Lockdown-Notizen VI: vom Vermissen

Der vom Virus abverlangte Verzicht auf die Freuden der Gastronomie schärft die Sinne für Wesentliches. Was vermisse ich in meiner aktuellen Rolle als Ex-Gast? Was vermisse ich nicht? Fast täglich lege ich etwas in eine der beiden Waagschalen. Welche davon schwerer wiegt, kann ich nicht einmal genau sagen. Sicher ist, dass es keine dritte Schale gibt, eine für Dinge, die mir gleichgültig wären. Klarer denn je kann ich derzeit benennen, wofür mein Herz schlägt und wovon ich langfristig Abstand nehmen kann.

Gutes Essen vermisse ich zum Beispiel nicht. Neben den kurzweiligen Lieferangeboten von hervorragenden Restaurants aus ganz Deutschland bin ich mit meinen Fähigkeiten in der eigenen Küche durchaus zufrieden. Mein Weinkeller ist auch ganz nach meinem Geschmack, und Tischkultur zelebriere ich ohnehin aus Leidenschaft. Ich kann ein Glas gar nicht auf dem Tisch abstellen, ohne, dass das Herstelleremblem zum »Gast« zeigt. Aber all das, worüber ich hier seit so vielen Jahren berichte, ist natürlich viel mehr als zufriedenstellende Nahrungsaufnahme am eigenen Herd. Es ist der ganze Kosmos, der kulinarische Genüsse und stimmungsvolle Gastronomie ausmacht.

Eingang zum Drei-Sterne-Restaurant Martín Berasategui in Lasarte-Oria (Spanien), Mai 2016

Ich vermisse die freudige Spannung, in ein neues Restaurant einzukehren, jedes Detail aufzusaugen und gedanklich schon einzuordnen; ich vermisse den Moment des Platznehmens, mit Appetit und Vorfreude auf ein spannendes, vielleicht sogar denkwürdiges, Mahl. Ich vermisse die Choreografie eines kreativen Tasting-Menüs genauso wie das eigene Auswählen von Gerichten mit offenkundig grandiosen Zutaten. Ich vermisse es, freundlich und passioniert bewirtet zu werden, Gastfreundschaft und wahrhaftigen Genuss zu erfahren. Ich vermisse den Moment, in dem man beseelt und glücklich ein Restaurant wieder verlässt und irgendwo in einer fernen Stadt in die nächtlichen Lichter blickt, kurz verloren in Raum und Zeit. Ich vermisse die Nachmittage davor, in denen man vielleicht an einem weit entfernten Ort durch kleine Gassen huscht und über fremdartige Details staunt. Ich vermisse es, wenn die blaue Stunde stimmungsvoll einen verheißungsvollen Abend einleitet.

New York City, SoHo, Ecke Lafayette St./Spring St., Dezember 2019

Wenn ich, wie so oft in diesen Zeiten, darüber nachdenke, wo ich am liebsten wieder einkehren würde, flackern immer wieder zwei Restaurants auf. Das Chef’s Table at Brooklyn Fare steht natürlich für meine Liebe zu New York mit seinen unzähligen kulinarischen Möglichkeiten und mit einem Herzschlag, der mit meinem eher rastlosen Naturell oft synchron läuft. Ebenfalls vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht ans Le Louis XV denke. Zwar verbinden mich lediglich zwei länger zurückliegende Besuche mit dem monegassischen Restaurant von Alain Ducasse, doch symbolisiert der Gedanke an die Schatten spendende Terrasse meine Sehnsucht nach der Côte d’Azur, nach lauen Abenden mit weißem Hemd und dem Duft von aufgeheizten Pinien.

Abgesehen von ihren jeweiligen Orten stehen die beiden Restaurants aber noch auffällig für etwas anderes: kompromisslose Produktküche. Wer meinen Berichten länger folgt, weiß um meine Begeisterung für ultimative Zutaten, sei es eine Tomate, ein Wolfsbarsch oder ein Glänzender Schleimkopf. Grandiose Produktqualität findet weit weg von städtischen Bioläden und Wochenmärkten statt. Man findet sie an alten Zitronenbäumen in Hintergärten von Menton, auf dem Tokioter Fischmarkt ‒ und bei ganz vielen passionierten Erzeugern und Züchtern rund um die Welt, die ihre Ware an die besten der besten Restaurants verkaufen. Solche Produkte, ganz gleich welcher Kategorie, sind der heimischen Laienküche weitestgehend vorenthalten. Restaurants, die in der Lage sind, solche Produkte zu beziehen und deren natürliche Pracht herauszuarbeiten, vermisse ich derzeit am meisten. Das Gegenteil folgt daraus auch. Mittelmaß, das am besten noch durch aufwändige Dekoration kaschiert wird, möchte ich möglichst lange nicht begegnen. Ich kann mir derzeit wenig Langweiligeres vorstellen als ein inspirationsloses Sieben-Gänge-Menü mit Standardzutaten von Standardlieferanten, serviert mit Standardplattitüden.

Gasse in Kyoto, auf der Suche nach dem Drei-Sterne-Restaurant Chihana, März 2017

Es gibt so viel Neues zu entdecken, so viel Bekanntes wiederzuentdecken. Ich war noch nie im St. John in London, wo ich mich mittags stundenlang durch die bistroähnliche Speisekarte futtern würde. Ich war noch nie im Etxebarri, dem spektakulären Grillrestaurant im Baskenland. Und auch nach über einem Dutzend Reisen nach New York City habe ich noch nie die ZZ Clam Bar von innen gesehen. Nach Lummi Island im Bundesstaat Washington könnte ich auch schon wieder übersetzen und mich danach (oder davor) durch halb Kalifornien futtern, vom spektakulären SingleThread bis zu lateinamerikanischen Straßenständen in L.A. Und die ganzen großartigen japanischen Restaurants, in denen man als Ausländer kaum noch Zutritt erhält, dort möchte ich meine Bemühungen fortsetzen, um in den Genuss denkwürdiger Kaiseki-Menüs und atemberaubenden Sushis zu gelangen. In Hongkong möchte ich tagsüber in vielen kleinen Läden heiße, scharfe Dinge verspeisen, während es abends schon mal feiner zugehen darf. Es gibt so viel zu entdecken.

Und ich vermisse den Weg dorthin, die Reise, das Abheben mit dem Flugzeug, den Blick auf die Wolken. Irgendwo da unten warten hunderte Genüsse auf mich, tausende Details und dutzende Geschichten. Ich werde sie weitererzählen, ganz sicher. Ich habe gerade erst angefangen.