Motoyoshi ‒ Termin beim Fritteur

„Ich liebe ja Tempura!“ hört man in jedem mehr oder weniger ambitionierten Szenerestaurant, das irgendwelche Gemüse mit frittierter, pappiger Teighülle und einem abgestandenen Dip serviert. Das Problem dabei ist, dass es daran in unseren Breiten selten etwas zu lieben gibt, außer die Idee an sich. Die ist nämlich durchaus charmant. Man nimmt eine beliebige Zutat, gerne frisches Gemüse oder Fisch, zieht diese durch einen speziellen Teig und frittiert das Ganze in siedendem Öl. Das Ergebnis ist heiß, knusprig, fettig und dadurch unkompliziert genussvoll. Dabei kann man allerdings mehr falsch als richtig machen.

Die Japaner perfektionieren diese Technik seit Jahrhunderten. Wie auch bei Sushi und diversen anderen Dingen, denen sich die Japaner mit Hingabe widmen, gibt es hier unzählige Stellschrauben, die dafür sorgen, dass man ein Stück Gemüse oder Fisch auf Weltklasseniveau frittieren kann. Allein der Teig ist eine Kunst für sich. Er besteht mindestens aus Eiswasser, Weizenmehl und Ei, aber die Varianten sind zahlreich. Mit oder ohne Eiweiß, mit oder ohne Backnatron, mit oder ohne Kohlensäure im Wasser, die Dauer des Rührens und natürlich des Frittierens an sich ‒ all das ist Geheimsache des jeweiligen Kochs.

Als der Guide Michelin für Tokio zum ersten Mal erschien, erhielt das Restaurant 7chome Kyoboshi auf Anhieb drei Sterne für sein Tempurahandwerk. Darüber wunderten sich viele Japaner, die in Tokio mindestens genauso gute Restaurants kannten. Ein paar Jahre später war das Restaurant dann nur noch mit zwei Sternen gelistet, was noch weniger nachvollziehbar war; inzwischen ist es ganz aus dem Führer verschwunden. Ein Kuriosum.

Ich wollte es während meiner aktuellen Reise nach Tokio eigentlich besuchen, hatte jedoch aus vertrauenswürdigen Quellen den Tipp erhalten, lieber ins Motoyoshi zu gehen. Das Tempura sei dort deutlich besser. Ich änderte meine Reservierung und stehe daher heute Abend an der Stelle, die den Eingang des Souterrain-Restaurants markiert. Als ich eintrete, werde ich jedoch höflich wieder hinausgebeten. Ich bin ein paar Minuten zu früh, und der Tresen ist noch voll besetzt.

Etwas später am Platz genieße ich dann erst mal den Anblick von fast allem. Ein Pflanzenarrangement im Hintergrund des Tresens besticht durch einen speziell angewinkelten Ast, der aus einer Vase herausragt, und ein aus Holz geschnitztes Wildschwein, das dieser Szenerie entflieht und von oben punktgenau mit einem Spot beleuchtet wird. Ein vielleicht unwichtiges Detail, das mich in diesem Moment jedoch genauso fesselt wie die Ästhetik meines eingedeckten Platzes.

Hinter dem Tresen hantieren zwei Köche in weißen Kitteln mit scharfen Messern, rohem Gemüse und einer kleinen Fritter-Kochstelle.

Die erste Speise des Abends ist noch alles andere als frittiert. Ein Sashimi vom Schnapper in atemberaubender Frische kommt mit Wasabi, eingelegtem Rettich und einem Perilla-Blatt. Man stippt das Ganze etwas in Sojasauce. Sehr exquisit. (8/10)

Frittierte Garnelenköpfe bilden den Auftakt einer umfangreichen Tempura-Strecke. Durch das Frittieren ist das Stück knusprig und fragil wie ein Kartoffelchip. Kurzweilig und schmackhaft. (6,9/10)

Der Rest der Garnele folgt. Hier kommt das Frittierhandwerk besonders gut zum Ausdruck. Der lockere Teig ist an vielen Stellen so dünn, dass die Hauptzutat noch hindurchscheint. Am Gaumen keinerlei Anflug von Pappigkeit oder einer dicken Panierung. Es ist eher wie ein knuspriger Schleier, der sich um die Hauptzutat legt. Sehr gut! (7/10)

In den Schälchen am Platz stehen einige Condiments parat, mit denen man das Tempura würzen kann. Es gibt geriebenen Rettich, Sojasauce, eine Zitrusfrucht (ich glaube, Sudachi) sowie ein sehr intensives Meersalz. Für jedes Stück Tempura ist eine individuelle Würzung vorgesehen. Welche genau, erläutert mir einer der Köche für nahezu jedes Stück. Andere Gäste sehen das aber alles nicht so eng.

Es folgt Tempura von grünem Spargel. Das kurze Frittieren hat ihn perfekt gegart ‒ noch bissfest, aber nicht roh. Die knusprige Hülle und etwas von der Sojasauce komplettieren die exquisite Gaumenfreude. (7/10)

Sechs Tage gereifter Wittling wird dann nur mit etwas Salz gewürzt. Hier ist der Teig etwas dicker ‒ gewollt, versteht sich. Auch dies ist ein guter Happen, aber geschmacklich etwas weniger spannend. (6,5/10)

Besser sind dann wieder zwei unterschiedliche Karotten, die man mit Salz und Sojasauce genießt. (7/10)

Ein optisches Meisterwerk ist dann sicherlich der kleine Ayu, ein stintartiger Fisch aus Hokkaido, dessen Flossen vor dem Frittieren ausgeklappt wurden. Der Fisch erscheint auf diese Weise wie durch eine plötzliche Naturkatastrophe erstarrt. Man verspeist das filigrane Tier im Ganzen. Das schmeckt etwas weniger spektakulär als es aussieht, mit einer eher weichen als knusprigen Textur. Dennoch spannend. (6,9/10)

Ackerbohne als Tempura ist ebenfalls präzise umgesetzt und ‒ trotz des Teigs ‒ voller Frische (6,9/10). Jakobsmuschel ist noch besser. Das Muskelfleisch hat wegen der heißen, aber durch den umschließenden Teig schonenden, Garung eine sehr ansprechende Textur und ist qualitativ makellos (7/10).

Ein weiteres Stück Jakobsmuschel wickelt man in ein Noriblatt. Das schmeckt noch ein bisschen interessanter (7/10). Es folgt ein rundes Tempura von einer extrem bitteren Frucht, zu der ich erst später recherchieren kann, dass es sich um Ginkgonuss handelt. (6/10).

Die nächste Speise erinnert optisch an Nigiri-Sushi, kommt jedoch ganz ohne Reis aus. Roher Bonito in phänomenaler Qualität ist mit Wasabi und tenkasu getoppt, das sind Spänen von frittiertem Tempurateig. Serviert ist das Ganze auf einem Gemüse, das Rettich sein könnte. Sehr delikat und durch die kühle Frische eine willkommene Abwechslung. (7,5/10)

Es folgt eine Portion frittierter Nudelfische (Salangidae), die ich ohne große Emotionen wegknabbere (6,9/10).

Die kleinen Portionen sättigen deutlich mehr ‒ und anders ‒ als man es in Japan gewohnt ist, was dem Fettgehalt des Teigs zuzuschreiben ist.

Die nächste Zutat ist eine weitere Skurrilität der japanischen Küche: shirako, zu Deutsch Fischmilch. Es handelt sich dabei um den Samen männlicher Fische wie Dorsch oder Meerbrasse (oder manchmal auch Kugelfisch). Shirako hat gerade Saison und sieht im rohen Zustand sehr befremdlich aus. Andererseits ist Kalbsbries auch nicht hübscher und Kaviar gedanklich kaum appetitlicher. Die anfängliche Abneigung fußt ausschließlich auf Gewohnheit und Kultur.

Die Fischmilch wird frittiert und in einer heißen Miso-Suppe serviert. Das sieht dann schon mal alles ganz anders aus. Textur und Geschmack der fremdartigen Zutat erinnern tatsächlich sehr an geröstetes Kalbsbries: sehr zart, irgendwo zwischen flüssig und weich, mit mildem Geschmack und einer knusprigen Kruste. Die Misosuppe fügt eine würzige Geschmackstiefe hinzu. Überraschend gut. (7/10)

Es folgt Lotuswurzel ‒ floral und saftig ‒ (7/10) sowie ein frittiertes Shiso-Blatt mit einer ordentlichen Portion (nicht frittiertem) Seeigel aus Hokkaido. Das ist ein großartiger Snack, bei dem die ätherische Frische des Blatts wunderbar mit der jodigen Frische des Seeigels interagiert (8,5/10).

Der nächste Snack ist ein rotes Stück Rettich und kommt mit geriebenem Daikon (also einem anderen Rettich) und Sojasauce. Etwas „wässerig“, aber voller Umami. (6,9/10)

Tempura mit Aal ist wegen der Hinzugabe von Ingwer spannend (6,9/10), und ein Stück frittierte Süßkartoffel ist nicht weniger als herausragend. Die pure Kartoffel hat süßliche Aromen von Honig, ist saftig, dennoch bissfest, und der krosse Teigmantel macht appetitliche Geräusche am Gaumen (7,5/10).

Ich bin schon längst über den Rand der Sättigung hinaus, doch das Reisgericht zum Schluss eines Menüs ist obligatorisch. Begrüßenswert ist, dass man zwischen sieben Schälchengrößen auswählen kann. Ich wähle eine mittlere Größe.

Das Reisgericht wird mit frittierten kleinen Shrimps serviert, die einen angenehmen, süßlichen Geschmack haben. Begleitend dazu gibt es eine Auswahl säuerlich eingelegter Gemüse. Knackig und kühl stellen sie einen angenehmen Kontrast zum Reis sowie zur heißen Misosuppe dar. Letzte schmeckt hervorragend, intensiv und dennoch leicht. Ein exzellenter Abschluss. (8/10)

Fast. Denn erst eine bittere Creme (6,5/10) und ein grüner Tee beenden dann das gut zweistündige Essen. Das Tempura im Motoyoshi hat unter Kennern Referenzniveau, begeistert mich als Thema in Summe jedoch nicht so sehr wie bspw. Sushi. Dessen ungeachtet bot das Essen, das mit ca. € 130 vergleichsweise günstig war, weitere reichhaltige Erfahrungen im scheinbar unendlichen Universum der japanischen Küche.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Motoyoshi (→ Website)
Chef de Cuisine: Kazuhito Motoyoshi
Ort: Tokio, Japan
Datum dieses Besuchs: 17.01.2018
Guide Michelin (Tokio 2018): *
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