier nicht. Dazu sind mir die Tische zu eng gestellt, die Wände zu karg, das Licht zu hell und die Ledertischdecken zu verwegen, doch nach einem beherzten Schluck Gin Tonic mit Citadelle Jahrgangsgin verlieren diese äußeren Attribute zumindest ein wenig an Bedeutung …

Ganz dem Stil kreativer Restaurants folgend, gibt es keine Speisekarte. Das Menü heißt Terroir Contemporain, kostet 140 Euro und kann um eine Weinbegleitung (€ 65) und um eine nichtalkoholische Getränkebegleitung (€ 38) ergänzt werden. Ich ergänze um beide, denn bei letzterer handelt es sich um in einem speziellen Verfahren aromatisierte Wässer (von Melone über Sellerie bis zu Kaffee), die mir schon von meiner Reise hierhin empfohlen wurden. Überaus interessant, wie sich herausstellen wird!

Erste Amuse-Bouches gelangen an den Tisch. Ein Cornet mit Karotte und Kurkuma hat florale und exotische Aromen; ein „Schnittchen“ mit Foie Gras und Schokolade ist reichhaltig und klassisch; ein Röllchen mit weißer Schokolade, Zitrone und Kaviar anregend erfrischend; und ein kleiner Cracker mit Wacholder ebenfalls andersartig und exzellent. Ein gelungener Auftakt.

Eine japanische Muschel (mir liegt leider keine genaue Beschreibung des Menüs vor) mit einer essbaren „Schale“, sowie ein Süppchen mit kräuterig-floralen Noten sind beide sehr gut.

Beim nächsten Gericht gelangt zum ersten Mal eines der aromatisierten Wässer ins Spiel, in diesem Fall angereichert mit Kiwi und Lavendel. Das – aus einem Erlenmeyerkolben eingeschenkte – Elixier passt derart kongenial zum Gericht mit Auster und Kiwi, dass ich nicht genau sagen kann, was worauf abgestimmt wurde. Faszinierend! Dagegen hat die Weinbegleitung keine Chance.

Ein ausgelöster Hummer folgt. Dieser wird zunächst prachtvoll auf einem Kräuterbett präsentiert und wenig später in einer Kombination mit Joghurt und Eisenkraut serviert, dieselben Aromaten wie auch das dazu eingeschenkte Wasser. Der Hummer ist von makelloser Qualität, perfekt gegart, und findet sich in einer säurebetonten, nussigen und ätherischen Geschmackswelt wieder. Ganz hervorragend und eines der besten Gerichte des Abends, …

… zusammen mit diesem rein vegetarischen Teller in Form von Kimchi mit diversen Gemüsen und Kräutern und einer zum ins Schwärmen geratenden geschmacklichen Tiefe. Herausragend! (Wasser: Tomate/Basilikum, Wein: alle nicht notiert.)

Und jetzt passiert etwas ausgesprochen Ärgerliches. Ein Paar mittleren Alters mit drei Teenagern betritt den Saal und legt für den Rest des Abends eine betäubende Parfumwolke über alle Gerichte und Getränke. Ich hoffe zunächst auf langsame Besserung, doch in dem kleinen Raum wird alles nur noch schlimmer. Meine Handlungsmöglichkeiten sind jedoch begrenzt: alle anderen Tische sind besetzt, und Fenster werden hier auch nicht geöffnet – eine vertrackte Situation.

Ich bin ein großer Freund der Parfumkunst und sehr empfänglich für die Düfte guter Parfümeure, doch zum einen trägt die Mehrzahl der Leute kein Parfüm guter Parfümeure, und zum anderen muss man auch hierbei immer dem Anlass gerecht werden. Jemand, der ein gutes Restaurant mit einer Duftwolke betritt, entlarvt sich als kulinarischer Laie. Diese Einschätzung passt zur Bling-Bling-Attitüde dieser Gäste.

Leider stellt dieses Ereignis eine Zäsur des Menüs dar. Ich muss mich fortan sehr bemühen, die Nuancen der Gerichte wahrzunehmen. Von unbeschwertem Genuss kann leider keine Rede mehr sein.

Aber ich bemühe mich um Objektivität. Eine Scholle mit Krevetten ist sehr gut, aber der Jus etwas zu säurebetont. (Wasser: Wasabi/Rose)

Ein süffiges Risotto mit Gänseleber und Trüffeln ist an der obersten Grenze das Salz betreffend, aber das ist gerade genau das Richtige, um von der olfaktorischen Reizüberflutung abzulenken. Sehr gut! (Wasser: Sellerie/Kaffee)

Ein Stück Koberind, das in einem heißen Pilzsud gart, weist eine betörend „schmelzende“ Textur auf. Leider ist der Sud ziemlich süß, ich kann nicht genau ausmachen, wodurch.

Es geht weiter mit einem besonders saftigen Stück Huhn in einer orientalisch-weihnachtlichen Geschmackswelt (möglicherweise Kardamom, Zimt, Anis u.a.). Die Produktqualität ist exzellent; aber die exotischen Aromen sind mir hier eine Nuance zu stark herausgearbeitet. In Summe jedoch sehr gut. (Wasser: Pflaume/Feige/Shisokresse)

Das erste Dessert spielt sehr gekonnt mit den Zutaten Melone und Zitrone, wenngleich durch die sehr vielen Texturen und Farben ein etwas artifizieller Eindruck entsteht. Geschmacklich aber exzellent. (Wasser: Melone/Limone)

Übertrieben ist dann ein regelrechtes Texturgefummel um das Thema Himbeere. Wo ist bloß die Frucht? Das Wasser dazu ist mit Himbeere und Rose aromatisiert, eine Überleitung zum letzten Dessert …

… mit Grapefruit, Mandarine, Brombeeren (alle echt) und einem exzellenten Roseneis.

Endlich ist auch die riechende Tischgesellschaft verschwunden, doch der Dunst liegt noch immer in der Luft.

Während der Mignardises versuche ich, ein Fazit zu ziehen. Das Menü war sehr vielschichtig und brachte einige sehr gute Gänge hervor, war mir aber in Summe etwas unfokussiert. Mir fehlte so etwas wie ein „kulinarischer roter Faden“. Der stärkste Gang, das Kimchi mit Gartenkräutern, kombinierte eindrucksvoll die koreanische Herkunft Degeimbres mit der Pracht des hauseigenen Kräutergartens: aromastark und eine klare Sprache sprechend. Die Mehrzahl der anderen Gerichte, so gut sie teilweise auch waren, sprach eine andere. Aber wer weiß, vielleicht habe ich im Dunst der Parfümwolke einfach nicht genau zuhören können.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: L’Air du Temps (→ Website)
Chef de Cuisine: Sang Hoon Degeimbre
Ort: Liernu, Belgien
Datum dieses Besuchs: 03.10.2014
Guide Michelin (BE/LUX 2014): **
Meine Bewertung dieses Essens 7,5 (Was bedeutet das?)