Lockdown-Notizen VII: la dolce vita

Der gastronomische Lockdown hat längst auch Gutes hervorgebracht, so auch die Lieferangebote aus dem Berliner Sternerestaurant »Tulus Lotrek« (ich berichtete bereits). Der Vorteil solcher Lieferangebote ist nicht nur, in diesen Zeiten überhaupt in den Genuss von ausgezeichneter Küche aus ganz Deutschland zu gelangen. Viele der Restaurants überraschen dabei mit abwechslungsreichen Themenmenüs, die man im jeweiligen Restaurant vermutlich nie serviert hätte.

Küchenchef Max Strohe, so entnimmt man es seinem Instagram-Kanal, wollte sich nach einer pandemiebedingt stornierten Reise nach Neapel nicht die Laune vermiesen lassen. Stattdessen verschwand er in einer produktiven Mischung aus Wehmut und Protest in der Küche und kam irgendwann mit einem Italien-Menü wieder heraus.

Was beim Kunden per DPD davon ankommt, ist, wie immer, eine gut verpackte Kiste mit einer in diesem Fall angenehm übersichtlichen Menge an Ingredienzen. Die »Kompaktheit« der italienischen Küche ermöglicht es, dass die Gerichte dieses Menüs im Wesentlichen schon fast fertig sind und dem »Gast« zu Hause kaum mehr als Erhitzen oder Kaltstellen abverlangen.

Ich freue mich heute besonders auf dieses Menü, weil ich das Fernweh mit Max Strohe teile. Schon beim Auspacken denke ich an Straßencafés im abendlichen Sommer und würde jetzt viel dafür tun, um in den olfaktorischen Genuss einer vorbeifahrenden Vespa zu gelangen. Dem Paket vorweggeschickt wurde von den »Lotrekkis«, so die Eigenbezeichnung des Restaurantteams, eine Playlist. Neben »Felicità«, »Senza Una Donna« und »Mambo Italiano« passt jede Menge weiterer Kitsch und viel Gefühl perfekt zum Auftakt des Abends.

Der erste Gang ist Vitello Tonnato. Das gekochte, kühle Kalbfleisch ist qualitativ makellos. Selbst nach seiner Reise schimmert es noch rosa und offenbart bereits beim Anrichten seine zarte Textur. Nappiert wird es klassisch mit einer Thunfischcreme mit Kapern, die Säure, Schmelz und Üppigkeit gekonnt balanciert und zusammen mit dem Fleisch keine andere Emotion außer kulinarische Glückseligkeit zulässt. Wunderbar ist auch der ‒ von Strohe nicht anders zu erwartende ‒ Verzicht auf Trüffelöl in der Sauce. Das hat zwar ohnehin nichts in ihr zu suchen, aber das erzähle man mal den Gästen der meisten Lieblingsitaliener.

Als nächstes folgt Oktopussalat, der laut beigefügtem »Regelwerk« zweieinhalb Stunden vorher Temperatur annehmen soll. Man genießt das sämige Potpourri aus, unter anderem, Pulpo, Tomate, Artischocke, Staudensellerie, Taggiasca-Oliven und süffig-würzigem Sud mit kurz im Ofen erwärmten Focaccia. Das gesamte Gericht vermittelt trotz seiner intensiven Aromen, bedingt durch deren hervorragende Balance, eine sommerliche Leichtigkeit und Frische, die einen kurz vergessen lässt, am heimischen Tisch zu sitzen.

Weiter geht’s mit Wildschweinragout zu Pappardelle. Die frischen Bandnudeln werden kurz gekocht und dann mit dem im Wasserbad warmgezogenen Ragout vermengt. »Zwei Runden aus der Pfeffermühle drüberkreisen«, so sieht es die Anleitung vor, »Carbonara« von Spliff dazu fast passend aus dem Lautsprecher, fertig ist der Hauptgang. Die handgemachte Pasta hat nach den zweieinhalb Minuten Garzeit genau die richtige Textur, die sich auch während des Verzehrs nicht ändert. Das Wildschweinragout zerfällt vor Zartheit, offenbart dabei jedoch keine trockene Faser, alles wird von einem viskosen, würzigen Schmorjus umglänzt. Eine leichte Süße spielt beim Ragout mit Herzhaftem, eine auffällig weihnachtliche Aromatik der Schmorgewürze ist überraschend, aber gut. Man schmeckt mit jeder Gabel sowohl das passionierte Kochhandwerk als auch das Fernweh.

Wer will und kann macht jetzt einfach noch weiter mit einer Parmigiana di melanzane. Den geschichteten Auberginenauflauf erhitzt man ohne Mühe einfach im Ofen und genießt ihn direkt aus dem Glas. Man könnte das natürlich auch zur Pasta essen oder am nächsten Tag, aber ich lasse mir die kleine, herzhafte Zugabe nicht nehmen, bei der ebenfalls das gute Handwerk begeistert.

Der unbeschwerte Genuss reißt auch beim süßen Finale nicht ab. Ein Tiramisu ist himmlisch ‒ eines der besten, die ich je probiert habe ‒, und selbst die Cantuccini, die man noch zum Espresso (aus mitgelieferten Kaffeebohnen!) genießen kann, sind ausgezeichnet, weil sie nicht so extrem brüchig und zu süß sind wie viele solcher Exemplare aus der Massenproduktion. Diese hier sind kross, aber nicht krümelig und bieten differenzierten Knabberspaß.

Neben den ausnahmslos köstlichen Speisen haben es die »Lotrekkies« geschafft, italienisches Lebensgefühl in ihre Kiste zu packen. Der sternenklare Frühlingsabend in Hamburg, den man unter Zuhilfenahme von Wärmestrahlern angenehm auf der Terrasse ausklingen lassen kann, verstärkt und lindert das Fernweh zugleich. Die Playlist fängt inzwischen wieder von vorne an, aber auch das könnte beabsichtigt sein. Denn nach Wiederholung schreit hier alles.