Kikunoi Honten – Fischmilch und Chrysanthemen-Suppe

Das siebte Kaiseki-Restaurant auf meiner Reise nach Kyoto ist das letzte, das ich besuche, bevor es weiter nach Osaka geht. Auch heute kehre ich mit einer kurzweiligen Mischung aus Vorfreude, Spannung, Skepsis und Appetit hier ein.

Zusammen mit Kitcho Arashiyama und Mizai (in dem ich leider keinen Tisch bekommen habe) ist das Kikunoi eines der berühmtesten Kaiseki-Restaurants in Kyoto. Inhaber und Küchenchef Yoshihiro Murata ist eine prominente Figur in Japan, er betreibt mehrere besternte Restaurants, hat diverse Bücher geschrieben und ist recht umtriebig. Heute ist er in Tokio, um dort in einem seiner Restaurants nach dem Rechten zu sehen.

Der Michelin attestiert dem Kikunoi neben den drei Sternen für die kulinarische Leistung auch die Höchstwertung für das Ambiente: fünf rote Bestecksymbole. Letzteres ist etwas schwierig nachzuvollziehen. Den Raum, in dem ich Speise, erreiche ich über eine sehr steile Treppe – fast so als würde man ein Hochbett erklimmen –, in dem Raum selbst geht es sehr karg zu.

Es gibt kaum dekorative Elemente, dafür einen pustenden Heizlüfter und in einer Ecke ein (abgedecktes!) Telefon aus dem letzten Jahrhundert, das den Eindruck erweckt, man könne hier vor dem Essen noch auf eine letzte Begnadigung hoffen. Das geht auch deutlich angenehmer.

Immerhin sitzt man hier in normaler Position dank einer Vertiefung im Fußboden. Und die Dame, die heute Abend den Service macht, ist sehr freundlich, zu vielen Scherzen aufgelegt und spricht recht gutes Englisch. Die Atmosphäre ist gelöst, ich bin guter Dinge.

Das Menü (Variante für ¥ 25.000, ca. € 214) beginnt, wie üblich, mit warmem Begrüßungssake (ohne Foto) und einem kräftigen grünen Tee.

Als nächstes folgt pochierte und eingelegte Ume-Frucht (umeboshi), die mit einer weißen, milchigen Flüssigkeit überzogen ist, bei der es sich – wie ich erst beim Schreiben dieser Zeilen recherchieren kann – um Fischmilch, also Samenflüssigkeit, von Roter Fleckbrasse (tai) handelt. Ein aufgeschlagenes Kochbuch des Küchenchefs, das auf dem Tisch liegt, erklärt, dass dieses Gericht optisch die Idee eines schneebedeckten Pflaumenbaums und den nahenden Frühling wiedergeben soll. Lässt man die Prosa beiseite, schmeckt man bei dem Gericht eine handwerklich gut umgesetzte Spannung zwischen Salz, Säure und Fruchtsüße. Aber die Japaner haben wirklich eine sonderbare Vorliebe für den Geschlechtsakt von Meerestieren. (6,5/10)

Die folgende Geschenkbox enthält eine Auswahl kleiner Speisen in zwei „Etagen“. Es gibt, unter anderem, Bambussprösslinge, sehr zarten Tintenfisch, Farnspitzen, …

… ein Stück Nigiri-Sushi mit stintartigen Fischchen, Lilienblüte mit Lachsrogen, sowie in einem Sesam-Senf-Dressing marinierte Kintoki-Karotte und Teile ihrer Blätter. Das gesamte Arrangement ist äußerst appetitlich, jede Zutat überrascht positiv und schmeckt exzellent. Dies hier ist in der Tat eine Ode an den Frühling. (8/10)

Sashimi von Brasse und Garnele kommt mit Udo (japanischer Spargel), Karotte, Algengelee und Wasabi und zementiert meine Auffassung, dass weder Brassen – wegen ihrer sehr kaubedürftigen Textur – noch Garnelen – wegen ihrer etwas schmierigen Textur – in rohem Zustand besonders delikat sind. Die Güte der Produkte ist jedoch über jeden Zweifel erhaben. (7/10)

Sashimi vom Thunfisch wird mit einem Tupfer Senf serviert. Das ist eine ganz hervorragende Idee, um die fette Textur zu kontrastieren, vergleichbar mit Senf zu einem Stück Iberico-Schwein. Man taucht die schweren Stücke dann noch in eine gehaltvolle Sauce, die mit Eigelb, Soja und einer Brühe von Bonito-Schuppen hergestellt wurde. Herausragend. (9/10)

Die obligatorische Suppe enthält eine Art Kloß mit Muschel, verschiedene Kräuter und zahlreiche saisonale Zutaten, die bereits in diesem Menü Verwendung fanden, wie Karotte, Bambussprössling und Farnspitzen. Die Suppe unterscheidet sich von vergleichbaren Speisen der letzten Tage vor allem durch einen leicht rauchigen Geschmack, ausreichend Salz und viele Kräuter. Exzellentes Handwerk. (8/10)

Das Menü fährt fort mit unter einem Salzmantel und auf Algen gegarten Portionen Abalone und Seeigel. Nach meinem Geschmack tut die extreme Hitze den Zutaten nicht besonders gut; gerade bei Seeigelgonaden bringt normalerweise die Kühle den meerig-jodigen Charakter besonders gut zum Vorschein. Luxuriöse Zutaten, aufwändig präsentiert, das ist es dann eigentlich auch schon. (6,9/10)

Ein Erdbeer-Wasabi-Sorbet ist scharf und fruchtig und beruhigt den Gaumen vom vorherigen Hitzeschock, bevor es dann bei nächsten Gängen ans Eingemachte geht.

Ein Salat-Arrangement beinhaltet, unter anderem, folgende Speisen: gegarte Garnele mit Eigelb und schwarzem Sesam; Fava-Bohnen mit Tofu-Dressing und schwarzem Pfeffer; marinierte Wasabi-Blätter; Baby-Tintenfisch mit Eigelb, Algen, Essigdressing und gehackter Ingwerblüte; sowie Seegurkenrogen mit Yamswurzel und Shisoblüte. Alles in allem eine oft fischige, manchmal trockene, niemals besonders vergnügliche Angelegenheit. (6/10)

Dann wird eine sprudelnd heiße Suppe serviert. Sie enthält, zu meinem großen Befremden, Haifischflosse und Schildkrötenfleisch. Natürlich bestehen bei mir hinsichtlich dieser Zutaten starke moralische Bedenken. Jedem dürften die Gräueltaten des shark finning bekannt sein, auch weiß ich nicht genau, was man den Schildkröten alles antut. Niemals würde ich so eine Suppe freiwillig bestellen, aber nun steht sie eben vor mir, und ich muss mich damit irgendwie auseinandersetzen.

Das Thema von ethisch, moralisch und ökologisch einwandfrei gewonnenen Produkten beginnt allerdings nicht bei Haien. Es beginnt im Alltag. Das tägliche Leid von Tieren in Massenhaltung, dessen Fleisch im Discounter und dann in der Radiowerbung landet, ist nicht geringer einzustufen als das von anderen Tieren. Jeder sollte ständig seinen Beitrag dazu leisten, diese Missstände zu reduzieren. Ich tue dies mit einer sehr selektiven Auswahl tierischer Produkte. Einen kompletten Verzicht halte ich indes nicht für wirkungsvoll. Vegetarismus aus Protest ist vergleichbar mit Nichtwählen, man erreicht damit keine Verbesserung. Aber dies nur am Rande.

Ein Boykott der Suppe am Tisch hätte auf jeden Fall wenig Nutzen. Eine Entsorgung des Gerichts im Mülleimer erscheint mir nicht wie eine gute Tat. Und die alptraumartige Vorstellung, dass die Tiere lebendig amputiert werden, ist nach meinen Recherchen zumindest in Japan nicht die Regel. Sie werden gefangen wie alle anderen Fische auch und sind längst tot, wenn man diese fragwürdige Zutat gewinnt. Das ist alles grauenhaft, sicherlich, aber das Thema beginnt eben nicht hier.

Daher probiere ich auch diese Suppe. Sie riecht gut. Für den Sud wurden, wie schon erwähnt, Schildkröten verwendet, deren Fleisch recht trocken ist, sowie Sake und Zwiebeln. Der Sud enthält viel Kollagen und schmeckt ein bisschen wie Hühnerbrühe. Die Haifischflosse, an sich geschmacksneutral, saugt sich damit voll und konzentriert die Aromen der Suppe in ihrer seltsamen, glasfaserartigen Textur. Für das, was es sein soll, ist das Gericht vermutlich gut, aber eine anständige Gemüsesuppe würde ich jederzeit vorziehen. — 6,5/10

Das Reisgericht ist Chirashi-Sushi, was eine Speise bezeichnet, bei der Reis, Fisch und andere Zutaten zusammen in einer Schüssel serviert werden. Hier gibt es Sushireis, „Eifäden“, Garnelen, Algen, Ingwerblätter, Shiitake-Pilze, Kintoki-Karotte, Erbsen und Huflattich sowie eine Chrysanthemen-Suppe mit frittiertem Tofu. Wer soll das bloß alles essen? Der Gedanke an die Flosse liegt mir eh noch schwer im Magen. Die Schüssel mit dem Potpourri an Zutaten ist dazu auch recht trocken, die Suppe ganz angenehm. Das hat sicherlich alles seine Berechtigung und unendliche Tradition, aber geschmacklich ist das auch nicht das Gelbe vom Ei. (6/10)

Es folgt ein Mate-Tee, der, wie für dieses Getränk üblich, nach kaltem Aschenbecher schmeckt, sowie, als Dessert, Gersteneis mit einem karamellisierten Pudding (sehr gut, 7/10).

Das letzte Kaiseki-Restaurant auf dieser Reise verlasse ich mit gemischten Gefühlen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Kikunoi Honten (→ Website)
Chef de Cuisine: Yoshihiro Murata
Ort: Kyoto, Japan
Datum dieses Besuchs: 10.03.2017
Guide Michelin (Kyoto/Osaka 2017): ***
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