Eleven Madison Park – Picknick im Big Apple

Als ich das letzte Mal hier war, hatte ich einen äußerst denkwürdigen Abend. Nicht zuletzt deshalb, weil ich einen großartigen Vierhundert-Dollar-Barbaresco von Bruno Giacosa verschmäht habe, den mein werter Freund, mit dem ich da war, noch bestellt hatte, als mich mein Jetlag schon richtig böse hatte hängen lassen. Heute Abend scheine ich die hinterlistige Zeitverschiebung besser im Griff zu haben.

Der Speisesaal ist immer noch genauso imposant wie ich ihn in Erinnerung hatte: geschätzte zehn Meter hohe Decken, mehrere Ebenen, aufwändiges Dekor. Doch trotz seiner Größe strahlt der Saal pure Gemütlichkeit aus, was insbesondere dem warmem Licht, den geschickt voneinander versetzten Tischen und den bistroähnlichen Lederbänken geschuldet ist. Auch beim Personal geben Souveränität, Humor und Lockerheit den Ton an. Gute Aussichten!

Eine Speisekarte bekomme ich, wie auch beim letzten Mal, gar nicht erst zu Gesicht, doch Chefkoch Daniel Humm genießt mein uneingeschränktes Vertrauen (obwohl ich erst einmal hier war). Ich blättere etwas in der umfangreichen Weinkarte und beginne schon mal mit einem halben Fläschchen Champagne Krug (ca. € 96).

Währenddessen markiert das Auftischen eines kleinen Geschenkkartons den Auftakt des fünfzehngängigen Menüs (ca. € 170). Die Tatsache, dass darin „nur“ zwei kleine herzhafte Kekse zu finden sind („Cheddar), macht daraus jedoch keinesfalls eine Mogelpackung. Die salzige Petitesse ist genau das Richtige zu diesem großartigen Champagner, und das Erfordernis des Auspackens signalisiert einem spielerisch, dass es heute Abend einiges zu entdecken gibt.

Eigentlich bin ich bekanntermaßen nicht der allergrößte Freund von Austern, Seeigel und sonstigem sehr jodigem Meeresgetier. Daher hätte ich die nächsten beiden Gänge vermutlich nicht explizitbestellt. Wie gut also, dass man manchmal einfach etwas vor die Nase gesetzt bekommt.

Eine Auster („Oyster“), die mit Trauben, Bulgur und Sauerampfer serviert wird, spült mich mit ihrem intensiven „Ozeanerlebnis“ fast vom Stuhl. Absolut grandios! Konfrontationstherapie nennt sich das wohl. Auch eine Kreation mit Seeigel („Sea urchin“), „mariniert, mit Shrimp, Foie Gras und Kerbel“ ist exzellent.

Ich liebe es, mein eigenes Opfer des Falsifikationsprinzips zu sein. Die These „Seeigel schmecken mir nicht“ ist eben nur so lange wahr, bis sie widerlegt wurde. Hier mag ich sie also. Allein diese Erkenntnis ist mindestens den halben Menüpreis wert. (Was nicht bedeutet, dass ich das nächste lebende Exemplar ausschlürfen werde.)

Ein hervorragendes, säuerlich-süffiges Ei mit Stör-Zabaione und Schnittlauchöl ist dann der Auftakt zu einem etwas aufwändiger präsentierten Gang, bei dem Stör („Sturgeon“) im Mittelpunkt steht. Unter einer Cloche räuchern Scheiben des Fischs behutsam über Holzkohle, dazu gibt es passenderweise Kaviar, ein wachsweiches Ei auf „Bagel Crumble“, sowie Pickles, also säuerliches Gemüse, hier in Form von einfachen Gurkensticks und einem halben Romanasalatherz.

Du meine Güte, ja! Gurke habe ich im Spitzenrestaurant zuletzt nur als Schaum gesehen und wäre dabei fast eingeschlafen. Hier schneidet man sie in dicke Streifen und steckt sie einfach in ein Glas. Diese wunderbare down-to-earthness – Bodenhaftung – bringt einem das Essen im EMP so nah. Selbst die Luxuszutat Kaviar rückt dadurch in ein entspanntes Licht. Zusammen mit den dazu gereichten hauchdünnen, gerösteten Brotscheiben bastelt man sich so sein perfektes herzhaftes Schnittchen. Auch das Raucharoma vom Stör ist keineswegs offensiv, sondern appetitanregend und Tiefe gebend. Wohlschmeckend, souverän, genial!

Der nächste Gang ist „Foie Gras“, serviert als Terrine zwischen hauchdünnen Gebäckscheibchen. Dazu gibt es Pflaumenpüree, bittere Mandel und noch etwas Knuspriges. Hier stimmt – neben der selbstverständlich phänomenalen Qualität – alles: das Mengenverhältnis der Zutaten, der „Crunch“, die Frische und etwas Süße. Dazu wird auch noch eine herrliche Brioche serviert, die, wie auch das Brot am Tisch, wunderbar ist. Eines meiner besten Gerichte mit dieser Hauptzutat.

Dann wird ein Fleischwolf am Tisch montiert. Und ehe man sich fragt, ob man nun Zeuge einer martialischen Hackfleischzubereitung wird (dass dem nicht so ist, wusste ich bereits), werden zwei orange leuchtende, geschälte Karotten an den Tisch gebracht, die vom Kellner zum Tartar verarbeitet werden. Zum Kombinieren des mildsüßen Gemüses stehen dann mehr als zehn verschiedene Condiments bereit, derer man sich aus kleinen Schälchen (z. B. mit eingelegtem Ingwer, geräuchertem Blaubarsch, Schnittlauch, Meersalz) und Fläschchen (Senföl, Karottenvinaigrette) bedient.

Wer nach dem Genuss dieses großartigen Gangs resümiert, dass er die Variante mit Fleisch dann doch bevorzugt, hat nichts von gutem Essen verstanden. Ein echter Feinschmecker unterscheidet nicht zwischen „mit Fleisch oder ohne“; er sieht Gemüse nicht als zweite Wahl, tierische Produkte nicht als essenziell für Genuss; er sieht nur das gute Produkt und unterscheidet zwischen diesem – und allem anderen.

Doch hier im EMP gibt es ausschließlich großartige Produkte, wie es auch der folgende Gang mit phänomenalem Hummer („Lobster“) demonstriert. Zusammen mit einem Scheibchen gehaltvollen Guanciale-Specks, einer vollmundigen Sauce mit präzise eingearbeiteter Säure und dem ansprechenden Biss eines Salatherzes und etwas Rosenkohl muss ich dieses Gericht eigentlich zur Nummer eins des Abends küren, sofern das überhaupt möglich ist.

Und während ein grandioser Gang nach dem anderen serviert wird, genieße ich das herrlich entspannte Ambiente. Das Bistro-Flair der Einrichtung setzt sich fort in heiterer Stimmung – am Tisch und im gesamten Saal. Meine Weinauswahl ist auch gelungen (inzwischen steht ein Dunn, Howell Mountain, 2007 auf dem Tisch, ca. € 190), das ist fine dining! Und das ist noch lange nicht vorbei.

So folgt als nächstes „Squash“. Das Gericht wird komplett aus einem an den Tisch gebrachten Kürbis direkt auf dem Teller angerichtet. Sauerteigbrot (am Kürbis mitgebacken), Moosbeere und Pfifferlinge sind weitere Zutaten dieses abermals zu tiefer Zufriedenheit führenden Gangs.

Teil des „Hauptgangs“ ist dann zunächst die Demonstration der finalen Präparation eines Stücks Reh, das in einem aufgeschnittenen Stück Holzkohle und in Teig ummantelt gegart wird. Doch vorher gibt es noch – diesmal an einem Tischgrill über Holzkohle gegart – kleine Spieße mit Mais, Zwiebel, Lardo. Der Saal duftet nach Lagerfeuer, und das Fingerfood ist zünftig, rauchig und fantastisch.

Wie so häufig, ist dann der Fleischgang („Venison“) nicht der beste des Abends. Das Fleisch ist fast schon etwas zäh, was jedoch weniger im Gargrad begründet liegt als darin, dass es mir zu mager ist. Doch die Sauce und die einfallsreichen Mitspieler Birne und Topinambur machen aus dem Ganzen durchaus noch einen „sehr guten“ Teller.

Und dann geht’s zum Picknick. So zumindest scheint es, da ein Korb auf den Tisch gestellt wird, in dem man Folgendes findet: Tischtuch, Bier, Flaschenöffner, Teller, Besteck, Gläser, Laugengebäck, ein Glas mit Senf, Weintrauben und eine Holzschachtel. In der Schachtel dann ein prächtiges Stück Rohmilchkäse („Greensward“).

Alles schmeckt wunderbar: das Laugengebäck ist noch warm, der Käse nussig-würzig, und das Bier dazu perfekt. Was für ein unkompliziertes Vergnügen!

Als Übergang zum süßen Teil dieser kurzweiligen Vergnügungsreise wird ein Getränk mit Malz („Malt“), Eischnee, Vanille und Mineralwasser hergestellt. Klingt seltsam? Aber es schmeckt wunderbar! Einfach wunderbar! Und es ist eine der schlüssigsten Überleitungen von herzhaft zu süß, die mir je serviert wurden, da dieses Getränk mit genau diesen beiden Empfindungen spielt. Verblüffend gut!

Einen sehr guten, aber nicht ganz an die Größe alles Bisherigen anknüpfend, sind dann die Süßspeisen.

Bei einer Lorbeer-Creme-brûlée mit Apfelsorbet und Hibiskus („Apple“) überzeugt mich die Komposition nicht besonders (obwohl die einzelnen Teile hervorragend sind); und ein „Sweet Potato“-Cheesecake mit Honig und Kastanie (bei dem zwei weitere Zutaten mittels eines Kartenspiels zufällig ausgewählt werden) entlockt mir nur ein „ganz recht“.

Eine Schokoladenbrezel („Pretzel“) mit Meersalz sowie zwei kleine Kekse („Chocolate“) mit Zimt runden das Festmahl ab.

Was bleibt zu sagen? Das Eleven Madison Park vereint auf einzigartige Weise fantastische Küche mit Spaß am Essen. Die Gerichte sind unverkrampft, fast schon bodenständig, der Service ist entspannt und die Atmosphäre lebhaft und gemütlich. Ich glaube, ich habe meinen idealen Picknickplatz gefunden, mitten in Manhattan. Aber, psssst! Bitte nicht weitersagen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Eleven Madison Park (→ Website)
Chef de Cuisine: James Kent, Daniel Humm
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 10.10.2013
Guide Michelin (NYC 2014): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8,9 (Was bedeutet das?)