Sushi Shikon – von Hand zu Hand

Masahiro Yoshitake betreibt in Tokio das dreifach besternte Restaurant Sushi Yoshitake und seit 2012 auch eine Dependance in Hongkong. Bis 2013 hieß dieses Restaurant auch Sushi Yoshitake, doch aufgrund diverser Fehlreservierungen von Gästen fand eine Umbenennung statt. Man könnte natürlich sagen: Selbst schuld, wer Hongkong mit Tokio verwechselt, doch bei einem Restaurant mit nur acht Sitzplätzen und Preisen von mehreren Hundert Euro pro Menü geht ein Gast, der nicht auftaucht, schnell ins Geld.

Abgesehen vom Namen ist das Sushi Shikon eine exakte Kopie des japanischen Pendants: das Holz des Tresens, das Geschirr, das Menü – inklusive drei Michelin-Sterne. Das ist nicht weniger als ein kleines Wunder, denn außerhalb Japans gibt es sonst nur noch das Masa in New York, welches es schafft, japanische Küche auf allerhöchstem Niveau in ein anderes Land zu exportieren. Der Aufwand, um die Produkte zu beschaffen (überhaupt und in der nötigen Frische) und um alle Voraussetzungen für die peniblen Arbeitsschritte zu ermöglichen, die diese Küche erfordert, ist schier gigantisch. Das geht soweit, dass man sich im Sushi Shikon nicht nur zwei Mal täglich frischste Ware direkt aus Tokio einfliegen lässt, sondern sogar das Kochwasser. In Authentizität begründete Perfektion kennt eben keine Kompromisse, und bei High-End-Sushi geht es ausschließlich um solche Details.

Als ich an diesem Abend vor dem Mercer Hotel in Hongkong stehe (das nichts mit dem namensgleichen Hotel in New York zu tun hat), weiß ich von all diesen Dingen noch nicht viel, da ich mich meist lieber überraschen lasse als mir bereits im Voraus ein Bild zu machen.

Im Hotel empfängt mich ein freundlicher älterer Herr im Anzug gleich mit meinem Namen. Das ist überraschend, aber bei acht Reservierungen auch kein Hexenwerk. Dennoch fühle ich mich sofort in guten Händen. Zusammen mit weiteren, mir folgenden, Gästen werde ich im Aufzug in ein höheres Stockwerk gebracht. Ohne weitere Erläuterungen werden wir in einem sehr kargen Raum platziert, der eher nach Schnellimbiss aussieht als nach einem Drei-Sterne-Sushi-Restaurant.

Auf den Tischen steht Tütenzucker und auf einer Anrichte Warmhaltegeräte. Oder sind das Kühltruhen? Ein Tisch in der Ecke macht den Anschein als hätte dort jemand ein temporäres Büro aufgebaut und es hastig verlassen.

Seltsamer geht es kaum. Interessanterweise halte ich es dennoch für plausibel, dass genau hier gleich japanische Hochküche serviert wird. Aber ohne Tresen und ohne Chef? Das wäre über alle Maßen merkwürdig. Eine Viertelstunde vergeht, ohne dass jemand erscheint.

Dann endlich taucht der Herr von vorhin wieder auf und bittet uns mit einer höflichen Geste hinaus. Es geht mit dem Fahrstuhl wieder nach unten ins Erdgeschoss und dort ins eigentliche Restaurant. Man war vorhin einfach noch nicht soweit und platzierte uns zur Wartezeit lieber in dem seltsamen Raum. Andere Länder, andere Sitten.

Endlich am Tresen angekommen, fühle ich mich wie in Japan. Jedes Detail bietet Grund zur Freude: die kostbare Keramik; das warme Tuch für die Hände; die scharfen Messer des Meisters; der Binchōtan-Grill im Hintergrund; die weiße Arbeitskleidung der Köche.

Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, dass ich zum ersten Mal in Tokio Fuß fasste. Meine Sehnsucht nach japanischer Küche hat mich seitdem nie wieder losgelassen. Es gab danach nicht einen einzigen Tag, an dem ich nicht zumindest einen Moment an japanische Küche dachte. Und jetzt stehe ich offenbar kurz davor, mich ihr erneut hingeben zu können.

Der Küchenchef Yoshiharu Kakinuma, jahrelanger Souschef bei Yoshitake in Tokio, ist bester Laune und spricht auch noch hervorragendes Englisch. Diese Kombination ist bei japanischen Sushimeistern eine Rarität. Fotografie, Fragen, Smalltalk: alles kein Problem bei Kakinuma. Beste Voraussetzungen also für einen nicht nur kulinarisch kurzweiligen Abend!

Dann geht es los. Mit Hamaguri, einer Muschelart, mit Petersilie und Yuzu. Der ganz kurze Moment der Überwindung, rohe gummiartige Meeresbewohner zu verspeisen, weicht blitzschnell einem Gefühl der tiefen Erleichterung und des Genusses. Was für eine Wohltat.

Es folgt Kinmedia (Glänzender Schleimkopf, im Englischen etwas appetitlicher als goldeneye snapper bezeichnet). Alles daran sieht appetitanregend aus: die gewollte Schräge des Anschnitts für noch mehr Bissfläche; die leichten Röstspuren vom Holzkohlegrill, den der Fisch nur kurz gestreift haben muss; das blasse Rosa des Fleischs, das in diesem Fall nicht roh ist, sondern eine Woche Reifung in Salzlake hinter sich hat. Dadurch ist die Textur etwas zarter und der Geschmack intensiver. Das Stück ist zudem perfekt in der Größe, lässt sich leicht mit den Stäbchen greifen und in die Sojasauce tunken, und es hat am Gaumen das richtige Volumen – all das ist Absicht. Der frisch geriebene Wasabi sorgt dazu für einen blitzartigen Weckruf, so als schrie er: jetzt nicht träumen, sondern essen! Für Träumereien ist wahrlich keine Zeit, denn bei den Speisen entscheiden Sekunden über den richtigen Moment des Genusses. (So ist sogar auf der Website in der speziellen Rubrik „Sushi-Etikette“ zu lesen: „It is ideal to eat the sushi within 30 seconds after it has been served.“)

Zwei Stücke Oktopus zieren den nächsten Teller. Unglaublich zart. Leicht süßlich. Fantastisch.

Der Chef öffnet in diesem Moment einen Topf und präsentiert darin Abalone. Ein paar gezielte Schnitte später sind ein paar Stück dieser subtilen Delikatesse auf meinem Teller, dazu gibt es Sauce von Abalone-Leber. Diesen Klassiker kenne ich bereits aus dem Tokioter Haus. Er schmeckt fast noch ein bisschen besser hier.

Der nächste Streich ist spanish mackerel, eine Makrelenart, hier geräuchert und serviert in einer wertvollen Sojasauce. Dazu gibt es Meerrettich aus Hokkaido. Das Gericht setzt noch einmal einen drauf und übersteuert den Genusspegel.

Nicht ganz so mein Fall ist eine für meinen Geschmack etwas sehr jodig-fischige Kreation mit Schneekrabbe und einem Gel aus ihrem Fond. Die kühle Frische ist jedoch ein ausgezeichneter Übergang zum Sushi, dessen Inszenierung jetzt beginnt.

Tintenfisch – schlichte Perfektion, mit einem Schmelz wie Lardo

Meerbrasse, eine Woche gepökelt

Im Video: Chūtoro (mittelfetter Thunfisch), gekocht und mariniert. (Man beachte den Moment ab 0:18, wo Kakinuma bei einem meiner Tischnachbarn eine winzige Imperfektion bemerkt und sie schnell korrigiert.)

(nicht notiert)

Gerade erläutert Yoshiharu Kakinuma einem fragenden Gast, warum man Sushi am besten mit den Fingern essen sollte. Er erklärt es so: Sushi komme vom Chef zum Gast und damit von Herz zu Herz und somit auch von Hand zu Hand. Genau so habe ich es schon immer empfunden.

Das opulente Mahl geht weiter mit baby snapper, geräuchert mit Kirschblüten, darauf etwas Eigelb. Die kleine Speise ist atemberaubend. Ich schmecke Blüten und Blumen, dann das Meer – ein sonniges Gericht voller intensiver Bilder.

Eindrucksvoll ist auch die Zubereitung einer Archenmuschel, die noch lebendig ist, als Kakinuma sie auf die Holzplatte wirft und mit präzisen Schnitten zubereitet. Wenige Augenblicke später ist ein Stück davon auf meinem Teller und an meinem Gaumen. Die Kombination aus „Ozeanaroma“ und fester Textur ist phänomenal.

Dann – wie immer bei Hokkaido-Seeigel – staunt man nicht schlecht, als der Küchenchef die Schachtel mit der teuren Deliktasse öffnet. Das Budget für eine solche Menge ist sicherlich im vierstelligen US-Dollar-Bereich. Behutsam füllt Kakinuma einige Reisrollen großzügig mit der gelben Ingredienz, für die man einige Versuche braucht, um sie zu mögen. Ich habe diese Versuche bereits hinter mir und genieße die jodige, salzige, leicht süßliche und cremige Masse in vollen Zügen.

Beim Garen von Ebi, eine Garnelenart, existiert nur ein kurzer Zeitpunkt, an dem ihre betörende Süße zum Vorschein kommt. Ein herausragender Genuss. Diese Flüchtigkeit, die der Perfektion von Sushi inne ist, ist ohne Vergleich.

Zum Schluss kommt eine Sushi-Rolle ins Spiel – sonst ja eher eine Spezialität von unauthentischen „Sushi“-Läden. Hier ist sie großartig, mit Aal (anagi) und einem Nori-Blatt innen, das für einen deliziösen knusprigen Biss sorgt.

Es folgt noch eine Handrolle mit „rotem Reis“ und Thunfisch, ein Stück der immer wieder überraschend guten Nachspeise tamago (leicht süßes Omelette) und ein Misosüppchen.

Ein mit intensivem Erdbeeraroma begeisterndes Dessert mit „mochi paper“ setzt nach knapp zwei Stunden einen Schlusspunkt hinter einen kulinarisch perfekten Abend im mit Abstand besten Restaurant meiner Hongkong-Reise.

Warum ich nach China fliegen würde, um dort Französisch, Italienisch und Japanisch zu essen, haben mich viele vor meiner Reise gefragt. Das Sushi Shikon ist ein Teil dieser Antwort.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sushi Shikon (→ Website)
Chef de Cuisine: Yoshiharu Kakinuma
Ort: Hongkong, China
Datum dieses Besuchs: 02.04.2015
Guide Michelin (HK/MAC 2015): ***
Meine Bewertung dieses Essens 10 (Was bedeutet das?)