Florilège ‒ eine Frage der Kulturen

Florilège ist das französische Wort für Blütenlese, dies wiederum die Bezeichnung für eine auch als Anthologie bekannte Sammlung repräsentativer Werke, z. B. aus der Literatur oder Musik. Ein Restaurant so zu benennen ist daher nicht nur selbstbewusst, es sagt vielmehr auch etwas über das Selbstverständnis aus, Kulinarisches als Kulturgut einzustufen. Klar, wir sind in Japan.

Aus Tellern zum Sattwerden kann man keine Anthologie erstellen, aus kulinarisch wegweisenden Gerichten durchaus, obwohl man dafür zumindest schon mal ein anerkanntes Œuvre vorzuweisen hat. Über eine Anthologie der Gerichte Ferran Adriàs würde sicherlich niemand streiten wollen, über die eines Hiroyasu Kawate, so der Name des Küchenchefs hier, möglicherweise schon.

Aber um die Interpretation der Begriffsklärung können sich andere bemühen. Anregend ‒ auch appetitanregend ‒ ist sie auf jeden Fall, und sie verbraucht im Gehirn schon mal etwas mehr Energie, die ich mir hier gleich in Form eines Mittagessens wieder zuführen kann.

Das Florilège ist ein sehr populäres Restaurant mit kreativer französischer Küche. Zwei Michelin-Sterne, hohe Platzierungen in anderen Listen und die ehemalige Position des Küchenchefs als Souschef im Drei-Sterne-Restaurant Quintessence setzen die Messlatte hoch.

Man betritt das im Stadtteil Shibuya gelegene Restaurant über eine Treppe, die ins Untergeschoss führt. Dahinter heißt es dann: nicht das Wetter gibt Temperatur, Licht und Laune vor, sondern Klimaanlage, Beleuchtungskonzept und die Stimmung des Personals. Ich liebe ja das Eintauchen in eine solche Welt ‒ vorausgesetzt, es ist alles so stimmig wie hier.

Gleich der Empfang, beispielsweise, ist nett und unverkrampft. Großartig auch gleich die erste Frage, ob man vor dem Essen noch mal die Waschräume aufsuchen möchte, obwohl ich mich dabei gleich frage, ob mir womöglich etwas aus der Nase hängt. Bei den Japanern hat diese Frage einen tieferen Sinn. Ich stehe im Restaurant oft als erstes wieder auf, um mir die Hände waschen zu gehen. Dies im Vorwege zu erledigen, nimmt dem Gast gleich den Aufwand und die Peinlichkeit ab, am Tisch als erstes wieder aufstehen zu müssen. Wunderbare Details eines völlig anderen Gastgeberverständnisses.

Mit sauberen Händen sitze ich dann wenig später am breiten und weitläufigen Tresen, der u-förmig die großzügige Küche umschließt. Schwarz ist die vorherrschende Grundfarbe des Interieurs. Farbliche Akzente in fast ausschließlich gelben oder grünen Schattierungen ‒ von Pflanzen, Zutaten, Utensilien und Weinen ‒ sind sicherlich kein Zufall, sondern Teil des stimmigen Ambientes.

Das Mittagsmenü kostet ca. € 60 und beginnt mit einer in getrockneten Teeblättern warm gehaltenen und dadurch auch sehr angenehm aromatisierten Süßkartoffel. Es handelt sich um eine frittierte Kartoffelhülle mit einer leichten Füllung aus Kartoffelcreme. Knusprig, überraschend, wohltuend. (7/10)

Ich begleite das Essen unkompliziert mit offenen Weinen. Den Beginn macht ein japanischer Weißwein aus der Rebsorte Kōshū vom Weingut Toriivilla Imamura mit knackiger, appetitanregender Säure (€ 15). Auch die weitere Auswahl ist exzellent. Wie in nahezu allen kreativen Restaurants der Welt ist Frankreich auch bei den offenen Weinen das vorherrschende Thema, natürlich auch mit guten Burgundern.

Es folgt rohe Jakobsmuschel, in Scheiben geschnitten, dazu Kombupulver und Fingerlimette. Die Qualität der Jakobsmuschel ist phänomenal, anders als fast alles, das man in unseren Breiten serviert bekommt. Ihr leicht süßlicher Geschmack wird zunächst mit dem Seetang in eine ansprechend herbe Richtung bewegt und bildet damit ein geschmackliches Fundament für die Zitrusnoten von Fingerlimette und einer mit japanischem Fromage blanc zubereiteten Quarkzubereitung mit Zitrusfruchtcreme. Frisch, perfekt ausbalanciert und qualitativ hervorragend. (8/10)

Das nächste Gericht ist von einem Shabu shabu inspiriert, bei dem man Rindfleisch in dünne Scheiben schneidet und diese in einer Brühe kocht. Küchenchef Kawate verwendet aus Gründen der Nachhaltigkeit für dieses signature dish Fleisch von einer Wagyu-Kuh ‒ im Gegensatz zu dem sonst meist verwendeten Fleisch einer Färse, also einem weiblichen Rind, das noch nicht gekalbt hat und dessen Fleisch man allgemein als hochwertiger betrachtet. Doch eine eventuelle Qualitätsfrage, die ich nicht stelle, löst sich schon beim ersten Probierhappen in reinen Wohlgeschmack auf. Das Fleisch ist sensationell: buttrig, aber nicht „aufgeblasen“, sondern mit kompaktem Schmelz und prononciertem Eigengeschmack. Dieses phänomenale Stück Fleisch wird von einer glatten Kartoffelcreme und einem leicht zwiebeligen, nicht zimperlich salzig schmeckenden Sud mit Petersilienöl sowie einigen Kräutern begleitet. Fabelhaft. (8,5/10)

Das Mittagessen geht in entspannter Atmosphäre weiter. Shiitakepilze in dünnen Scheiben werden mit einem Shiitake-Chawamushi, Shiitake-Sud und schwarzem Périgord-Trüffel serviert. Dieses leichte, ätherisch nach Wald und Moos duftende Gericht beeindruckt unter anderem auch durch die hier abwesende, bei Shiitakepilz oft lästige, etwas muffige Penetranz am Gaumen, weshalb ich diesem Pilz in unseren Breiten meist aus dem Weg gehe. Das leichte Gericht schmeckt erdig, salzig und umami. Ich halte mehrfach meinen Kopf nah an den Teller, um den Duft zu inhalieren. (8,5/10)

Zu den trüffelig-erdigen Noten passt ausgezeichnet ein 2016er Pinot Noir von Nicolas Jay aus Oregon, der offen serviert wird (€ 17).

Als Hauptgang gibt es eine Art japanisches Perlhuhn. Das langsam im Ofen gegarte Geflügeltier kommt in einigen saftigen Stücken von Brust und Keule auf den Teller. Für eine knusprige Textur sorgt hier weniger die Haut als Bratreis, der angenehm würzig ist. Überhaupt liegt auch über diesem Gericht eine betörende „Umami-Schicht“. So findet in der dunklen Sauce bspw. auch Dashi Verwendung. Das Geflügel ist mit das beste, das ich je probiert habe. Mit seiner Zartheit, Saftigkeit und seinem reinen, klaren Wohlgeschmack übertrifft es auch Exemplare, die ich bei französischen Großmeistern à la Bernard Pacaud oder Alain Passard probiert habe. Eine feine Kräutersauce fügt dem Gericht eine weitere, frische Ebene hinzu. Eine Ode an Qualität und Wohlgeschmack! (8,9/10)

Oft habe ich bereits über verschiedene Telleranrichtweisen gesprochen ‒ und darüber, wie fundamental sich das Gros der deutschen Spitzenrestaurants in dieser Hinsicht ähnelt und von den Anrichtweisen der meisten internationalen Spitzenrestaurants unterscheidet. Ohne an dieser Stelle das Thema allzu sehr auszubreiten, kann ich für mich nur erneut unterstreichen, dass ich immer Gerichte bevorzuge, die weniger komplex und in der Tellermitte angerichtet sind, anstatt solche, die mit grafisch auffälliger Anrichtweise den Esser auf eine falsche Fährte locken wollen.

Der Süße Abschluss dieses eindrucksvollen Menüs beginnt mit gefrorenem Puder von Vanilleeis, unter dem sich eine Apfel-Karamell-Creme versteckt. Die technische Spielerei mit dem Eis funktioniert hier sehr gut, weil das Eis nicht zu kalt ist und sich jeder Löffel am Gaumen in die Assoziation an eine Tarte Tatin verwandelt, die man hier jedoch nicht vermisst. Abgesehen vom stimmigen süßen Geschmacksbild, überzeugen hier besonders die genau justierten Temperaturen der Komponenten, die hier kritisch sein könnten, falls zu warm (was die Süße verstärken würde) oder zu kalt (was unangenehm wäre und die Aromen neutralisiert). (8/10)

Dessert Nummer zwei fällt etwas aus dem Rahmen. Eine vom Küchenchef persönlich aus dem Amazonas mitgebrachte Schokolade wird hier in Form von einigen Krumen sowie in länglichen weichen Zylindern serviert. Eine süße Creme auf Milchbasis begleitet die zweifellos hervorragende Schokolade. Dennoch fehlt dem Gericht genau das, was vorhin noch so überzeugte. Die einheitliche und zimmerwarme Temperatur der Kreation sorgt für wenig Differenzierung am Gaumen, und die merkwürdige Textur der Schokoröllchen ist wenig ansprechend. Immer noch sehr gut, aber nicht auf dem bisherigen Niveau. (7/10)

Müsste ich zehn Teller des Schokoladendesserts essen, um an diese letzte Speise zu gelangen, würde ich im Nachhinein dennoch nicht zögern. Die Erdbeere, ummantelt in selbstgemachter Erdbeermarmelade, ist nichts weniger als eine perfekte, authentische Erdbeere. Es dürfte den meisten bekannt sein, dass die Japaner Früchte aller Art in Perfektion züchten. (In exklusiven Geschäften gibt es einzeln verpackte Erdbeeren für umgerechnet fünf Euro pro Stück zu kaufen.)

Welch Wohltat, hier nicht mit einer besonders in kreativen Restaurants gerne gesehenen „Scheinfrucht“ konfrontiert zu werden, also einer Zuckerhülle mit irgendeinem Schaum darin. Hier in Japan staunt man nicht über Täuschungen, man staunt über Authentizität. Und diese Erdbeere ist die beste, die ich je gegessen habe. Wegen der feinen Marmelade in perfekter, hauchdünner, Menge, benote ich hier noch etwas höher als mit meiner eigentlichen Höchstnote für unpräparierte Zutaten. (8,5/10)

Das Selbstverständnis, mit dem die Japaner sich auch anderen Länderküchen widmen ‒ wenn sie denn wollen ‒ und diese dann auch noch oft verbessern, demonstriert sehr eindringlich die Überlegenheit der japanischen Küche gegenüber allen anderen. Es fühlt sich dann oft so an als wären alle Produkte, Zubereitungsarten und Küchenstile ohnehin eine Teilmenge des japanischen Wissens um Kulinarik. Wenn man an irgendeinem Ende zieht ‒ sei es eine Erdbeere, Mehl für Pizza, ein Stück Fleisch oder ein Utensil wie ein Kochmesser ‒, haben die Japaner immer eine Referenzantwort parat. Im Florilège erhält man viele Antworten, selbst auf Fragen, die man gar nicht hatte.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Florilège (→ Website)
Chef de Cuisine: Hiroyasu Kawate
Ort: Tokio, Japan
Datum dieses Besuchs: 18.01.2019
Guide Michelin (Tokyo 2019): **
Meine Bewertung dieses Essens 8 (Was bedeutet das?)
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