The Jane ‒ Nick brilliert

Als Sergio Herman vor sieben Jahren das The Jane in einer ehemaligen Kirche in Antwerpen eröffnete, fand die Gastro-Welt schnell Einigung darüber, dass das Konzept nicht weniger als spektakulär zu bewerten ist. Der niederländische Ausnahmekoch und längst auch Ausnahmegastronom hat ein Händchen für eindrucksvolle Gastronomiekonzepte von Welt ‒ und liefert immer auch die entsprechende kulinarische Qualität sowie eine ordentliche Portion Lässigkeit mit. Die Professionalität, die hierbei am Werk ist, ist vergleichbar mit Geschützen wie Alain Ducasse oder Thomas Keller.

Aber Sergio Herman ist raus aus dem The Jane. Erst seit wenigen Monaten ist der bisherige Küchenchef und Teilinhaber Nick Bril alleiniger Betreiber des Restaurants. Die Hintergründe kenne ich nicht. Mir ist dieses Detail auch noch nicht bekannt, als ich heute, viele Jahre nach meinem letzten Besuch hier, erneut vor den heiligen Pforten stehe. Mir fällt nur auf, dass der große Totenkopf fehlt, der zuvor als Deko-Objekt die Sünden unterstrich, die man hier beging. Vielleicht hat Herman ihn mitgenommen, an seinen nächsten sündigen Ort. Die gigantische Leuchte, die immer noch eines der markantesten Objekte im Raum ist, war wohl etwas sperrig.

Das Ambiente ist noch immer so spektakulär wie eh und je. Es gibt unzählige Details, an denen man sich den ganzen Abend lang sattsehen kann, von den eigens entwickelten Fenstermosaiken bis zur erhobenen, offenen Küche, wo früher wohl der Altar stand.

Ich beginne den Abend mit meinem aktuellen Habitus, auf ein Glas Champagner zu verzichten und stattdessen gleich mit einer Flasche Weißwein loszulegen. Die Entscheidung aus der umfangreichen Karte fällt auf einen 2016er Meursault »Clos des Bouchères« von der Domaine Roulot (€ 375).

Im The Jane wird ein festes Menü serviert (»Flavours Of The Jane«, zehn Gerichte, € 215). Die prosaischen Titel der Speisen in Verbindung mit einer langen Zutatenliste, davon vieles aus dem Meer, versprechen eine kurzweilige und kreative kulinarische Reise.

Es geht los mit Auster in einer säuerlich-fruchtigen Geschmackswelt. Die Art, Austern in vergleichbarer Form anzurichten ‒ oft z. B. mit Gurke, Granité und etwas Essigbasiertem ‒ ist häufiger in Restaurants vorzufinden; hier sind es jedoch aromatische Details, die die Kreation gleich auf ein Weltklasseniveau heben. Ein Planktongranité unterstreicht die Frische der Auster mit Kälte und appetitlicher Bitterkeit, eine Gurkenscheibe erweitert den Eindruck von Meeresfrische, und etwas Pfirsich mischt sich wie ein Parfüm dazwischen. Ein eindrucksvoller Start. (9/10)

Ebenfalls hervorragend sind im Anschluss marinierte, sehr zarte Matjesfilets, die mit einer ganzen Reihe an Mitspielern serviert werden. Unter anderem sorgen zum Beispiel Senfsaat und eine Schalottenscheibe für eine süffige, deftige Kombination mit dem herzhaften Fisch, wogegen sich auf dem Rest des Tellers ein ganzes Universum weiterer Geschmackskombinationen ergeben, von cremig und »breit« durch etwas Frischkäse, bis zu frisch und feingliedrig durch Safranvinaigrette, Erbsen und, separat serviert, ein Espuma von Bier und Käse in einer Tartelette. Sehr beeindruckend. (8/10)

Die nächste Menüfolge besteht aus drei Kreationen, die in sehr individuellem Geschirr (namens »FLUX«) einer lokalen Objektgestalterin (namens Aylin Hazel) serviert werden, wie man erfährt. Worum es sich kulinarisch handelt, trägt Küchenchef Nick Bril selbst am Tisch vor. Ganz grob geht es einmal um ein Tatar vom Balfegó-Thunfischbauch mit Kaviar, Wasabi, Kohlrabi und »Mary V«-Tomatensaft; dann um Chawanmushi mit Ingwer-Dashi, Pilzen, Erbsen und Nordseekrabben; und schließlich um eine Teigtasche mit geschmortem Bauch und Nacken vom Duroc-Schwein, dazu mit Zitrusfrüchten marinierter und behutsam geräucherter Kaisergranat, Mandelvinaigrette und Szechuanpfeffer. Sowohl der vollmundige Thunfischbauch mit Kaviar als auch das hervorragend zubereitete Chawanmushi mit salziger Tiefe und schließlich noch die fragilen Zitrusaromen und der leicht die Lippen betäubende Szechuanpfeffer lassen mich für einen längeren Moment wegen einiger geschmacklicher Assoziationen an die Küche Japans die Augen schließen. Doch um den kompromisslosen Purismus Japans geht es hier nicht, was nicht nur die Fülle an weiteren Zutatendetails verrät, sondern auch die süffige, süßliche Teigtasche, deren an die Thai-Küche erinnernder Duft von rotem Curry betörend über den Schälchen schwebt. Ein aufwühlend gutes Ensemble. (9/10)

Aal, Verjus, Blumenkohl und Entenleber geben beim nächsten Gericht die schmackhaften Töne an. Während einige Stifte von grünem Apfel sowie der (geräucherte) Aal noch ganz »natürlich« Verwendung finden, sind weitere Komponenten deutlich stärker verarbeitet, von der Entenlebermousse über Verjus-Gel bis zu Blumenkohlstaub und gefrorenen Apfelkügelchen, die man am Platz über das Gericht streut. Die Skepsis, die sich deshalb bei mir zunächst bemerkbar macht, löst sich nach dem ersten Probierlöffel jedoch rasch in feinsten Wohlgeschmack auf. Während der Aal mit seinem auffällig feinen, aber stets präsenten Geschmack und seiner Opulenz eindeutig im Mittelpunkt des Gerichts steht, spielen alle anderen Komponenten mit ihm, mal mit ergänzendem, üppigem Schmelz wie bei der Entenleber, mal spannungsvoll säuerlich wie bei beim Apfel, ein anderes Mal überraschend wie beim gepufften Weizen. Erneut mehr als hervorragend. (8,9/10)

Die Stimmung im Restaurant ist ausgelassen. Der smarte, passionierte Service ‒ jeder brennt hier für Gastronomie, gutes Essen und feine Weine ‒, das einzigartige Ambiente mit all seinen Facetten, dazu der lässige Soundtrack: all das würde wohl kaum jemand in Belgien vermuten, doch genau hier geht es gerade so kosmopolitisch zu wie in Paris oder New York.

Als nächstes gelangt ein Gericht mit Pollack an den Tisch. Der schneeweiße, appetitlich goldbraun gebratene Fisch ist deutlich klassischer angerichtet, das signalisiert schon seine eindeutige Platzierung als Hauptzutat in der Tellermitte. Zu dem qualitativ fabelhaften Fisch unterstreicht eine perfekt abgeschmeckte beurre noisette (zum Nachnehmen!) zunächst auch ein traditionelleres (französisches) Geschmacksbild auf höchstem handwerklichem Niveau. Doch das Genusserlebnis reicht viel weiter. Für verführerischen Knusperspaß mit viel Umami-Würze sorgen getrocknete Flocken (Furikake) aus Fischschuppen, Kartoffeln und Kapern, qualitativ hervorragende Bouchot-Muscheln erweitern dabei den eleganten Meeresaspekt des Gerichts. Der klare Produktfokus und das Bisschen mehr Klassik bringen bei mir diejenige Emotionalität ins Spiel, die ich nur bei wenigen der besten Gerichte der Welt so erlebe. (10/10)

Dann folgt Hummer: makellose Qualität aus Schottland, nussig-süß, gegrillt über japanischer Binchotan-Holzkohle. Dazu ein gekonnt mit Zitronengras und Kokos aromatisierter, recht scharfer Schaum, der am Gaumen ein spannendes Spiel mit einer ebenfalls pikanten Hummerbisque austrägt. Man schmeckt noch viele weitere Details, unter anderem eine angenehme Süße eines Karottenpürees, salzige Akzente von Queller sowie eine fruchtige, erdige Note von fermentierter roter Bete. Doch im Kern steht der fabelhafte Hummer und das kurzweilige Spiel zwischen Thai-Aromen und abermals französischer Klassik. Das Weltklasseniveau wird nicht verlassen. (9/10)

Als nächstes folgt eine Kreation um Kalb, genauer um ein Jungtier von einer alten baskischen Kuh (Txogitxu), Letztere eine bekannte Delikatesse, die man an ihren intensiven Geschmack, dunklem Fleisch und gelblichem Fett erkennt. Das Stück Kalb auf dem ersten Teller weist ebenfalls appetitliche, bei Kalb eher seltene, Fetteinschlüsse auf, die sich am Gaumen als köstlicher Schmelz bemerkbar machen. Begleitet wird all das von einer cremigen Sauce Choron mit ausgeprägtem Estragon-Geschmack, fast surreal knackigem Gemüse, das einen mit seiner Frische regelrecht anspringt, sowie von einem äußerst aromatischen Jus in Form einer Boullion aus Kalb und Taube mit Knochenmark. Dieses vor Umami strotzende Elixier gibt es noch einmal separat zum Nachnehmen, was natürlich nicht als Option zu verstehen ist. In einem anderen Teller gibt es weitere Abschnitte vom Kalb in einem wiederum anderen Jus, ebenfalls schon für sich betrachtet ein Hochgenuss. Die drei Zubereitungen laden zu ständigem Hin-und-her-Probieren ein, es schmeckt mal nach sommerlichem Grillfest, mal nach einem glasklaren Frühlingsmorgen, mal nach Lagerfeuer. Es gibt nur ein Problem, und das ist groß: es ist irgendwann vorbei. (9/10)

Was zum Glück noch nicht meinen Abend im Restaurant betrifft. Inmitten der dynamischen, stimmungsvollen Atmosphäre der alten Kathedrale geht es erst einmal mit Käse weiter ‒ eine Option, die das erste Dessert ersetzt (dennoch zzgl. € 10).

Die Käseauswahl wurde bereits vom Restaurant getätigt, was ich prinzipiell begrüße. Das Auffahren eines Käsewagens wäre in diesem Rahmen auch etwas deplatziert. Die Käsesorten stammen aus verschiedenen Ländern Europas, von den Niederlanden bis zu Italien. Die Auswahl erfüllt ihren Zweck, kommt aber an die wunderbar gereiften Käse der meisten französischen Affineure nicht heran. Ein appetitlich säuerlich-frischer Salat dazu bereitet größere Freude.

Die erste Süßspeise rankt dann um die Zutaten Aprikose, Karotte, Buttermilch und Mexikanische Gewürztagetes (Huacatay). Die fruchtige Aprikose im Zusammenhang mit der Buttermilch bietet unkompliziertes, aber nicht weniger einfallsreiches Dessertvergnügen. Die Blüten sorgen für eine Art parfümierte Bitterkeit, gleichzeitig bietet das Dessert genau denjenigen Grad an Süße, der mir in der kreativen nordischen Küche oft fehlt. Ich führe diese hier nur zum Vergleich an, da man von der Zutatenseite das Dessert dort verorten könnte. Separat dazu genießt man noch eine Tartelette mit einer Aprikosensphäre ‒ ebenfalls hervorragend. (8/10)

Den Abschluss des Menüs bilden, ganz klassisch, einige Pralinen im französischen Stil. Eine unscheinbare blaue Praline schmeckt nach »Toffifee« auf Spitzenniveau, ein Macaron mit Passionsfruchtfüllung nach Karibik; und ein Canelé rundet mit seinem Geschmack nach Rum und Vanille den kurzen exotischen Ausklang ab.

Draußen, in der schwülwarmen Sommernacht, folgt Sturzregen. Ich flüchte ‒ auch, um ein Taxi zu bekommen ‒ in das brandneue Hotel August nebenan. Das Designhotel beherbergt ein weiteres Restaurant von Nick Bril, das auch schon prompt besternt wurde. Es wird nicht der letzte Stern sein, der über diesem Gelände leuchtet.

Als mein Taxi nach einer knappen Stunde kommt, fühle ich mich fast überrumpelt. Es erscheint mir falsch, diesen Ort ‒ oder Antwerpen ‒ jetzt zu verlassen, wo es noch so viel zu entdecken gibt. Doch nun heißt es auf Wiedersehen und auf bald. Das meine ich wörtlich.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: The Jane (→ Website)
Chef de Cuisine: Nick Bril
Ort: Antwerpen, Belgien
Datum dieses Besuchs: 19.06.2021
Guide Michelin (B & LU 2021): **
Meine Bewertung dieses Essens: 8,9 (Was bedeutet das?)
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