Jante ‒ Schwamm drunter

Wenn man aus einem Toilettenhäuschen unter einer U-Bahn-Brücke in Hannover etwas Ansehnliches machen wollte, dann wäre dieses Ziel mit dem Jante zweifellos erfüllt. Anstatt eines WC-Schilds zieren jetzt eine Plakette mit Michelin-Stern und eine Speisekarte den Eingang des Restaurants, der gar kein Eingang ist, wie ich nach mehrmaligem Klopfen herausfinde.

Erst, wenn man hinters Haus geht, findet man den eigentlichen Zugang. Ein entsprechender Hinweis am nur scheinbaren Eingang wäre sicherlich nicht verkehrt. Ich stehe gerade etwas ungeschickt davor im Regen.

Das Interieur lässt den Regen schnell wieder vergessen. Der bogenförmige Grundriss des Restaurants strahlt in Kombination mit viel Holz und warmem Licht eine rustikale Gemütlichkeit aus, die in vielen Details geschmackvoll ist. Nicht in allen. Die mickrige Papierserviette, die ständig vom Schoß rutscht, könnte man ja noch mal zu Gunsten einer sittlichen Tischkultur überdenken.

Das alleinige Menü trägt den Namen „Eifrig“ und steht in drei unterschiedlich umfangreichen Varianten zur Auswahl (fünf bis sieben Gänge, 77 bis 99 Euro). Ich entscheide mich für die mittlere Variante, die einen Gang mit geeister Gänseleber auslässt. Ich bin für dieses Produkt nicht mehr allzu oft zu begeistern, da sich dessen Genussmöglichkeiten für mich in Grenzen halten, insbesondere bei kreativeren Zubereitungen.

Es gibt zur „Einstimmung“ drei Amuse-Bouches. Zitronenthymian passt gut zu einer halbierten und leicht säuerlich marinierten Pflaume (6,5/10), ein dehydriertes Röllchen mit Zutaten drin thematisiert auf leichte, frische Art Blumenkohl und Erbse (7/10), und ein Blatt Chicorée mit Walnuss schmeckt irgendwie muffig nach altem Koffer, was nicht so schlimm gemeint ist wie es sich anhört (6/10). Große alte Weine tun das auch manchmal.

Leise ist es hier, flüsterleise, obwohl alle Tische besetzt sind. Das mögen die Gäste in Deutschland so. Als wäre heitere Konversation am Tisch etwas Unanständiges. Laut ist es in der Bierschänke, leise im Sternerestaurant, so die einhellige Meinung, auf die man sich ‒ stillschweigend ‒ einigt, sobald man den Raum betritt und seine ernsten Blicke in alle Ecken speit. Als würde man dem Kochhandwerk keinen Respekt zollen, wenn man fröhlich ist. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wenn ich beim Essen nicht voller Freude sein kann, bin ich entweder ein trostloser Mensch, oder die Küche bietet keinen Grund, mir Freude zu entlocken. Dass so viele Menschen auf einmal trostlos sind, halte ich eher für unwahrscheinlich.

Es gibt Sauerteigbrot, das ist gut gelungen, dazu aufgeschlagene Butter mit Liebstöckel und Selleriepulver. Letztere beiden Akzente sind geschmacklich ganz pfiffig, aber aufgeschlagene Butter hat immer eine etwas merkwürdig schleimige Textur, so als hätte man Rinderknochen im Pacojet püriert. Das kann man so machen, wenn das Motto „mehr ist mehr“ ist, aber besser wird die Butter durch all das eben nicht. Sonst würde man in französischen Restaurants die Butter von Jean-Yves Bordier ja auch aufschlagen und mit dies und jenem aromatisieren. Tut man aber, zum Glück, nicht.

Als nächster Gang, der noch nicht dem eigentlichen Menü zugeschrieben wird („Kurz davor“, so die Überschrift in der Karte, als wäre der Spannungsbogen schon am Maximum), ist eine sehr schwierig aufs Besteck zu befördernde Komposition mit Schwarzwurzel, Joghurt und Waldmeister. Wenn man den Kampf gegen die sich im Mund querstellenden dehydrierten Schwarzwurzelabschnitte und die ständig von der Gabel herunterfallenden, ebenfalls dehydrierten, weißen Joghurtstückchen gewonnen hat, stellt sich am Gaumen ein gar nicht mal so ungeschicktes Geschmacksbild ein. Die Frische vom Waldmeister passt gut zum Süßholzgeschmack, der sich auch noch von irgendwoher dazugesellt. Geschmacklich also gut, aber unnötig verkopft, und kompliziert dargeboten. (6/10)

Das eigentliche Menü beginnt mit Spitzpaprika als Leitmotiv, die es unter einem Sammelsurium von Zutaten wie Speck, Friseesalat, einer schaumigen rauchigen Sauce, einem dehydrierten Röllchen und einigen Portionen von extrem kaltem und hartem Hibiskusblüteneis schwer hat, sich in Szene zu setzen. Lässt man die trockenen und eiskalten Störer beiseite, ergibt das geschmacklich durchaus Sinn. Paprika, etwas Rauch, salziger Speck, das passt. Wozu all diese Ablenkungen? (6,5/10)

Weiter gibt es drei Häppchen bestehend aus Zwiebelschalen, die mit kleinen Steinpilzwürfeln gefüllt sind. Kirsche, Brunnenkresse und eine knusprige Komponente spielen auch noch eine Rolle. Erneut ist das Geschmacksbild zugänglich und ansprechend ‒ Zwiebel, Röstnoten und etwas Säure passen sehr gut zueinander ‒, aber über einen ganz annehmbaren Geschmack kommt das alles nicht hinaus. (6,5/10)

Den nächsten Gang zieren dann wieder diverse Röllchen, alle aus verschiedenen Beten, zwei davon erneut als dehydriertes, knuspriges Element. Schwammige hellgrüne Quader liegen auch auf dem Teller, auch diese ziert ein Röllchen. Wie schon bei allen anderen Gängen zuvor, erklärt der Service ausführlich, welche geschmackliche Rolle die einzelnen Komponenten übernehmen. Sätze wie „Wir haben [dies und jenes] getan, um eine Frische reinzubringen“ bekommt man über fast jede Zutat zu hören. In diesem Fall wurde bei der küchenseitigen Telleranalyse jedoch die Erklärung vergessen, warum man sich dafür entschieden hat, den Zander so zu malträtieren, dass er sich ‒ völlig zu Recht ‒ beleidigt und trocken in sich zusammenzieht, und warum schon wieder Röllchen überall drauf liegen, die nach wenig bis nichts schmecken. (5/10)

Ein Teller wie dieser ist eine Zumutung auf vielen Ebenen. Er stellt, besonders durch die allenfalls mäßige Fischqualität und -zubereitung, das Urteilsvermögen aller Gäste in Frage, bedient mit seinen unnötigen Spielereien das Klischee, dass Sterneküche in Deutschland immer verspielt und dekorativ sein muss und trägt damit nicht weniger als dazu bei, es dem Stand der gehobenen Küche in Deutschland noch schwer zu machen als das ohnehin schon der Fall ist. Wer so eine Küche als überflüssig bezeichnet, hat völlig recht. Gerichte wie diese sind vollkommen entbehrlich. Aber das ist eben nicht nur die Schuld des Kochs. Alle, die diese Teller hier brav, schweigend und mit ernsten Mienen aufessen und so etwas nicht in Frage stellen, machen sich mitschuldig an der Situation eines kulinarisch immer noch verarmten Deutschlands.

Es folgt „Spanferkelhaxe“, oder besser Fleisch davon, das man in Rollenform gepresst und 36 Stunden lang sous-vide gegart hat. Die Scheibe, die man davon dann abgeschnitten hat, weist eine artifizielle, gummiartige Textur auf. Dazu gibt es eine ausgelöste Auster (!), rohen Grünkohl und Senfstaub. Man ist hier nun wieder dabei, ein eigentlich stimmiges, rustikales Geschmacksbild (Schwein, Kohl, Senf) so zu verkopfen, dass daraus nichts Besseres wird als wenn man das ordentlich zu Hause zubereitet: geschmort, saftig und mit anständigem Senf. Und ohne Auster. Schmeckt fürchterlich. (5/10)

Rehrücken wurde ebenfalls sous-vide gegart und bestätigt abermals, dass diese Technik oft eher schlechtere als rechte Ergebnisse hervorbringt. Da streiten sich zwar die Geister, aber diese sehr homogene Textur des Fleischs, das auch nicht mehr nachgebraten wurde, empfinde ich nicht als optimal, zudem tritt ständig Fleischsaft aus. Das kann man deutlich besser hinbekommen. Und wenn es zu so einem Fleisch schon eine glänzende Sauce gibt, so wie hier, hofft man auch auf eine entsprechende Aromatik. Diese hier schmeckt merkwürdig säuerlich und gewollt anders. Karotte, Buchweizen und Heu spielen weitere Rollen, aber der Protagonist schwächelt und mit ihm das Gericht. Ich probiere davon nicht mehr als nötig. (6,5/10)

„Kurz danach“ geht es laut Speisekarte weiter mit Birne, Kopfsalat und Mandel, offenbar als Erfrischung vor dem Dessert konzipiert. Das Gericht ist ein Teller voller klebriger, pappiger und teilweise verbrannter Komponenten, die man sich danach aus den Zähnen pulen muss. Ich habe schon großartige Birnen gegessen, zuletzt fantastische Nashis in meinem Hotel in New York, die jeden Tag frisch aufs Zimmer gebracht wurden, und an deren intensives Aroma ich bis heute denke. An diesen Teller möchte ich nach diesem Text nicht mehr lange denken. (5/10)

Das Dessert rankt um das Thema Mohn. Ein Mohnschaum mit Hefe belegt die Zunge mit einem käsigen Geschmack, ein Stück eines einigermaßen unverfremdeten Apfels ist ein Lichtblick in diesem mäßigen Dessert, das mehr die Kreativität des Patissiers als den Appetit auf Süßes befriedigt. (6/10)

Ein Windbeutel mit Sauerteig (6,5/10) sowie auch ein Schälchen mit einer Art sehr süßem Quarkschaum und ziemlich guten Beeren (6,9/10) machen das wieder einigermaßen wett.

Unnötig zu sagen, dass ich angesichts der vielen nur halb gegessenen Gerichte noch hungrig bin; unnötig zu sagen, dass ich das Essen alles andere als ausgezeichnet fand. Aber wer meinen Text genau liest, kann erkennen, dass meine Kritik nicht nur der Küche gilt. Sie gilt maßgeblich allen Beteiligten, die eine solche Küche aktiv (z. B. der Guide Michelin mit seiner Auszeichnung) oder passiv (die Gäste mit ihrer Akzeptanz) fördern. Ich habe keinen Grund anzunehmen, dass hier irgendjemand nicht kochen kann. Ich habe aber jeden Grund anzunehmen, dass die Gäste damit zufrieden sind und man eben deshalb so kocht. Und genau das ist eines der größten kulinarischen Probleme in unserem Land.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Jante (→ Website)
Chef de Cuisine: Tony Hohlfeld
Ort: Hannover, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 10.11.2017
Guide Michelin (D 2017): *
Meine Bewertung dieses Essens 6 (Was bedeutet das?)
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