Mirazur – über den Dächern von Menton

Der Charme der Côte d’Azur erschließt sich dem, der zum ersten Mal aus dem Flughafen in Nizza steigt, nicht unmittelbar. Zu viele Bausünden, die sich um die Hügel des Hinterlands schlängeln, setzen zunächst ein Fragezeichen hinter die angebliche Schönheit dieser Region. Doch es dauert nicht lange, um die unzähligen Perlen zu finden, bei denen sich der Zauber offenbart.

Der Ort Menton, kurz vor der italienischen Grenze, ist eine dieser Perlen. Das Mittelmeer funkelt hier in seinem schönsten Azur, welches mit den bunt bemalten Fassaden des alten Dorfs ein charmantes Farbenspiel eingeht.

Eine der aromatischsten Zitronensorten gedeiht ebenfalls hier, und nicht nur das: etwas weiter bergauf findet man eines der besten Restaurants der gesamten Côte d’Azur. Doch auch hier muss man genauer hinsehen. Von außen ist das Mirazur etwas versteckt an einen Hang gebaut und sieht eher aus wie ein amerikanischer Diner als ein Spitzenrestaurant mit Meerblick.

Der Putz an der Fassade bröckelt auch etwas. Wer den mondänen Luxus von Cannes oder Monaco sucht, ist hier fehl am Platz. Und genau das ist Teil der Schönheit dieses Orts.

Sitzt man dann endlich an einem der Tische an der leicht geöffneten Fensterfront und genießt die Brise, die Ruhe und den weiten Blick aufs glitzernde Meer bei einem Glas Champagner, dann ist der Rahmen für ein traumhaftes Essen gesetzt. Gerade wegen der Aussicht und des Lichts ist im Mirazur ein Besuch zum Mittagessen unbedingt einem Abendessen vorzuziehen.

Der Argentinier Mauro Colagreco hat dieses Refugium erschaffen und tischt hier kreativ-regional auf. Die meisten Zutaten stammen aus seinen eigenen Gärten, von denen sich einige direkt hinter dem Restaurant befinden.

Es gibt eine Auswahl à la carte sowie Menüs zwischen günstigen € 55 und € 140. Ich entscheide mich der Vielfalt wegen für das umfangreichste („Voyage des Sens“). Eine Überfüllung ist hier dank der leichten Küche ohnehin nicht zu befürchten.

Das Menü beginnt mit köstlichen Amuse-Bouches. Ein Snack mit roter Bete ist frisch und aromatisch (8/10), eine Art Macaron mit Apfel und Olive schmeckt ebenfalls sehr gut (8/10), und eine charmant verspielte Kreation mit Sardine, deren frittiertes, hauchdünnes Skelett man mitverspeist, schmeckt wie eine Essenz von unbeschwerten Abenden am Mittelmeer (9/10). Ganz ausgezeichnet!

Das hausgebackene, noch warme Brot wird mit einem mit Menton-Zitrone und Ingwer aromatisierten Olivenöl serviert, eine Kombination, die viel zu gut ist, um sich vor dem ersten Gang nicht schon etwas satter zu naschen.

Den ersten Gang, Auster mit verschiedenen zitrusartigen Komponenten, verspeist man am besten im Ganzen und erfreut sich an der puren Meeresfrische, die durch das hereinströmende Licht dramatisch in Szene gesetzt wird (8/10). Mit einem solchen Geschmack im Mund und dem Blick auf die mer Méditerranée werden die Hirnzellen von allen Seiten mit Salzwasser umspült. Erfrischend!

Einem Gericht mit Taschenkrebs, Pampelmuse und Mandel gelingt dann ein elegantes Spiel zwischen salzig-süßer Meeresfrische und Säure (8/10).

Der anschließende Gang bietet Röllchen von rohem Kürbis, unterschiedlich gefüllt mit Zitrusgelees, Panacotta, Kardamom und nicht zuletzt frischer Walnuss, die eine interessante, hier unerwartete, Note beisteuert und für kurzweiligen Biss sorgt (7/10).

Dieses überraschende Element wird auch beim nächsten Gang wieder aufgegriffen und hier mit Blumenkohl und Kaviar zu einem erdig-herzhaften Gericht zum Auslöffeln verarbeitet. Exzellent! (8/10)

Es folgt ein Teller mit Oktopus, der in dünne, nudelartige Streifen geschnitten wurde. Das Erlebnis am Gaumen ist durch diesen Schnitt besonders angenehm. Geschmacklich gefallen mir die präsenten Grillaromen, die Artischocken und die leicht säuerliche Artischockencreme außerordentlich gut. (8/10)

Der nächste Gang bietet mit weißen Bohnen, weißem Trüffel und Wachtelei einfachen Hochgenuss: die Bohnen sind äußerst schmackhaft, auf den Punkt gegart, heiß serviert und wohlig duftend, genau richtig gesalzen und wären damit schon für sich genommen eine erstaunliche, wenn auch rustikale, Produktpräsentation. Die Cremigkeit der Wachteleier und die (leider etwas Trockenheit zeigenden) Trüffeln heben das bodenständige Gericht dann noch in den siebten Genusshimmel. (9/10)

Und jetzt halte sich jeder fest, der meine Garnelenressentiments aus Spanien kennt. Denn das mir hier servierte Exemplar, eingewickelt und gegrillt in Zitronenbaumblättern, strotz nur so vor Aromen, duftet nach Strand und Grill und ist noch so heiß wie die Glut, über der sie schmorte. Man beträufelt sie mit Menton-Zitrone, tunkt sie in eine luftige Creme mit etwas Knoblauch … und fragt sich beim Fingerablecken (pardon, beim Finger im Schälchen badend) zwingend, wo die anderen zehn sind. Ein Argentinier in Frankreich bringt auf den Punkt, wie man eine Garnele am besten genießt: weder roh und schleimig, noch mit flüssigem Hirn und schon gar nicht in roten Plastikbeuteln gekocht, sondern heiß vom Grill. Einfach, köstlich. (8/10)

Weiter geht die Reise mit einem kleinen, aber genau ausreichend großen Stück Steinbutt. Dazu gibt es Lauch mit intensiven Röstaromen vom Grill, Lilienblüten, die eine spannende florale Note hinzufügen, eine erstaunlich gute Creme mit Süßholz sowie eine klassische Béarnaise. Die Aromen passen alle ganz hervorragend zusammen. Das ist qualitativ und geschmacklich auf ganz hohem Niveau! (9/10)

Trotz der vielen Gänge ist diese Küche unglaublich leicht, weshalb es gar nicht schwerfällt, sich schon auf den nächsten Gang zu freuen.

Dort findet man ein kleines Stück Lamm in einer Komposition mit geschmorter Aubergine, schwarzen Oliven, Perlzwiebeln und etwas Bratenjus. Das Geschmacksbild ist auch hier sehr harmonisch, allerdings ist das eine Stück Fleisch etwas zäh. Besonders die äußerst gutgemeinte Fettschicht mit der etwas klebrigen Kruste lässt sich nur schwer genießen. Das geschmorte Stück daneben ist wiederum sehr gut. (7/10)

Als Käsegang erspart man sich hier einen größeren Akt und serviert stattdessen eine Kreation mit einer Creme von Munsterkäse und Kümmel und einer hauchdünnen, karamellisierten Zuckerschicht. Der kleine Gang ist nicht weniger als große Klasse. (9/10) Da ich bei umfangreichen Menüs meistens auf eine Käseauswahl verzichte, ist ein solch kleines Gericht ideal, um auch auf diese Geschmackswelt nicht verzichten zu müssen.

Ein fantastisches Granité mit Quitte und Ziegenkäse (9/10) schlägt dann eine Brücke zum finalen Dessert, …

…, doch das – ich sehe es ihm schon an – verschwimmt etwas in den vielen schaumigen Texturen. Dennoch lässt sich der Kombination von weißer Schokolade und weißem Kaffee-Eis durchaus Raffinesse abgewinnen (6-7/10).

Mit Petit-Fours und einem guten Kaffee endet ein hervorragendes Mittagessen. Es geht nicht immer um kulinarische Perfektion. Das Bisschen, was der Küche des Mirazur dazu fehlt, gleicht dieser einzigartige Ort wieder aus, der wirklich jede Reise wert ist.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Mirazur (→ Website)
Chef de Cuisine: Mauro Colagreco
Ort: Menton, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 30.10.2015
Guide Michelin (F/MC 2015): **
Meine Bewertung dieses Essens 8 (Was bedeutet das?)