Bras – Vergängliches für die Ewigkeit

Hier oben hört man nur eines: Stille. Lediglich der Wind, der über diese Anhöhe weht, unterstreicht  die Abwesenheit allen Lärms gelegentlich mit einem Rauschen. Sanfte Hügel und saftige Wiesen erstrecken sich über dutzende, wenn nicht hunderte, Kilometer um einen herum. Ich befinde mich in der Region Aubrac, der nächste Ort ist Laguiole, bekannt für sein Messerhandwerk.

Nichts, aber auch gar nichts, würde mich in diese wunderschöne, aber entlegene Gegend Frankreichs führen, wäre hier nicht eines der berühmtesten Restaurants der Welt: das der Familie Bras. Das spricht man übrigens so, wie es geschrieben wird, mit s.

Über die berührende und interessante Geschichte von Vater Michel, Sohn Sébastien und den jahrelangen Übergabeprozess des Restaurants von Vater zu Sohn läuft zufälligerweise gerade jetzt ein Dokumentarfilm im Kino. Nur wenige Tage vor meinem heutigen Besuch habe ich mir diesen natürlich zu Gemüte geführt – und wollte danach umso dringender hin.

Nach einer etwas umständlichen Anreise bin ich an diesem Dienstagnachmittag nun endlich hier angekommen.

Das markante, flache Gebäude mit viel Glas befindet sich auf einer Anhöhe und beherbergt sowohl das Restaurant als auch Hotelzimmer. Die „Relais & Châteaux“-Mitgliedschaft ist ein sicheres Indiz für den individuellen Charakter und hohen Standard des Hauses.

Das Abendessen kann man ungewöhnlich flexibel irgendwann zwischen halb acht und neun Uhr antreten. Vor dem Essen wird man zunächst in einen rundum verglasten Saal mit spektakulärem Ausblick geführt. Skurrilerweise rauben einem die vielen Verstrebungen in der Glasfassade teilweise die Sicht. Bei einem Aperitif (originell z. B. Fraîcheur de fleurs « eau de sureau » mit Holunder, € 13) kann man hier schon mal in aller Ruhe die Auswahl von Speisen und Weinen tätigen. Währenddessen werden einige Snacks serviert.

Ein auszulöffelndes Hühnerei (cocque-mouillette) – ein Andenken an die Jugend Bras‘ – ist ein würdiger, würziger Auftakt, an dem man viele kleine Löffelchen lang seine Freude hat; eine duftende, warme Tartelette mit Steinpilzen ist nichts weniger als grandios. Die Kleinigkeiten vermitteln Wohlgeschmack und Vorfreude auf alles Folgende mit einer überwältigenden Einfachheit.

Die Menüauswahl gestaltet sich als langwieriger. So flexibel man hier mit der Uhrzeit ist, umso unflexibler gestaltet sich die Essensauswahl. Pro Tisch – also auch zu zweit – kann nur ein Menü gewählt werden (oder natürlich à la carte). Das ist zwar in vielen Restaurants so, aber immer etwas ärgerlich, wenn die Vorlieben der Esser abweichen oder man unbedingt einige Speisen probieren möchte, die in einem anderen Menü untergebracht sind. Nach einiger Zeit steht die Auswahl jedoch fest: das Menü „légumes“ soll es sein (€ 145), das bei einem Erstbesuch hier vermutlich auch die vorzuziehende und authentischste Wahl ist. Hummer und Foie Gras (wie unter anderem im anderen Menü angeboten) gibt es schließlich überall.

Wir werden zu unserem Tisch geführt. Der Speisesaal ist sehr einladend: Halbtransparente „Segel“ dienen als Raumtrenner; bequeme Ledersessel, viel Weiß, helles Holz und eine riesige Fensterfront schaffen eine sofortige Wohlfühlatmosphäre. Ich freue mich, dass unser Tisch in der vorderen Reihe ist.

Ein weiteres Amuse-Bouche wird serviert: gebratener Kürbis mit Feige, Haselnüssen und einer Zitrusreduktion. Die Geschmackseindrücke sind von einer frappierenden Klarheit. Von der Kürbisspaghetti-Spielerei einmal abgesehen (die durch das große Stück „echten“ Kürbis allerdings schon wieder an Berechtigung gewinnt): Wer traut sich heutzutage schon, einzelne, völlig naturbelassene Haselnüsse auf einem Teller zu platzieren? Bevor die vom Tellern kullern, macht man heutzutage doch lieber ein stabiles Schäumchen draus und nennt das dann Haselnussespuma. Naturbelassenheit muss man sich eben auch leisten können – entsprechende Rohstoffe und Mut vorausgesetzt. Dieser Gruß begeistert auf ganzer Linie und schmeckt mit jeder Gabel hervorragend.

Als erster Gang des Menüs folgt dann gleich ein Meilenstein der Gastronomie: Gargouillou [sprich: garguju]. Entsprechend große Erwartungen schweben über dem Teller. Dutzende von Kräutern, Blüten und jungen Gemüsen wurden hierfür behutsam und präzise, Stück für Stück, auf dem Teller angerichtet. Dieser aufwändige und zeitintensive Prozess ist auch im Dokumentarfilm eindrucksvoll wiedergegeben und erinnert an den Zusammenbau eines Uhrwerks. Keine Zutat ist mehrfach vorhanden. Das ist kaum zu glauben, und doch steht es in diesem Moment genauso vor mir.

Ich atme tief durch und nähere mich dem wunderhübschen Gericht zunächst optisch. Dass auf dem Teller meiner Begleitung in diesem Moment ein massiger schwarzer Käfer aus dem „Garten“ krabbelt, beleuchtet den Aspekt der Naturbelassenheit noch mal von einer ganz anderen Seite. Herr Bras wird doch nicht etwa auf den fraglichen Insektentrend seines nordischen Kochkollegen René Redzepi aufgesprungen sein? Natürlich nicht. Man merkt dem Personal die Bestürzung hinsichtlich dieses brisanten Intermezzos an: bedrückte Minen und Ratlosigkeit in allen Gesichtern. Selbstverständlich wird das Gericht ausgetauscht, und der Aperitif geht aufs Haus.

Doch so skandalös ein Insekt im Gericht eines Drei-Sterne-Restaurants auch erscheinen mag: Hier bei Bras ist das nicht nur verzeihlich, sondern sogar einen Hauch sympathisch. Noch am Nachmittag sah ich Restaurantpersonal Kräuter pflücken. Der ungebetene Gast ist hier kein Hygienemangel, sondern „Terroir“. Dennoch: ohne wäre natürlich besser gewesen.

Ich probiere jetzt endlich einen ersten Happen und stelle dafür eine willkürliche Gabel zusammen. Sie ist… gut. Ich stelle noch eine zusammen, sie ist großartig; dann noch eine, sie ist überwältigend. Ich schmecke die Weite der Landschaft, die mich umgibt, schmecke Frische, Reinheit und Morgentau. Jede Gabel ist eine andere Reise in eine andere Geschmackswelt. Aufgrund der Vielzahl an Komponenten hat hier kein Gast jemals dasselbe Geschmackserlebnis. Es existiert gar kein Gargouillou. Jeder Eindruck ist flüchtig und unwiederbringlich, aber das Gericht – mein alleiniges, einzigartiges Gargouillou – nehme ich mit für die Ewigkeit. Ich ringe um Fassung. So etwas hat mir noch niemand serviert.

Ein weiteres Novum ist für mich die im Anschluss servierte Zutat Spargelsalat (frz. „celtuce“), eine Variante des Gartensalats, von der für dieses Gericht ein Blatt und das „Mark“ (vom Stängel) in Butter geschmort wurden. Das ist würzig, salzig, heiß, ein bisschen kross, fast an ein Steak erinnernd – phänomenal! Die dazu servierten Pfifferlinge einer mir bisher nicht bekannten Güte, eine süffige Creme aus Ei und Senf, sowie eine Vinaigrette mit Fleischjus tragen Wesentliches zum Genuss dieses Tellers bei, der für mich nicht höher sein könnte.

Was mir neulich noch im Gemüse-Menü des Berliner Margaux für den ultimativen Genuss fehlte (trotz meiner überwiegenden Begeisterung) – genau hier ist es auf dem Teller.

Die im positivsten Sinn ungewöhnliche Reise führt mich zum nächsten Gericht. Hauchdünn geschnittene und gerollte Zucchinistreifen „baden“ in einer sehr aromatischen Estragonsauce (courge de Nice beigné d’un jus à l’estragon du Mexique). Das klingt sehr simpel – beinahe zu simpel –, doch auch dieser Teller ist hervorragend. Er erschließt sich in seiner ganzen Pracht erst nach einigen Gabeln. Es ist ein bisschen so, als müssten Zutaten und Esser sich zunächst aufeinander einstimmen. Ist dieser Punkt erreicht, stellt sich purer Wohlgeschmack ein – geprägt von Frische, Klarheit, Reinheit.

„Im Geiste eines Süßwarengeschäfts“ (dans l’esprit d’une confiserie) ist der Name des nächsten Gerichts. Das erschließt sich einem völlig, kostet man die kleinen in Sternanis kandierten Karotten, von denen eine wie tausend schmeckt. Der buttrige Sud ist mit Fenchel, Eukalyptus und Begonien(?) (bégoniettes) aromatisiert und fügt dem Gericht eine süßlich-ätherische Note hinzu – wie ein Anis-Bonbon. Dennoch nimmt man das wunderbar aromatische Gericht nicht als Dessert war. Meisterhaft.

Erbse, mein „Lieblingsgemüse“ schlechthin, ist das Thema des folgenden Gerichts. Einige hyperfrische Exemplare davon teilen sich den Teller mit grünen Bohnen (haricots verts mangetout de Saint Fiacre), Erbsenkraut, Milchhaut und einer sündhaft süffigen „Butterkruste“ (croûte de beurre), die, so vermute ich, mit kleinen Brotkrumen o. ähnl. hergestellt wird. Bei jedem Bissen schließe ich die Augen, um noch genauer „hinzuschmecken“ und auch letzte Nuance dieses grandiosen Geschmackserlebnisses aufzusaugen.

Da ich auch auf die Zubereitung eines Fleischgerichts neugierig war, hatte ich bei der Menüwahl doch einen Gang durch den eines anderen Menüs tauschen können. Das filet de Bœuf grillé à la braise (indirekt gegrillt) wird mit einem Kürbissud und Blumenkohl serviert. Leider sagt mir das Gericht wenig zu: Das Fleisch ist zu roh und etwas sehnig; die Gemüse lassen den Glanz vorheriger Kreationen vermissen.

Es folgt ein Zwischengang, außerhalb der Karte, mit einigen Gemüsen und (hervorragend aromatischen) Kräutern sowie einem (eher langweiligen und zu sättigenden) Püree aus Kartoffeln und Käse. Eigentlich überflüssig.

Das erste Dessert – laut Karte eine Interpretation eines entsprechenden Desserts von 1981 – schmeckt dann wieder ganz hervorragend. Zu einem lauwarmen Kuchen mit flüssigen roten Früchten (biscuit tiède aux fruits rouges coulants) gibt es Eiskrem von Echtem Mädesüß (crème glacée à la fleur de reine des prés) sowie Brombeeren und einer Fruchtreduktion. Süß, fruchtig, buttrig, warm, kalt – ein wahrhaftiges Dessert, das ausgezeichnet schmeckt.

Außergewöhnliche Produkte kommen dann noch einmal zum Einsatz im zweiten Dessert, l’oseille de guinée juste flétrie et melon confit à froid; jus d’orange réduit et touche de genièvre, zu Deutsch etwa: gerade verwelkte Roselle und Melone, kalt kandiert; Orangensaftreduktion und ein Hauch Wacholder. Das ist interessant, hinterlässt jedoch vorerst keinen bleibenden Eindruck.

Fairerweise muss ich sagen, dass meine Aufnahmefähigkeit für Neues nun zunehmend schwindet – der Wecker klingelte vor neunzehn Stunden; ich saß bereits in zwei Flugzeugen (von denen eines doppelt so lange brauchte wie vorgesehen), habe 400 Kilometer Autofahrt hinter mir und ein Menü, das überwiegend grandios und auch gerade deshalb fordernd war. Gute Nacht, Laguiole, ich nehme dich mit in meine Träume – und darüber hinaus.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Bras (→ Website)
Chef de Cuisine: Sébastien Bras
Ort: Laguiole, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 04.09.2012
Guide Michelin (F 2012): ***
Meine Bewertung dieses Essens 10 (Was bedeutet das?)