Pineapple & Pearls ‒ Botschaft aus Washington

Der kleine Vorraum mit Marmortresen, italienischer Espressomaschine und dem freundlichen Personal, das einem lächelnd ein Glas Champagner reicht, bevor es überhaupt den Reservierungsnamen abfragt, verzückt mich bereits nicht einmal eine halbe Minute nachdem ich eingetreten bin.

Allein für diesen kurzen, überraschenden Moment des Sich-sofort-willkommen-Fühlens, der sich so erfrischend anders anfühlt als die bei uns zulande immer noch viel zu oft nur mühevoll gespielte Gastfreundschaft, lohnt für mich die ganze Reise nach Washington, D.C. Das können die Amerikaner einfach besser.

Eine authentische, persönliche Begeisterung für alles, was mit guter Gastronomie zu tun hat ‒ von der Hospitalität bis zu hervorragendem Essen mit guten Zutaten ‒, wohnt in den guten Restaurants der USA sehr viel mehr Personal inne als bei uns. Diese Passion spürt man auch hier im Pineapple & Pearls bei jedem, was die Illusion verstärkt, man sei zu einer privaten Dinnerparty eingeladen.

Der schick gestaltete Gastraum mit weißen Wänden, dunklen Holzdielen und kreativer Kunst bietet sowohl gewöhnliche Tische als auch gemütliche Sitzbänke und -ecken sowie einen Tresenbereich um eine offene Küche herum. Einige sichtbare Belüftungsrohe sorgen für amerikanisch-typisches Industrieflair, aber eher auf charmant unbeholfene Art als forciert.

Am Tisch, den kleinen Rest Champagner habe ich noch mitgenommen, erhält man zunächst einen weiteren Begrüßungsdrink, den ein charmanter Kellner mit gutsitzendem Outfit und hochwertigem Barequipment zubereitet. Es handelt sich um einen Dirty Virgin Martini, was in diesem Fall eine alkoholfreie Zubereitung aus Ananas und Verjus ist. Erfrischend, karibisch, eine schöne Idee.

Nachdem obligatorisch abgeklärt wurde, dass es am Tisch keine Allergien oder spezielle Abneigungen gibt, geht es los. Ich weiß nicht im Geringsten, was mich in den kommenden Stunden hier erwartet, wer hier kocht oder wofür die Küche steht. Lediglich die zwei Michelin-Sterne sind mir, natürlich, bekannt und waren der Auslöser meiner Reservierung hier vor einigen Wochen. Ich mag dieses Unwissen vor Restaurantbesuchen.

Amuse-bouches werden serviert, man erkennt einen französischen Einschlag. Ganz links ein Vol-au-vent mit perfektem, luftigen Blätterteig, darin Schnecken aus Peconic (New York), geschwenkt in einer sahnigen Creme mit Petersilie und Knoblauch. Himmlisch! (9/10)

Matzo Ball Soup, eine jüdische Spezialität, kommt in Form eines Matzenknödels, üblicherweise bestehend aus Mehl, Eis, Wasser und Schmalz, hier serviert in einer herrlich aromatischen Pilzbrühe. Das ist genauso hervorragend (8/10) wie, ganz rechts, eine herzhafte, erdige Tartelette in Anlehnung an eine spanische Tartaleta de Morcilla mit Blutwurst, Zwiebeln und, hier, eingelegten Rosinen (8/10).

Die letzte Petitesse ist ein Küchlein aus Mürbeteig mit einer Füllung mit geräuchertem Knochenmark und, darauf, einem transparenten, rosa Gelée aus roten Zwiebeln und Rosmarin. Wenn die rauchige Creme mit der Süße der Zwiebel und dem ätherischen Aroma des Rosmarins zusammentrifft, schmeckt das nach Barbecue, Sommer und Grillfest, ganz ausgezeichnet. (8,5/10)

Ich hatte beim Ticketkauf die Weinbegleitung mit ausgewählt (insgesamt umgerechnet ca. € 527 pro Person), was ich sonst nie tue. Hier war der Prozess aber etwas irreführend. So lasse ich die vinophilen Freuden nun einfach auf mich zukommen, das ist auch mal ganz angenehm. Die Amuse-bouches begleitete gerade ein 2006er Dom Pérignon, der auch noch mal nachgeschenkt wird. Das kann man sich ruhig gefallen lassen. Ich habe so etwas lieber als irgendeinen „ganz spannenden Schaumwein, der wie ein Champagner hergestellt wird, aber eben keiner ist“.

Nach dem Dompi geht es weiter mit einer in einem aufgeschnittenen Hühnerei servierten Kreation mit mehreren, geschichteten Komponenten in unterschiedlichen Temperaturen und Texturen. Im Glas ist dazu ein 1999er Chablis Premier Cru „Côte de Lechet“ von der Domaine Barat, grenzwertig gereift, aber interessant. Der für geübte Esser entbehrliche Hinweis, man solle mit dem Löffel unten anfangen und alle Komponenten gleichzeitig aufnehmen, fehlt natürlich nicht. In einer solchen Portion findet man dann eine custard mit Olivenöl, Seeigel, eine schaumige Masse aus Rambutan (eine litschiähnliche Frucht) sowie Australische Fingerlimette. „Dalí und Kahlo“ heißt das Gericht vermutlich wegen des (spanischen) Olivenöls und der (mittelamerikanischen) Rambutan, wenngleich ich den geballten Intellekt der namensgebenden Künstler nicht in dieser kleinen Speise finde. Dafür aber zweifelsfreien Genuss, hervorragende Zutaten und makelloses Handwerk. (8,5/10)

Spanischer Steinbutt wird auf drei Arten serviert, auf dem Hauptteller in Form eines perfekt gegarten, saftig-weißen Mittelstücks aus dem Filet, das mit gedünsteten Rote-Bete-„Schuppen“ bedeckt ist und in einer warmen, leicht pikanten Ajoblanco-Sauce angerichtet ist. Deren Knoblauchbasis ist dezent, sie erinnert geschmacklich sehr an Gazpacho, was den Fisch und mich als Esser unerwartet nach Andalusien transportiert. Gebrannter Lauch und gegrillte Baby-Tintenfische schmecken dazu nach Sommer. Separat gibt es, lässig als fettige Fingersnacks zubereitet, ein Stück knusprig frittierte Fischhaut mit Avocado-Mousse und Limette, sowie ein Tempura von einem Flossenstück, das man in eine Crème fraîche mit Frühlingszwiebeln stippt und das charmant nach altem Koffer schmeckt. Ist das alles nicht herrlich? (8,5/10)

Im Glas versiegt gerade eine 2014er Riesling Spätlese „Ockfener Bockstein“ vom Weingut St. Urbans-Hof. Es folgt ein 2015er „Primofiore“ vom Weingut Giuseppe Quintarelli aus Venetien, der leider mehrere Grad zu warm ist, was ich höflich anmerke. Man ist auch irritiert darüber, denn die Weine würden korrekt temperiert gelagert; dieser hier stand offenbar schon zu lange draußen. Es dauert ein wenig, bis kühlerer Nachschub kommt, aber er kommt.

In der Zwischenzeit probiere ich den nächsten Gang. Es gibt „Breakfast for Dinner“, so der Titel des Gerichts. Gemeint ist ein French Toast (Armer Ritter), bestrichen mit Foie Gras und gehobeltem schwarzem Trüffel. Der „Toast mit Trüffel“-Trend, der nicht zuletzt Björn Frantzén zum Ultimum ausgearbeitet hat, ist hier etwas süffiger, ungezwungener umgesetzt. Weniger in die Höhe angerichtet, dafür warm, fettig und mit betörendem Schmelz, lediglich die fadenartige Textur aus der Microplane will mir bei Trüffel partout nicht gefallen. Aber wen kümmert’s, bei dem Genuss? (8,9/10)

Weinseitig geht es weiter mit einem 2001er Château Lascombes aus Margaux, ein Klassiker, den ich lange nicht probiert habe. Macht sich gut!

Das folgende Gericht heißt One Hundred & Fifty Layer Lasagnaund ist genau das, was da steht. Eine Lasagne mit unzähligen, hauchfeinen ‒ senkrecht aufgestellten ‒ Nudelschichten, ist knusprig gebacken, obenauf dunkelbraun geröstet wie ein Filetsteak und mit gehobeltem Parmesan bedeckt. Der beginnt schnell zu schmelzen und ist gegen das, was noch folgt, ohnehin machtlos. Der Kellner übergießt das Ganze nämlich mit ein, zwei Kellen Fra-Diavolo-Sauce, eine pikante Tomatensauce, hier in einer Version mit Hummer und Oktopus ‒ eigentlich ein ganzes Gericht für sich allein. All das ist schon sensationell, vom Handwerk der Pasta, über die bodenständige Idee an sich, bis hin zu den unverkennbar feinen Meeresfrüchten.

Um die Wucht kontrastieren zu können, wird dazu tischseitig ein Salat zubereitet, mit sorgfältig ausgewählten Blättern verschiedener Chiroréesorten und Römersalat und einer mit einem Wachtelei und Pommerysenf angerührten Vinaigrette. Der Salat ist knackig frisch, angenehm kühl, saftig, und die Vinaigrette ‒ leicht cremig und schön säurebetont ‒ ist eine der besten, die ich je probiert habe (ich mache selbst nicht allzu schlechte). Die Freude, die ich einem derart perfekten Salat abgewinnen kann, ist immer riesig. Man kann sich so scheinbar trivialen Dingen wie Salaten mit einer Art japanischen Pedanterie widmen, die sich auszahlt, wie in diesem Fall. In Summe ‒ die luxuriöse Lasagne und der knackige Salat ‒ ist das eines der zufriedenstellendsten Gerichte, die ich seit langem gegessen habe. (10/10)

Und es geht weiter. Eine fingerdicke Scheibe Australisches Wagyu gart auf einem Tischgrill zu Ende, während die restlichen Zutaten aufgetischt werden. Zum Fleisch gibt es eine Schüssel mit verschiedenen Hülsenfrüchten wie Bohnen und Kichererbsen, dazu einige Kräuter und zwei Saucen, Minz-Chimichurri und eine „Harissa-Emulsion“. Das damit aus vielen Teilen der Welt inspirierte Gericht folgt der Idee eines ungezwungenen Barbecues. Die Bohnen und die Chimichurri-Sauce, alles ausgesprochen fein zubereitet und präzise abgeschmeckt, deuten dabei geschmacklich in Richtung Südamerika. Das ist alles vorzüglich, Weltklasse sogar, nur das Fleisch ist etwas zu kalt ‒ der Tischgrill war offenbar nicht besonders heiß. Ein fast unerheblicher Wermutstropfen bei den dargebotenen Qualitäten. (8,5/10)

Das erste Dessert ist ein Apfelkuchen, saftig, süß und warm, der mit einer Apfelsauce und geschmolzenem Grayson-Käse übergossen ist. Die zunächst verwunderliche Zutat ist von einem kulinarisch eher zweifelhaften Brauch im Mittleren Westen inspiriert und verleiht dem verführerisch nach Spekulatius, Karamell und Apfel schmeckenden Kuchen einen salzigen Twist, der wunderbar ist. Dazu passt ein makelloses Vanilleeis. Schlicht, kurzweilig, große Klasse. (8,9/10)

Der „richtige“ Käsegang folgt in Form eines Epoisse-Eis’. Der kühle Schmelz nimmt dem Käse etwas von seiner Intensität, dennoch ‒ oder gerade deswegen ‒ würde ich das Original aber jederzeit bevorzugen. Dazu, als fester Bestandteil des Gerichts, nicht der Weinbegleitung, wird in einem großen Schwenker, der über einem Teelicht warmgehalten wird, ein Lazzaroni-Amaretto serviert, der mit Périgord-Trüffeln aromatisiert ist. Der mandelartige Geschmack des Getränks und die „Erdigkeit“ des Trüffels passen gut zum Käsegeschmack, doch ich bin absolut kein Freund von Amaretto ‒ zu süß, zu klebrig, zu warm. Dennoch objektiv sehr gut und ein origineller Abschluss. (7/10)

Es gab in dem hervorragenden Essen eine repetitive Zutat, die dafür gesorgt hat, dass ich diesen Abend als Gesamtereignis so schnell nicht vergessen werde. Die Zutat heißt Ungezwungenheit. Von der wohnlichen Einrichtung über das Personal, das man am liebsten zu sich an den Tisch bitten möchte, bis hin zu den unverkopften Speisen, die keinem Dogma folgen, inklusive dem Dogma, keinem Dogma folgen zu wollen. Es kommen gute und nahbare Dinge auf den Tisch, die dabei aber stets raffiniert genug sind, um die zwei Michelin-Sterne mühelos nachvollziehen zu können.

Wenn man das Restaurant verlässt, durch den inzwischen leeren Vorraum, durch die Schleuse mit der Klapptür und hinaus in die Nacht, ist es schön, sich noch einmal umzudrehen. Diese unscheinbare Fassade beherbergt ein seltenes Juwel der Gastfreundschaft und des Genusses. Washington also, wer hätte das gedacht?

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Pineapple & Pearls (→ Website)
Chef de Cuisine: Bin Lu
Ort: Washington, D.C., USA
Datum dieses Besuchs: 07.03.2020
Guide Michelin (Washington, D.C. 2020): **
Meine Bewertung dieses Essens: 8,5 (Was bedeutet das?)
Diskussion bei Facebook: hier klicken