Lockdown-Notizen III: Grüße aus der Hauptstadt

Wenn ich derzeit schon nicht zum Essen reisen kann, kann ich den Spieß auch einfach mal umdrehen. Einige der besten Restaurants in Deutschland bieten inzwischen einen bundesweiten Lieferservice per Overnight-Express an. Meine erste Erfahrung mit einem solchen Angebot war im November vergangenen Jahres ein Menü aus dem Nobelhart & Schmutzig. Das Restaurant nutzte die Pandemiezeit von vornherein sehr kreativ, von luftigen Abendessen auf alten Flughafen-Rollfeldern bis zu Merchandise-Artikeln und Essen zum Mitnehmen über einen Online-Shop. Das verschickte Menü fiel ‒ zu einem recht hohen Preis ‒ jedoch etwas karg aus, trotz absolut zweifelsfreier Qualität. Erste Anläufe in einer herausfordernden Zeit.

Zwischenzeitlich habe ich mir weitere Menüs aus Berlin zu Gemüte geführt. Das hervorragende Tulus Lotrek bietet zwar keinen Versand an, aber durch einen privaten Kontakt hat es das Außer-Haus-Menü neulich dennoch zu mir nach Hamburg geschafft. Ein Glück, denn Max Strohes Restaurant mit seiner rebellisch-französischen Küche vermisse ich in diesen Zeiten häufiger.

Das Essen gelangt in einem »It-Bag« zum Kunden, so die Eigenbezeichnung des Jutebeutels, eine ironische Anspielung auf die hippe Berliner Bio-Szene, deren Anhänger in solchen Tragetaschen regelmäßig darin halb herausragende Lauchstangen spazieren tragen. (Was machen diese Leute eigentlich immer mit Lauch? Vichyssoise? Geflügelfond? Lauch im Salzmantel?)

Der Inhalt des Beutels sieht gemäß der Anleitung vor, dass man zuerst eine kochmützengroße Brioche mit Knoblauchhonig einpinselt, bei 160 Grad im Ofen aufbackt und sich diese dann mit Rohmilchbutter und Trüffelcreme bestrichen einverleibt. Dazu probiere ich aus meinem Keller einen 2013er Auxey-Duresses von der Domaine Roulot, der leider schon etwas über seinem Zenit ist. Die Brioche ist luftig genug, um nicht bereits komplett zu sättigen und buttrig genug, um glücklich zu machen, lediglich die bissige Note Trüffelöl in der Creme müsste nicht sein ‒ das passt auch nicht zum sonstigen offenkundigen Produktanspruch des Menüs. Immerhin liegt dem Essen eine ganze Knolle Périgord-Trüffel bei.

Der erste Gang ist Gelbschwanzmakrele, die vakuumiert als Sashimi auf ihr Anrichten wartet. Der Fisch ist von exzellenter Qualität. Man richtet ihn auf einer selbst auf den Tellergrund gepinselten Austernemulsion an, toppt das Ganze mit einem erwärmten Dashi, Friséesalat, Meerrettich und gehobeltem Trüffel und genießt dann ein Gericht mit (zumindest bei mir derzeit) stark vermissten asiatischen Aromen, hohen Produktqualitäten und Frische. Dem Salat hätte noch ein vorheriges Schwenken in dem Dashi gutgetan, aber man kann das durch beherztes Vermengen aller Komponenten kompensieren.

Der nächste Gang ist heftig und deftig. Es gibt einen sehr frei interpretierten »Croque Monsieur«, bestehend aus drei Lagen Toast mit Parmesan dazwischen. Man ist nun angehalten, das Umami-Kohlehydrat-Kombinat in der Pfanne anzubraten, mit einer Käsecreme zu bestreichen und erneut mit gehobeltem Trüffel zu bedecken. Nichts lieber als das. Ein 2012er Bonnes-Mares von Laurent Roumier macht inzwischen auch den Verdruss des verblühten Roulot wett.

Gang drei, der Hauptgang, hört auf »Rumohr«, eine nach dem Schriftsteller Karl Friedrich von Rumohr benannte Zubereitungsart von Eckart Witzigmann, bei der Blätterteig, Trüffel, Foie Gras und Lauch den Ton angeben, üblicherweise mit Kalbsbries, hier mit saftigem Huhn im Mittelpunkt. Das einpfündige Werk schiebt man für eine knappe Viertelstunde bei 220 Grad in den Ofen, bevor man es, nach mehrminütiger Ruhephase, aufschneidet und mit Selleriepüree, verschiedenen Saucen und Trüffeln nach eigener Façon anrichtet. Der kulinarische Exzess ist ganz nach meinem Geschmack: aus den Vollen geschöpft, mit hervorragenden Zutaten, klassischem Handwerk und einer Botschaft, die uns allen mitteilt, dass es nicht vorbei ist mit dem Genuss, weder heute noch überhaupt. Alles kommt wieder, und getrüffelte Geflügelgerichte stehen sicherlich weit oben auf meiner Vermisstenliste. Ich atme tief durch.

Eine handwerklich makellose Consommé aux Truffes folgt noch, bei mir allerdings erst am nächsten Tag, so sättigend waren bereits die ersten Gänge. Die klare Suppe ist von geschmacklicher Tiefe, leicht klebrig an den Lippen, und eine Einlage aus feingeschnittenem Suppengemüse und großen Trüffelscheiben unterstreicht den charmanten französischen Akzent dieses Menüs. Einige Petits Fours runden die ganze Chose ab. Jetzt fehlt nur noch ein offizieller Versand, sonst muss ich die Jutebeutel demnächst selbst aus Berlin abholen.


Max Strohes Berliner Kollege Tim Raue verschickt schon etwas länger Essen quer durch die Republik. Dabei hat man die Wahl zwischen zwei Konzepten. Das Menü »Restaurant Tim Raue« beinhaltet aktuelle Gerichte des Zwei-Sterne-Restaurants; das Konzept »Fuh Kin Great« bietet etwas bodenständigere Kost mit (bisher) asiatischem Themenschwerpunkt. Für € 68 (zzgl. Versandkosten von € 35) bestelle ich mir das Menü »Hongkong«, das in einer lustig beklebten Styroporkiste ankommt und Fernweh aufkommen lässt.

Die Box enthält in Pappschachteln verpackte und bereits nummerierte Gerichte, die in der Anleitung leicht aufgefunden werden. Die mitgelieferten Fotos der Speisen sind nicht nur eine charmante Anspielung auf die bebilderten Aushänge, die man in asiatischen Restaurants oft findet, sondern klären auch alle eventuellen Fragen bezüglich der Anrichtweise.

Die Zutaten in der ersten Schachtel ergeben in nur wenigen Arbeitsschritten ein »Cantonese BBQ Honey Chicken« mit Zitrusmarmelade und Frühlingslauch. Das ist süffig, würzig und macht Appetit auf den Folgegang.

Für »Fried Rice Lamma Island« erhitzt man den beigefügten Reis kurz flach ausgebreitet im Ofen und fügt wenig später die restlichen Zutaten hinzu, eine mit Kurkuma gewürzte Mischung aus Carabinero-Garnele, Ingwer und Paprika. Das scheinbar simple Gericht besticht durch sehr ansprechende und klar ausbalancierte Aromen. Es gibt eine elegante Süße, zurückhaltende Schärfe, blumigen Pfeffer und »minziges« Thai-Basilikum. Ausgesprochen gut.

Knusprige Spanferkelhaxe, eine der charakteristischen Zutaten von Raue, muss noch für knapp zwanzig Minuten im Ofen nachkrossen, dazu gibt es eine im Wasserbad kurz erhitzte Spitzkohlzubereitung mit Reiswein, Wasserkastanie und Ingwer. Das Gericht stillt jeden Appetit nach saftigem und knusprigem Fleisch, bleibt dabei aber durch die kohlehydratarme Komposition leicht genug, um sich noch auf das Dessert zu freuen.

Es gibt einen Mango-Tapioka-Sud mit Passionsfrucht und Vanille, eine Dessertart, der man auch in Hongkong oft begegnet. Der fertige Sud ist schnell angerichtet, lediglich die Flüssigkeit für ein Vanille-Granité muss mindestens 90 Minuten vorher ins Eisfach, damit man es später in kleinen Stücken über das Dessert brechen kann. Diese Information lese ich nur zufällig im Voraus, hier wäre eine deutlicherer Hinweis sinnvoll gewesen. Die Kreation schmeckt sehr gut, wie »Cuja Mara Split« in etwas feiner. (Die geschmackliche Nähe vieler industrieller Süßspeisen zu Desserts aus der Spitzenküche frappiert mich öfter.) Durch die Tapiokaperlen erhält das Dessert ‒ trotz Aromen, denen man auch in französischen Desserts öfter begegnet ‒ seine unverkennbar asiatische Charakteristik.

Am liebsten würde ich jetzt einen Flug nach Hongkong buchen, eine der Metropolen, die ich derzeit mit am meisten vermisse. Doch man muss nach vorn blicken. Raues aktuelles Menü ist Shanghai gewidmet. Die Reise geht weiter, auch ohne Flüge.