Plénitude – mit Kopf, Herz und Basis

An der Seine, direkt am Pont Neuf, eröffnete vergangenen Herbst das Hotel Cheval Blanc, eine Marke des Luxuskonzerns LVMH. Weitere Häuser findet man in Saint-Tropez, Courchevel, auf den Malediven und Saint-Barthélemy. Nun also auch in Paris, der Heimat des Konzerns.

Das neue Haus befindet sich im ehemaligen Kaufhaus La Samaritaine, das in einem mehrjährigen Bauvorhaben komplett entkernt wurde und neben dem außergewöhnlichen Hotel noch weitere Einrichtungen enthält.

Kulinarisch und gastronomisch macht man in den Cheval Blanc-Häusern, neben allen anderen Dingen, keine Kompromisse. Mit dem Le 1947 und dem La Vague d’Or findet man bereits zwei Drei-Sterne-Restaurants im Hotel-Portfolio; die Restaurants der weiteren Häuser sind vermutlich nur deshalb nicht besternt, weil der Guide Michelin dort keine Auszeichnungen vergibt.

Warum nicht Bewährtes fortsetzen, hat man sich vermutlich gedacht, und den Küchenchef des La Vague d’Or aus Saint-Tropez, Arnaud Donckele, nun auch für Paris begeistert. Dort ist er jetzt Küchenchef des neuen Plénitude, eines der drei Hotel-Restaurants. Dass man hier höchste Weihen im Blick hat, macht nicht nur die Wahl von Donckele deutlich, sondern auch der Name des Restaurants, der sich in etwa mit »Erfülltheit« oder »Vollkommenheit« übersetzen lässt, in jedem Fall aber Kompromisse oder Luft nach oben nicht beinhaltet.

Das Plénitude ist in Paris gerade in aller Munde, und da mein Essen im La Vague d’Or vor sechs Jahren nach wie vor zu einigen meiner unvergesslichsten zählt, habe ich mich neulich im Cheval Blanc einquartiert, um mir ein Bild von der neuen, weiteren Wirkstätte des Küchenchefs zu machen.

Das Restaurant befindet sich im ersten Obergeschoss des Hotels. Elf Tische haben alle einen Blick auf die Seine und den Pont Neuf, entweder direkt am Fenster oder, auf einem Podest, etwas weiter zurückgesetzt. Die Materialien des Interieurs sind, wie im gesamten Hotel, vom Feinsten, wenngleich der Dekor- und Farbmix, sagen wir, Geschmackssache sind.

Am Tisch erläutert das Personal zunächst den Aufbau der Speisekarte und damit auch das Konzept der Küche. Spätestens jetzt erfährt man, dass sich hier im Plénitude alles um Saucen dreht – selbst die Speisen. Dabei geht es nicht um das längst abgeschlossene Kapitel klassischer Fonds, Jus und Saucen, sondern um komplexe Kreationen, die so aufwändig komponiert sind wie ein Parfüm. Donckele greift für diese Kompositionen auf zahlreiche, oft konservierte, Zubereitungen zurück.

Entsprechend findet man in der Speisekarte drei Seiten (übertitelt mit »Einstimmungen«, »Süße und salzige Gewässer« sowie »Ländliche Weiden und Böden«) mit jeweils vier herzhaften Gerichten, deren taktangebende Sauce – bestehend aus bis zu sechzehn Komponenten – jeweils noch einmal separat in einem kleinen umklappbaren Falz ausgeführt ist. Das Ganze wiederholt sich für die »Lieblichen und süßen Aromen«. Jeweils ein Gang aus allen Rubriken, also drei herzhafte und ein süßer, ergeben dann das Menü zum Preis von € 320. Nach einer Weile des Reflektierens über die Gerichte, die man, aller Saucen zum Trotz, natürlich dennoch mit ihren Hauptzutaten beschreibt, steht meine Auswahl.

Dieses Konzept unterscheidet sich wesentlich von der Küche im La Vague d’Or, wo Donckele eine provenzalische Mittelmeerküche präsentiert. Mitnichten versucht man hier also, Saint-Tropez nach Paris zu klonen.

Die Weinkarte lässt, bis auf Mittelmaß, keine Wünsche offen. Prestigeträchtigen Marken des LVMH-Konzerns wie Château Cheval Blanc, Château d’Yquem, Krug und Dom Pérignon widmet man besonders viel Platz, doch auch darüber hinaus ist die Auswahl erschöpfend, bis hin zu Weinen der Domaine d’Auvenay und Romanée-Conti. Meine Wahl fällt auf eine Flasche 2014er Vosne-Romanée der selten vorzufindenden, exzellenten Domaine Sylvain Cathiard (€ 300). Momentan steht erst mal noch ein Glas Champagner auf dem Tisch.

Im Rahmen der Amuse-Bouches schmeckt eine gegrillte Auster »perle noire n°3« mit himmlisch leichtem Champagnerschaum, einem zitrusfrischen Gelee sowie Akzenten von Fenchel unmissverständlich und klar nach Sommer und Leichtigkeit (8,9/10). Eine hauchdünne, geröstete Scheibe Roggenbrot, auf die man mit »Bottarga vom Kaviar« aromatisierte Butter hat schmelzen lassen, bietet dazu einen Texturkontrast und zusammen mit einigen Algen ein sogar noch maritimeres Geschmacksbild. Das ist simpel, aber gerade deswegen so hervorragend. (8,5/10)

Der dritte Snack ist eine besonders hauchdünn gearbeitete Tartelette aus Kartoffelteig, die mit aufgeschlagener Algen-Sahne, mariniertem und gegrilltem Wels und einem Zwiebelkompott mit Schnittlauch das Bild eines sommerlichen Grillabends an der Riviera noch einmal eindrucksvoll untermauert. Besonders das Zusammenspiel vom sehr präsenten Kartoffelaroma und der eleganten Fischkomposition ist begeisternd. (9/10)

Richtig magisch wird es dann mit einem weiteren Amuse. Eine über Holzkohle gegarte Schnecke aus dem Burgund wird in ihrem Gehäuse zusammen mit winzigen Würfeln getrockneter Entenbrust serviert. Dazu, in diesem Fall weiter im Inneren des Gehäuses, gibt es die erste Saucenkreation von Donckele. Die »Boullion ›rosée de primtemps‹« besteht aus einer Essenz der beiden Hauptzutaten Schnecke und Entenbrust sowie Zubereitungen aus Zwiebel, Fenchel, angeschwitztem Sellerie, konservierter und gedämpfter Romana-Tomate, einer Infusion aus Ingwer und Zitronengras, Sternanis, Basilikum, einer Reduktion aus Chardonnay und Pastis, Yuzu-Jus, Fenchelessenz, Olivenöl mit Zitronenabrieb und Paradieskörnern. All das erläutert der Service fließend und ohne Spickzettel, mehr noch, die Aromen werden sogar, analog zur Beschreibung eines Parfüms, mit Kopf-, Herz- und Basisnoten beschrieben. All das ist atemberaubend. Die rauchig-herzhafte, qualitativ herausragende Schnecke, deren Aromen über die Sauce weitergetragen und mit dem floralen Aroma eines Rosenblatts ihren krönenden Abschluss finden, ist unvergesslich. (10/10)

Die Sauce gibt es dazu noch einmal separat zum Verkosten, wie auch bei jedem der folgenden Gänge. Tatsächlich regt der Service an, die jeweilige Sauce immer zuerst zu probieren.

So stellt die Basis für den nächsten Gang eine »Vinaigrette ›ambroise‹« dar. Sie wurde mit Pampelmuse, Ingwer, Tannenhonig, Enzian, einer Infusion von Lorbeer, Bärenklau und Limone, Olivenöl, Krustentieröl und Timutpfeffer komponiert. Das ölige, pikante, frische Elixier begleitet eine Komposition aus marinierter Makrele sowie geröstetem und naturbelassenem weißem Spargel. Die zarte, aber noch bissfeste Textur des Fischs, die behutsame Süße des außergewöhnlich guten Spargels und die mutig-pikante, leicht herbe Sauce, die Gedanken an eine felsige Küste hervorruft, sind wie von einer anderen Welt. (10/10)

Der nun erste offizielle Gang aus der Speisekarte rankt um eine »Velours ›d’Eden‹«. Die pastellgrüne Sauce mit öligem Schimmer hat eine sämige, etwas »schroffe« Textur und stellt mir ihrem pikanten, salzigen Geschmack, der an ein gewissenhaft hergestelltes Caesar Dressing erinnert, den Protagonisten des Gerichts vor: Sardine. Eine solche befindet sich – neben diversen weiteren Zutaten – in gegrillter Form sowohl in der Sauce als auch, mit Estragon mariniert, auf dem Teller. Dort teilt sie sich den Platz mit rohem, gegrilltem und mariniertem Fenchel, Fenchelsorbet, Tagetes und einem Dressing aus Hechtkaviar und Lauch. Man schmeckt Salziges, Pikantes, Maritimes und Sommerliches; gerade Letzteres wird durch den kühlen Kontrast des Sorbets akzentuiert. Das Beeindruckendste an dieser Kreation ist die erhabene Authentizität von Aromen, Zutaten und Techniken. Kein Schaum will beeindrucken, kein Texturgeber buhlt um Aufmerksamkeit, kein Produkt ist »luxuriös«. Nur böse Menschen bekommen hierbei keine Gänsehaut. (10/10)

Mit dem nächsten Gericht schiebt die Küche noch einen Extragang ein. Das Leitmotiv ist eine »Consommé ›plume sauvage‹«. Die Sauce, die Küchenchef Donckele eigens am Tisch aus einer Glasschüssel abschöpft, aus der noch ein ausgekochter Fasan herausguckt, wird in einem eigenen Probierglas serviert. Neben dem Geflügel enthält sie »Pilzwasser«, verbrannten Fenchel, Bohnenkraut, Wermut, Cognac, Lorbeer, Wacholder, Geflügelleber, Gin, Schalotten, Sojasauce, Kirschbaumholz, gerösteten Dinkel und Kubeben-Pfeffer – größtenteils also klassische, würzig-holzige Zutaten im Zusammenhang mit Wildgerichten. Der Probierschluck der Sauce ist so gut wie der Vosne-Romanée: leicht, würzig, französisch-elegant.

Die Sauce wird schließlich noch zum »festeren« Teil des Gerichts angegossen, in diesem Fall sind das kleine, akkurat hergestellte Farfalle, Teile des Fasans und einige Gemüse wie letzte Périgord-Trüffeln (von noch immer frappierender Güte) sowie verschiedene Kräuter. Auf ganz leise Art, fast schon en passant, vermittelt das Gericht das Ausklingen des Winters. Das ist unglaublich poetisch. (9/10)

Zu »Fumé de roche ›bravade‹« gibt es Rotbarbe. Sie liegt, mit längs eingeschnitten Rillen, sanft gegart auf dem Teller. Dazu sind verschiedene weitere Komponenten wie Sellerie und verschiedene Kräuter angerichtet. Die Sauce selbst besteht aus verschiedenen Felsenfischen aus dem Mittelmeer, Pastis, Cognac, Schalotten, Fenchel, Sellerie, Krabbenbouillon, Orangenschale, Basilikum, Krokus, Kartoffel, Olivenöl, »Seeigel-Saft«, und Voatsiperifery-Pfeffer – also traditionelle Zutaten für die Herstellung eines Fischfonds. Zu der leichten, aber aromatisch komplexen Sauce wird noch eine mit Seeigel aromatisierte Gemüse-Sabayon hinzugegeben, die einen prägnanten, jodigen Kontrast beisteuert. Die Rotbarbe selbst ist vielleicht die beste, die ich je probiert habe, was nicht nur ihrer Qualität zuzuschreiben ist, sondern auch ihrer Zubereitung. Die exakte Garung ist eine, das andere die Einschnitttechnik mit den Rillen, die sowohl für ein leichteres Zerteilen sorgt als auch für ein kurzweiliges Mundgefühl. Dass man Schnitttechniken gar nicht genug Aufmerksamkeit schenken kann, demonstrieren Japaner schon seit Jahrhunderten. Absolut herausragend. (10/10)

Für eine abkühlende Erfrischung geht es kurz in einen gemütlichen Nebenraum in der Küche. Donckele selbst serviert hier die Interpretation eines »Trou Normand«, eine Referenz auf die normannische Herkunft des Küchenchefs. Die kleine Erfrischung besteht aus einem Apfelgranité, einer weiteren Eiszubereitung aus Granatapfel sowie Calvados, der separat angegossen wird. Das schmeckt weihnachtlich, nach Apfel und Zimt; Komplexität kommt durch blumige, fruchtige Aromen hinzu. Man kann leicht über solche Speisen »hinwegessen«, aber diese zählt mit zu den besten »Gaumen-Erfrischern«, die ich je probiert habe. (9/10)

Zurück am Tisch wird jetzt der Hauptgang serviert. Zur Sauce – »Fricassée ›dévoyé‹«, bestehend aus Kalbsfond, Ingwer-Schalotten-Reduktion, Ingwer-Essenz, Salbei-Infusion, Zitronengras, Lorbeer, Orangen- und Yuzu-Zesten, Mandarine-Pflaumenkern-Öl, Schwarzwurzel, Topinambur, gerösteter Mandel, Karotte und Timut-Pfeffer – gibt es Kalb in mehreren Varianten. Auf dem Hauptteller gesellt sich ein rosa gebratenes Filet zu Stücken von Bitterorange, Schwarzwurzel, Topinambur, Karotten, Mandeln und weiterem Gemüse. Eine zusätzliche, leicht aufgeschäumte »sauce blanquette de veau« mit Salbei wird auch noch separat angegossen. Das Fleisch selbst hat alle Eigenschaften eines makellos zubereiteten Kalbsfilets, ein Fleisch, das immer erst im Zusammenspiel mit anderen Zutaten glänzt. Die Komposition hier ist angenehm leicht und frühlingshaft. Auf dem zweiten Teller geht es etwas kräftiger zu; hier findet man nach Art eines Pilaw knusprigen Reis zusammen mit einer geschmorten Kalbsbacke und der »Leitsauce« des Gerichts. In Summe ist das ein hervorragender Fleischgang, der durch Leichtigkeit, Ideenreichtum und einem abermals großen Aromaspektrum vollends begeistert. (9/10)

Das von mir gewählte Dessert basiert auf Zitrusfrüchten und trägt den Titel »composition satinée« (»samtige Komposition«). Im Mittelpunkt des bildhübschen Werks steht eine zur Rose geformte Kreation mit »Blättern« aus Meringue, die tatsächlich eine angenehme, samtig-seidige Textur aufweisen, sowie, als »Fruchtkörper«, ein Potpourri aus den Saftschläuchen (der kleinsten Komponente des Fruchtfleischs) sechs verschiedener Zitrusfrüchte, die mit Kräutern und Pfeffern aromatisch wieder in ein parfümartiges Werk überführt wurden. Das Ganze ist die Begleitung für eine »sauce pectinée et condimentée«, bestehend aus mazerierter Zitrone, Zuckerrohr, Zitronenzeste, einem mit Mandarine aromatisierten Olivenöl und erneut den einzelnen Saftschläuchen der Früchte, die auf dem Teller verteilt sind als wären es zarte Pinselstriche eines Aquarells. Die Côte d’Azur ruft, für einen kurzen Moment scheint eine laue Sommerbrise um den Tisch zu ziehen, das Dessert raubt mir die Sinne. (10/10)

Drei – kaum minder begeisternde – Petit-Fours schließen das Mahl ohne weitere Umschweife ab. Es gibt ein erfrischendes, mild-kräuteriges Lorbeereis; eine Tartelette mit intensiv schmeckender Walnuss; sowie eine umwerfende Kreation mit Quitte, knuspriger Kastanie und einer Wolke aus Rosmarin. (9/10)

Dass man das Mahl hier auf einer Wolke beendet, hätte man kaum noch einmal dinglich machen müssen. Im Plénitude beeindrucken gleich mehrere Dinge. Dass es Donckele gelingt, ein gänzlich anderes Konzept als in Saint-Tropez umzusetzen, unterstreicht die Vielseitigkeit und Kreativität von einem der zweifellos gerade besten Küchenchefs in Frankreich. Man kann nur hoffen, dass durch das Pendeln zwischen den Restaurants (das im Winter durch die Schließung in Saint-Tropez entfällt) keine zu große Friktion entsteht.

Der andere, wesentliche, Aspekt ist natürlich die Herangehensweise an das Essen über die Saucen. Die flüssigen Kompositionen, die tatsächlich mehr mit Parfüms als mit Saucen gemeinsam haben, sind nicht weniger als grandios. Sie machen Donckele, neben einem Koch, zu einem Parfümeur, einem Handwerker von Aromen und Düften. Dass einige der besten Parfümhäuser hier aus Paris stammen, ist kein Zufall. Elegante Düfte (fernab der bekannten Modemarken) weiß man hier zu schätzen. Die Boutique von Serge Lutens ist nur zehn Gehminuten von hier entfernt, die duftenden Geschäfte von Diptyque gibt es mehrfach in der Stadt.

Die Basisnote des Plénitude ist auch nach einer Woche nicht abgeklungen. Sie duftet nach den Aromen des Sommers, nach der Eleganz von Paris und der Leichtigkeit des Mittelmeers. Die Haltbarkeit dieser Note konnte ich daher noch nicht ermitteln. Im Zweifel bleibt sie bei einem. Damit muss man sich dann arrangieren.

Informationen zu diesen Besuchen
Restaurant: Plénitude (→ Website)
Chef de Cuisine: Arnaud Donckele
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 11.03.2022
Guide Michelin Noch nicht bewertet*
Meine Bewertung dieses Essens: 10 (Was bedeutet das?)
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* Das Restaurant wurde im Guide Michelin, der kurze Zeit nach meinem Besuch erschienen ist, mit drei Sternen ausgezeichnet.