Söl’ring Hof ‒ Sylter Terroir

Ich gehe derzeit nicht in Restaurants essen. Ich gehe derzeit nicht in Restaurants essen. Pardon, ich musste das wiederholen, weil ich es selbst kaum glauben kann, dass man diesen Satz jemals in diesem Blog lesen würde, der Pandemie sei Dank. Ich gehe allerdings zu Restaurants essen, sofern ich nicht in einem geschlossenen Raum mit anderen Gästen sitzen muss. Das geht nur unter zwei Umständen: entweder draußen oder in einem Raum, in dem eben keine anderen Gäste sitzen. Private Dining ist in den USA und in Japan weit verbreitet, auch ohne Corona-Virus.

Auf der Suche nach einem vermutlich letzten kulinarischen Ausflug in schöner Umgebung in diesem Jahr evaluiere ich einige Optionen und komme schließlich auf den Söl’ring Hof. Das kleine, aber feine Hotel in Rantum auf Sylt bietet in seinem Restaurant nicht nur eine spannende, zweifach besternte Küche, sondern im so genannten Portroom auch die Möglichkeit, dem Genuss ganz ohne stundenlangen Kontakt zu Dritten zu frönen.

Von der spannenden Küche des Hauses konnte ich mich zuletzt vor etwa fünf Jahren überzeugen. Unabhängig von einem damals etwas unglücklichen, aber längst verklungenen Service-Vorfall begeisterte mich die regionale Küche des Duos Jan-Philipp Berner und Johannes King vor allem wegen eines eindrucksvoll herausgearbeiteten Terroirs der nordfriesischen Insel. Ich hätte mich in den letzten Jahren nicht gewundert, hier einen dritten Stern leuchten zu sehen; nicht etwa, weil ich die Küche damals schon auf dem Niveau sah, auch habe ich die Küche des Söl’ring Hof seitdem nicht besonders aufmerksam verfolgt, aber Flora und Fauna des Eilands hätten das Potenzial, dass hier eine für Deutschland einzigartige, sehr eigenständige Küche entstehen könnte. Berner ist keiner, der ständig nur bretonischen Hummer und französische Gänseleber bestellt. Er fährt raus zu Bauern und Fischern, kennt die Zutaten der Insel wie seine Westentasche. Prinzipiell spräche also nichts dagegen, hier ein deutsches Pendant zu einem Kadeau oder Willow’s Inn zu haben. Dass das noch nicht passiert zu sein scheint ‒ das hätte sich längst herumgesprochen ‒, liegt vermutlich am bodenständigen Konzept des Hauses.

Gespannt darauf, festzustellen, in welche Richtung es hier gerade geht, komme ich an diesem Donnerstag bei bestem Wetter in der schönen Reetdach-Villa an.

Der Portroom, den ich für die kommenden beiden Abende reserviert habe, ist ein rustikaler, aber gemütlicher Raum mit Blick in den vielversprechenden Weinkeller.

Diesbezüglich beginnen beide Abende ähnlich, das heißt mit dem Rest des Weißweins, den ich schon am Nachmittag zu sehr lohnenden Snacks auf der Terrasse bestellt habe. Mein heutiges Setup war ein bodenständig-elegantes „Friesenbrot“ mit Spiegelei, Gartenkräutern und Nordseekrabben (€ 18), dazu leistete ein 2013er Chablis „Butteaux“ von der Domaine Raveneau (€ 225) seine Dienste. Für morgen freue ich mich schon auf ein Dutzend pure „Sylter Royal“-Austern.

Es fühlt sich gut an, wieder in einem Restaurant bewirtet zu werden. Die Abwesenheit eines luxuriösen Speisesaals fehlt mir dabei selbst am zweiten Abend nicht. Um den derzeit seltenen Moment zu zelebrieren, stelle ich mich auf der Weinseite weiterhin großzügig auf. Romanée-Conti soll es heute sein, wenn auch der „kleinste“ Wein der Domaine auf der Karte, ein 2016er Corton (€ 610). Ich genieße bereits meine unwiderrufliche Entscheidung hierzu mit kindlicher Freude. Als der Wein später zum Tisch gelangt, auf meinen Wunsch hin bereits recht früh im Menü, bestehe ich darauf, selbst nachzuschenken. Schon das Einschenken eines solchen Weins ist eine sinnliche Freude, die ich mir nicht nehmen lasse.

Mit all diesen positiven Vorzeichen beginnt das Menü (sechs bis acht Gänge, € 214‒€ 254) mit drei Petitessen. Es gibt ein mit mariniertem Rettich umwickeltes Tatar vom friesischen Ochsen mit Kieler Sprotte, präzise würzig, rauchig, nordisch (8/10), dann eine fein knusprige Oblaten-Praline, gefüllt mit einer säuerlich-floralen Nussbuttercreme (8/10) sowie einen Hühnerhautchip mit Gänseleberparfait, Vogelmiere und kurz gegrilltem Mais, Letzterer als rustikaler, aber sehr passender Mitspieler zur Gänseleber, die ruhig noch etwas mehr Würzung vertragen könnte (7/10).

Am zweiten Abend wird noch etwas variiert. Es gibt unter anderem einen gehaltvollen Buchweizencracker mit Deichkäse und Nussbuttercreme (7,5/10), sowie ein deftigeres, aber dennoch elegantes Amuse mit gepuffter Kartoffel, Pilzrelish und Rehschinken (7,9/10). Letzterer erinnert mich mit seinem nussig-milden Geschmack an südafrikanisches Biltong, vermutlich ist das meinem aktuellen Fernweh geschuldet.

Das Menü wird heute weiter eingeleitet von einer Kreation um Schwarzwurzel und Speck. Das längshalbierte Wurzelgemüse wurde eingemacht und hat dadurch eine nur noch leicht bissfeste Textur, darauf ergänzt eine Speckmousse die fehlende Hälfte der Wurzel. Ein Mantel aus Pilzpuder ergibt damit einen harmonischen, herzhaften Dreiklang, den man noch in weiteren Komponenten auf dem Teller wiederfindet. Eine angegossene Speck-Schwarzwurzel-Velouté und ein krosses Stück Schinken präsentieren die Aromen noch einmal separat. Die Velouté hätte einige Grad wärmer sein können; ein minimales Temperaturproblem begleitet auch noch einige weitere Speisen, was vielleicht dem längeren Weg nach hier unten aus der Küche geschuldet ist. Dennoch ist das hervorragend (8/10), genauso wie ein warmer, süffiger Schnittlauchflan mit Ochsenmark am Folgeabend, zu dem dann an dieser Stelle ein Volnay 1er Cru „Clos des Ducs“ von der Domaine d’Angerville (€ 365) auf dem Tisch steht und perfekt zum kalbsfondartigen Geschmacksaspekt der Speise passt (8/10).

Die umfangreichen Einstimmungen werden an beiden Abenden mit einem Wachtelei-Raviolo beendet, der mit Trüffelmousse umhüllt ist, auf einem Gel mit Zitronenthymian und Champignon thront und von einem ätherischen Zitronenthymian-Öl umgeben ist. Das warme, cremige Ei und der kräuterig-waldige Kontext ist am zweiten Abend sogar noch eine unwesentliche Nuance besser (beide 8/10).

Es folgt ein dänischer Kaisergranat in einem bunten Arrangement aus einem Rote-Bete-Sud, eingelegten Fichtensprosssen, Raps und verschiedenen Gartenkräutern. Die Begleiter sind leicht säuerlich und floral, ein Leitmotiv, das man hier öfter vorfindet und das von der Flora der Insel erzählt. Der Rote-Bete-Sud ist naturgemäß sehr intensiv und überlagert die feinen, nussigen Aromen des (einen Hauch übergarten) Krustentiers je nach aufgenommener Menge. Ein Tartar vom Kaisergranat findet man noch à part, kombiniert einem Fichtensprosseneis, ebenfalls floral schmeckenden Begleitern und etwas gepufftem Getreide mit kurzweiliger Knusprigkeit. Ein ebenfalls dazu serviertes warmes Krustentiersüppchen ist angenehm, wirkt aber mit seiner Klassik ein wenig allein. Ein komplexer Gang mit sehr guten Zutaten, aber etwas Justierungspotenzial. (7,5/10)

Der Hummer, der morgen Abend das Krustentier der Wahl ist, wird in einem vergleichbar säuerlich-floralen Arrangement serviert. Das nussige Hummerfleisch profitiert jedoch von der Abwesenheit der roten Bete, ist nun makellos gegart und begeistert in einem ansprechenden, von Verbene und Kürbis stammenden Süße-Säure-Spiel (7,9/10). Zuvor gibt es noch Meeräsche als Sashimi, die um ein knuspriges Teigröllchen mit Meerrettichcreme gewickelt ist und mit einem intensiven Kräuterjus mit Felchenrogen eine teils rustikale, teils elegante Gaumenfreude ist (7,9/10).

Im Glas ist gerade noch ein letzter Schluck eines offen servierten 2017er Saint-Aubin „En Remilly“ von der Domaine Guy Amiot & Fils (€ 26). Der Corton, von dem ich bereits einen ersten Schluck im Burgunderkelch schwinge, ist zwar blutjung, aber unverkennbar ein großartiger, bereits sehr zugänglicher Wein mit einem verführerischen Bouquet, das in dieser Opulenz und Eleganz wohl kaum eine andere Domaine ins Glas bringt.

Weiter geht’s mit Saibling aus dem Plöner See. Das in einem tiefen Teller servierte Gericht duftet wohltuend nach Rauch und Kräutern, eine Folge des mit Estragon parfümierten Saibling-Suds, in dem man Saiblingsfilet und -tatar nebst Zubereitungen aus Kartotte, Zwiebeln und Sanddorn findet. Wenngleich man kurz auf die Idee kommen könnte, die Kräuterwelt etwas repetitiv zu finden, ist sie doch gleichzeitig der Charakter der filigranen Küche und nimmt bei jedem Gericht eine andere Rolle ein, hier eine durch den Estragon etwas präsentere. (7,9/10)

An derselben Stelle des Menüs folgt am nächsten Abend ein erneut farbenfrohes Gericht mit Steckrübe. Es gibt sie einmal in bandnudelartiger Form und als wohltuend heiße, buttrige Velouté, die etwas nach Senf duftet, was vermutlich einem der Kräuter zuzuschreiben ist. Ein Liebstöckel-Espuma sorgt dazu für eine ordentliche Prise Umami, während ein confiertes Eigelb betörende Cremigkeit liefert. Sehr gut, nicht mehr, nicht weniger. (7/10)

Mit einer norwegischen Jakobsmuschel folgt dann ein exzellentes Produkt. Die Muschel ist goldbraun gebraten und in einem süffig duftenden Potpourri aus einer Grünkohlemulsion, mariniertem Grünkohl, Kartoffel und Kalbskopfabschnitten gebettet. Die auch in der Spitzengastronomie nicht immer in so guter Qualität wie hier servierte Muschel ist heiß, dennoch saftig und mit nussigem Geschmack. Das säurebetonte Grünkohl-Thema passt dazu erstaunlich gut, und der Kalbskopf liefert dazu Deftigkeit auf hohem Niveau. (7,9/10)

Morgen gibt es an dieser Stelle Kalbsbries in einer leicht buttrigen Zitronensauce, vermutlich auf Beurre-blanc-Basis, mit gekochtem Lauch und Haselnüssen. Den abermals säurebetonten Fokus hätte ich mir zum Bries einmal kurz pausiert gewünscht. Zwar passt die Säure gut zum hellen Fleisch, doch sie verstärkt ein Problem des Gerichts: dem Bries fehlt es vollständig an Salz. Das ansonsten wunderbar geröstete, heiße Bries ist so leider etwas fad. Ein Ausrutscher. (6,9/10)

Weiter geht’s mit Alba-Trüffel, der betitelten Hauptzutat des Gerichts. Die duftenden, unter einer Cloche präsentierten, Pilze schmücken nach dem Hobeln ein Arrangement mit Kürbis, wachsweichem Ei und Puntarelle. Der sowohl aufgerollte als auch in größerer, gebackener Form zum Einsatz gelangende Kürbis hat eine angenehm bissfeste Textur und steuert eine feine Süße bei. Das cremige Ei dient als süffiges Bindeglied zwischen Kürbis und dem intensiven Trüffel, von dem es für meinen Geschmack sogar noch etwas mehr hätte sein dürfen. Die Chicorée-Variante aus dem Hausgarten setzt anspruchsvolle Bitterakzente. Eine hervorragende Punktlandung. (8/10)

Die Alba-Trüffeln lasse ich mir morgen noch mal etwas üppiger über den Fasan hobeln, der dann serviert wird. Das rare Wildgeflügel ist zart und saftig ‒ bei Fasan keineswegs die Regel ‒ und in kleinen Scheiben zusammen mit hauchdünnen Croutons nebeneinander geschichtet. Weintrauben (ohne Schale) sorgen für fast weihnachtliche, fruchtige Akzente. Zusammen mit dem Trüffel ist das ein wahrhaftiges Wohlfühlgericht, und auch die Sauce, ich vermute auf Geflügelbasis, ist eine der besten bisher, wenngleich sich mir ihre geringe Bindung nicht erschließt. Einer separat servierten Kohlroulade, ebenfalls mit Fasan gefüllt, fehlt es erneut etwas an Salz. Alles sehr gut, dennoch von einem Niveau entfernt, bei dem man vor Genuss die Augen schließen müsste. (7,5/10)

Das heutige Menü fährt fort mit einem Hühnerconfit, welches zusammen mit zarten Perlhuhnstreifen zu einem Röllchen angerichtet ist. Haselnuss, Zitrone und Lauch in verschiedenen Verwendungen unterstreichen das inzwischen leicht überreizte, aber dennoch sehr gute Säurethema. Die Sauce ist abermals etwas wässrig, schmeckt aber wie ein makelloser Geflügeljus. (7,5/10)

Nach dem Huhn folgt ein Onglet vom Holsteiner Rind. Der gegrillte, naturgemäß zarte Nierenzapfen ist in Tranchen aufgeschnitten und in einer Sauce mit Petersilienöl angerichtet. Ich freue mich auf das Fleisch, das perfekt zum letzten Schluck des Corton passt. Dazu gibt es Nocken von drei verschiedenen Grundzutaten: Petersilie, Topinambur und Ochsenmark. Neben der erneut etwas gewöhnungsbedürftigen Wässrigkeit der Sauce hat das Gericht leider ein Temperaturproblem; das Fleisch ist fast erkaltet. Ein angenehmer Ausgleich ist eine à part servierte, im Ganzen gebackene Topinamburknolle, die mit einem Stampf ihres Inneren und obenauf noch etwas Ochsenschwanzragout gefüllt ist. Das ist wunderbar und auch gerade noch warm genug, dennoch vermutlich ebenfalls nicht auf der vorgesehenen Serviertemperatur. (7/10)

Die Desserts liefern an beiden Abenden noch einige Highlights. Eine Kreation mit eingelegter Quitte auf Quittenkompott mit Walnussparfait, Schlehdornsorbet, Zitronenthymian und Walnuss-Sabayon schmeckt nussig, beerig, cremig, frisch mit einer angenehm zurückhaltenden Süße und etwas Säure. Sehr apart. (7,9/10)

Ein Dessert um Zwetschge beendet das heutige Menü mit einem Ausrufezeichen. Die etwas merkwürdige Anrichtweise lenkt nicht davon ab, dass diese Kreation um die Aromen von Zwetschge, Mandel, Portwein sowie auflockerndem Eisenkraut absolut begeistern. Es gibt viel zu knuspern, dazu verführerische Fruchtsüße und verzauberndes Eisenkraut. Wunderbar kombiniert. (8,5/10)

Den ersten Platz aller Speisen teilt sich zusammen mit der vorherigen Kreation das morgige erste Dessert, eine Kreation mit Birne. Die Frucht der Sorte Conference als dünne Scheibe ist mit Zubereitungen von Eberesche, Haselnuss und Fichte zu einem subtilen, anspruchsvoll parfümierten Ensemble kombiniert und sieht, nebenbei, auch noch wunderschön aus. Das ist ein Niveau höher als das (dennoch überwiegend hervorragende) restliche Menü. (8,9/10)

Ein weiteres, stickstoffkaltes Dessert mit Estragon und Frischkäse kann in dieser Liga nicht mitspielen (6,9/10); dafür sind verschiedene Petits-Fours (7/10) noch ein angenehmer Abschluss zu einigen Portweinen, die noch geöffnet werden.

Die farbenfrohe Küche von Berner und King lässt sich mit Freude zwei Tage hintereinander genießen. Der Einfallsreichtum hier ist enorm, ich habe von Gästen gehört, die während ihres Aufenthalts über hundert verschiedene Gerichte genossen haben. Vielleicht spielt die Vielfalt ein wenig auch der Produktqualität in die Karten, die unbestreitbar hoch ist, aber absolute Highlights vermissen lässt. Das Leitmotiv, das viele Speisen miteinander verbindet, ist eine säure- und kräuterbetonte Leichtigkeit, die die unverkennbar klassische französische Basis an vielen Stellen durchbricht. Nach wie vor glaube ich, dass man das Terroir der Insel ‒ selbst in einem klassischeren Rahmen ‒ noch konsequenter herausarbeiten könnte.

Der kurze Ausflug in die Welt des Genusses war von mir richtig abgestimmt. Die Branche legt nun wieder eine Zwangspause ein. Es sind stürmische Zeiten. Viel stürmischer als auf der Insel.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Söl’ring Hof (→ Website)
Ort: Rantum, Deutschland
Datum dieser Besuche: 15.10. und 16.10.2020
Guide Michelin (D 2020): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7,9 und 7,5(Was bedeutet das?)
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