Aqua ‒ es bleibt spannend

Wenn ich im Aqua am Tisch Platz nehme, atme ich vor Erleichterung immer etwas tiefer aus. Das technisierte, aber ganz und gar hochwertige Ambiente passt zur Umgebung. Auch der Kontrast zwischen der hier nicht wahrnehmbaren Betriebsamkeit in der Küche und der Ruhe im Speisesaal deckt sich mit dem, was man von der Autostadt mitbekommt: Ruhe und gepflegte Ordnung.

Auch der Service bringt hier immer auch eine sehr angenehme Portion Souveränität und Charme mit sich.

Das hilft ein bisschen darüber hinweg, dass es hier im Kern eben dennoch sehr deutsch zugeht und man manchmal eher Zeuge von ernsten Mienen der Gäste als von überbordender Heiterkeit wird. Aber spätestens, wenn die grandiose karamellisierte Kalamata-Olive mit knuspriger, hauchfeiner Hülle aufgetischt wird, die zwischen Süße und Säure so raffiniert hin- und herschaltet wie ein Doppelkupplungsgetriebe, ist klar, dass ein kulinarisch kurzweiliger Abend bevorsteht. (9/10)

Auch ein kleiner Hühnerhaut-Chip mit Avocadocreme und gelierter grüner Olive, der nach einer am Strand genossenen Avocado auf Mauritius schmeckt, dürfte jeden Esser erstaunen. Die „Einstimmungen“ genannten Amuse-bouches zählen im Aqua regelmäßig zu den kreativsten des Landes. (8,5/10)

Eine leicht salzbetonte, angenehm kühle Kreation mit Jakobsmuschel, Fenchel, Dill und Algen ist dann enorm schlüssig abgestimmt (8,9/10), während eine weitere Speise mit gebeizter Makrele, die in einer säurebetonten Sauce mit Paprikastückchen gebettet ist, ein wenig durch den Koriander übertönt wird, den man als Kraut und Creme obenauf platziert hat (8/10).

Der letzte Zug der Eröffnung, mit roher Forelle und Kohlrabi, sowie Saucen von Kamille und Kräutern, ist ähnlich hervorragend, lässt aber die letzte Justierung in Richtung Großartigkeit vermissen (8/10).

Der erste Gang des Menüs „Inspiration“ (sieben bis neun Gänge, € 225‒255) ist eine handwerklich sensationell gearbeitete Gänseleberterrine, der man als Gegenpol ein Fichtensprosseneis entgegengesetzt hat. Das ätherische, nach Wald und Eukalyptus schmeckende Eis geht am Gaumen eine spannungsvolle Liaison mit der Gänseleber ein. Ein Gel von grünem Apfel, das punktuell zum Einsatz kommt, bietet dazu etwas heitere Säure und Fruchtigkeit. Und unter all diesen markanten Aromen gelangt immer wieder das hervorragende Handwerk und die perfekte Würzung der Gänseleber zum Vorschein. Schlicht phänomenal. (10/10)

In den Fenstern findet gerade ein stimmungsvolles Schauspiel statt. Die blaue Stunde des Sommerabends und die warmgelben Reflexionen der Lichter im Restaurant vermengen sich zu einer gemütlichen, aber fast surrealen Kulisse. Zwei exzellente Weine sind auch schon geöffnet und im Glas, ein 2009er Viña Tondonia Rosado (€ 65) sowie ein 2002er Rüdesheimer Berg Schlossberg Spätburgunder von August Kesseler (€ 180). Es geht alles deutlich übler.

Das Servieren des nächsten Gangs unterbricht meine Träumerei, um sie gleich wieder an anderer Stelle fortzusetzen. In Streifen geschnittener Tintenfisch befindet sich in einem Schaum von geräuchertem Stör. Das bereits von sich aus süffige, nach einem Meeresspaziergang duftende Ensemble ist mit Belugalinsen, Imperial-Kaviar und Queller kombiniert. Letztere beiden Komponenten sorgen für eine präsente, aber hervorragend ausbalancierte Menge an Salz und nussiger Jodigkeit. Jeder Gang hier überrascht aufs Neue. (8,9/10)

Treue Leser werden sich mit mir daran erinnern, dass ich bei meinem letzten Besuch im Aqua ‒ insbesondere auf die jetzt folgende Zutat ‒ zum ersten Mal nicht so angetan war. Doch das ist schon wieder Schnee von gestern. Der Kaisergranat, der jetzt folgt, ist auf den Punkt gegart und zur Hälfte mit hauchdünn gehobelten Scheiben von geräuchertem Blumenkohl bedeckt, dem Anschein nach auch Brokkoli und Zitronatzitrone. Knusprige Chips aus einer leicht pikanten Krustentieressenz sorgen dazu für kurzweiligen Gaumenspaß. Zu alldem hat man auf der anderen Tellerhälfte eine flüssige Krustentieressenz von erstaunlicher Intensität angerichtet, in die man den Kaisergranat stippen kann. Selbst zwei winzige Blätter Koriander tragen mit ihrer präsenten Frische zu dem Wohlgeschmack des Gerichts bei. (9/10)

Es geht weiter mit Wolfsbarsch, der in Form einer daumendicken Tranche auf einigen Saubohnen angerichtet ist. Das Ganze befindet sich in einem leicht gelierten Sud, dessen aromatisch auffälligste Komponente ein Vanilleöl ist. Das passt prinzipiell sehr gut zum qualitativ exzellenten und saftigen Fisch, wirkt jedoch auf Dauer wegen der stets präsenten Süße eine Nuance zu aufdringlich. Zitrone, in Form eines Gels und leichten Schaums, steuert zwar spannungsvoll dagegen, unterstützt aber auch eine Art „Dessert-Eindruck“, von dem ich mich schwer lösen kann. Auch eine am Gaumen spürbare „Stumpfheit“, bedingt durch die grenzwertig kross gebratene Haut und die etwas spröden Bohnen, lassen dieses Gericht nicht allzu harmonisch erscheinen ‒ auf hohem Niveau. (7,9/10)

Der nächste Gang ist dann zwar auch für Sven Elverfeld nicht gerade typisch, aber wenn sich ein deutscher Drei-Sterne-Koche so etwas traut, dann er. Und zwar nicht, weil gepökeltes Kalbsherz eine besonders unkonventionelle Zutat wäre, sondern weil die scheinbare Einfachheit dieses Gerichts ihresgleichen sucht. Wenn ein solcher Teller aus einem deutschen Spitzenrestaurant kommt, dann aus dem Aqua. Amüsant ‒ und geschmacklich schlüssig ‒ ist die Brücke vom Kalbsherz zum Ochsenherz, Letzteres rein vegetarisch und in Form einer großen Tranche auf dem Teller angerichtet. In die „Lücken“ der großen Tomate wurde eine Vinaigrette mit einem Sud aus grünen Tomaten eingefüllt, was den Umamigeschmack des Gerichts verstärkt. Das dünne, lauwarm servierte und saftige Fleisch ergibt dann in Kombination mit dem herzhaften Geschmack von Tomate und einer Creme von Pimientos de Padrón entfernt das Geschmacksbild einer Tagliata (Rinderfilet, Parmesan, Pesto). Doch dieses Gericht ist weit komplexer und bewegt sich spannungsvoll zwischen Bodenständigem und höchstem Küchenhandwerk. (8,5/10)

Es folgt Lamm in drei Teilen: als sous-vide gegartes Stück aus dem Rücken, darauf ein Ragout mit knuspriger Quinoa, und als frittiertes Stück Bries, das auf einer Zubereitung mit Artischockenherzen platziert ist. Dazu gibt es eine klassische dunkle Sauce und ein Artischockenpüree mit einem Kräuteröl. Nun verhält es sich bei diesem Gericht so, dass die technisch auf höchstem Niveau durchgeführte Zubereitung in Kontrast zum tatsächlichen Genusserlebnis steht. Das ‒ ohnehin sehr magere ‒ Fleisch weist, wie oft bei Sous-vide-Garung, eine sehr homogene, „mürbe“ Textur auf, die dadurch artifiziell wirkt. Gerade in Zusammenhang mit dem „Thermomix-Eindruck“ des Pürees entsteht ein sehr technikgetriebenes Geschmacksbild, bei dem die Produkte nicht im Vordergrund stehen. Das ist aalglatt, aber vergleichsweise eintönig. (7/10)

Das Dessert ist mit „Heu &Grapefruit“ betitelt, die weiteren Zutaten Sauerampfer, Gewürztagetes, Holunder und Weizengras kann man ebenfalls dem Menü entnehmen. Diese unkonventionellen Zutaten sind auf dem Teller in unterschiedlichsten Verarbeitungen vorzufinden, von flüssig über schaumig bis knusprig. Dass man es hier nicht mit einem Baba au Rhum zu tun hat, ist klar, aber meine leichte Skepsis gegenüber dieser Form der kreativen Patisserie bestätigt sich dann auch am Gaumen. Der originellen Kreation kann ich außer viel Säure und etwas Bitterkeit nicht allzu viel abgewinnen. Es ist immer ein kleiner Dämpfer, wenn ein erwarteter „süßer Abschluss“ einer zwar handwerklichen gekonnten, aber dem Genuss weniger zuträglichen Kreativität zum Opfer fällt. (6,9/10)

Zwei weitere Speisen folgen noch. Ein Mandelgebäck (Cantuccini) mit Pistaziencreme kommt mit einer überraschenden italienischen Rustikalität (7/10), und eine Kreation mit Zwetschge, Quark und Erbseneis ist ein wenig skurril. Es ist zwar kreativ, die natürliche Süße und das frische Aroma von Erbsen in einem Dessert zu verwenden, aber hier dennoch nicht allzu schlüssig (7/10). Beides gelangt nicht in die Liste der besten Desserts aus diesem Haus.

Die Pralinen ganz zum Schluss zählen dann aber wieder zu den besten, die ich je probiert habe, darunter eine wirklich unvergessliche mit Tahitivanille. (9/10)

Abgesehen von dem etwas schwachen Ende des Menüs gibt es einen Grund, warum ich bereits über zehn Mal im Aqua essen war und auch nicht davon absehen werde, dieses Restaurant immer wieder zu besuchen. Sven Elverfelds Küche schätze ich vor allem wegen ihrer in Deutschland auf diesem Niveau beispiellosen Experimentierfreudigkeit. Dass man hier leider nicht immer die Antwort auf alle Produktqualitätsfragen beendet, macht das Aqua nicht zum stärksten Drei-Sterne-Restaurant des Landes, aber weiterhin zu einem der spannendsten.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Aqua (→ Website)
Chef de Cuisine: Sven Elverfeld
Ort: Wolfsburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 23.08.2019
Guide Michelin (D 2019): ***
Meine Bewertung dieses Essens 8,5 (Was bedeutet das?)
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