Zilte ‒ verlassenes Terrain

Drei-Sterne-Restaurants zu besuchen, vor allem mir noch unbekannte, ist nicht weniger als das Herz meiner Leidenschaft für eindrucksvolle Gastronomie und großartige Küche. Auch während der Pandemie sind immerhin sechs Restaurants erstmals in diese höchste kulinarische Kategorie aufgerückt, eines davon das Zilte in Antwerpen. (Ein Detail am Rande für Pedanten wie mich: das Restaurant verzichtet seit März vergangenen Jahres auf den apostrophierten Artikel ‘t vor dem Namen, der sinngemäß »Salziges« bedeutet.)

Die Reservierung im Zilte habe ich bereits vor Monaten getätigt. In der Hoffnung auf erleichterte Reisebedingungen wählte ich ganz optimistisch einen Termin im Sommer. Es fühlte sich gut an, wieder eine Drei-Sterne-Reservierung im Kalender zu haben.

Ungünstige Flugoptionen erfordern letztlich zwar eine Anreise im Auto, doch den Weg zu einem Drei-Sterne-Restaurant als Automobilist anzutreten, ist immerhin der Klassiker ‒ das heißt, ganz so, wie es die Brüder Michelin einst vorsahen. Dass meine (Sommer-)Reifen nicht von Michelin sind, wird man mir nachsehen müssen.

Das Timing ist knapp. Der Beginn der meisten abendlichen Reservierungen in belgischen Spitzenrestaurants ist derzeit 19 Uhr, weil, trotz aller sonst recht fortgeschrittenen Lockerungsmaßnahmen, die Restaurants um 23:30 Uhr ihre Gäste nach Hause schicken müssen. Ich komme wegen einiger Staus, die mich mehr als eine Stunde Zeit kosten, erst kurz nach 18 Uhr im Hotel an, das aber glücklicherweise nur eine Viertelstunde Fußweg vom Restaurant entfernt ist. Etwas verschwitzt komme ich auf die Minute pünktlich an.

Das Zilte befindet sich ‒ nach einem Umzug vor zehn Jahren aus dem sechzig Kilometer entfernten Mol ‒ nun im neunten Stock des Museum aan de Stroom (MAS). Von hier oben genießt man von jedem Platz einen wunderbaren Blick auf Belgiens größte Stadt.

Der Gästeraum ist angenehm klimatisiert, aber nach kurzer Zeit erstaunlich voll ‒ zumindest unter dem Eindruck der Pandemiebrille. Geimpft, gespannt und gut gelaunt starte ich den Abend mit einem 2011er Meursault von der Domaine Arnaud Ente (€ 390).

Die Menükarte steht bereits auf dem Tisch und verrät ein festes, siebengängiges Menü (€ 280) mit diversen Meeresfrüchten und einer Taube als Hauptgang. Der Vogel ist bekanntlich kein Favorit von mir, aber von Zeit zu Zeit nutze ich solche Gelegenheiten, um meine Präferenzen auf den Prüfstand zu stellen und bei Bedarf nachzujustieren.

Erste Amuse-Bouches erreichen den Tisch. Das geschieht in recht zügigem Tempo. Eine halbrunde »Schnitte« mit Rettich und geräuchertem Aal bietet eine rauchige, süßlich-säuerliche Geschmackswelt, die von zwei hauchdünnen, appetitlich knusprigen Waffelteilen eingerahmt ist. Ein wenig erinnern die Aromen an Hotdog, aber mit einer für die Spitzenküche würdigen Finesse. (8/10)

Der nächste Fingersnack ist eine Art Taco mit mariniertem Wachtelei, Pinienkernen und Champignons, Letztere sowohl in Form einer Creme als auch, geschmacksverstärkend, über die Kreation gehobelt. Am Gaumen nimmt man eine hervorragende Herausarbeitung des natürlichen Champignon-Aromas wahr, intensiv umami, mundfüllend und cremig. Eine Ode an die aromatischen Qualitäten einer oft unterschätzten Zutat. (8,9/10)

Es folgt ein flaches Schnittchen, bei dem spätestens jetzt klar ist, dass sich hier in der Patisserie irgendjemand besonders zwanghaft an größtmöglichem Knusperspaß in kleinstmöglicher Dicke abarbeitet ‒ zum gustatorischen Vorteil der Gäste. Diese Schnitte im Doppeldecker-Stil enthält Ziegenlebercreme, zu der ein Gel von Umeboshi (japanische Pflaume) süßlich-säuerliche Kontraste setzt. In Kombination mit dem herausragenden Teig schmeckt das wie ein »Leberwurstbrot« der Extraklasse. (8,9/10)

Die Kompositionen werden jetzt etwas »frischer«. Eine Tartelette mit Königskrabbe, Mango, Lachsrogen und Korianderblüte schmeckt leicht und sommerlich (8/10); ein Teigschiffchen mit Gurke, Muschelcreme und Rochen gefällt mir ebenfalls gut, kaschiert den Geschmack der Meerestiere aber unter der intensiven Gurke ‒ dennoch sehr fein. (7,5/10)

Ein regelrechtes Kunstwerk folgt in Form eines flachen Trockenbrots, in welches Zucchini inklusive ihrer Blüten eingearbeitet wurden. Zusätzlich eingewirkte Gewürze wie Fenchelsaat, Salz und Pfeffer sorgen dazu für einen angenehm würzigen Geschmack, bei erneut dünnem Knusperspaß. (7,5/10)

Beim letzten Amuse-Bouche findet man in einer Sauce mit Tintenfischtinte und Basilikumöl ein mit Auberginencreme und pikanter ’Nduja gefülltes Tintenfischröllchen. Der würzig-pikante Geschmack der kalabrischen Wurst in Kombination mit der Auflockerung durch die mediterranen Aromen von Basilikum und Tintenfisch macht den kleinen Löffel-Snack zu einer kleinen Sensation. Ich muss die Augen schließen, so gut ist das. (9/10)

Aber es kommt noch besser. Die jetzt an den Tisch gebrachten Backwaren versprechen schon optisch etwas Besonderes. Das eine Brot, eine Art Focaccia »auf französische Art«, wie man erläutert, wurde mit Olivenöl gebacken und hat eine glänzende, dünne, knusprige Kruste. Glanz und Farbe erinnern fast an einen Schweinebraten, und auch das erste Probierstück steht dem befriedigenden Erlebnis eines fettigen, süffigen Stücks Braten mit Kruste in nichts nach. Etwas Kresse frischt das Genusserlebnis auf. Ebenfalls am Tisch steht ein großes Stück Brioche, bei der man sich fragt, wie sich reine Butter überhaupt in diese Struktur überführen lässt. Zu allem gibt es exzellente Fassbutter sowie Olivenöl, wenn man davon überhaupt etwas benötigt. Das Brot ist derart unvergesslich, dass ich es mit 10/10 in die Bewertung dieses Essen einfließen lassen muss.

Den Auftakt des eigentlichen Menüs macht dann ein Gericht mit Stabmuschel. Das ausgelöste Meerestier ist, zusammen mit trockengereiften Stücken vom Wolfsbarsch, in einem kühlen Sud mit Dill-Öl angerichtet. Die hervorragenden Zutaten begleiten Codium (grüne Gabelalge), getrockneter Fenchel sowie Dill und Schnittlauch. Dill prägt das Geschmacksbild, die angenehm bissfesten Meerestiere und das seidige Öl das Texturerlebnis. Zweifellos herausragend. (9/10)

Die kulinarische Reise geht festlich weiter. Die zweiteilige Speise, die folgt, beinhaltet eine Kreation mit geliertem Dashi, klassisch auf der Basis von Bonitoflocken zubereitet, darauf eine große Nocke gereiften Kaviars. Der Reifungsprozess hat den edlen Rogen geschmacklich deutlich verändert, hin zu einer »fischigeren«, salzigeren Aromatik. Der konzentrierte Geschmack steht im Mittelpunkt der Komposition und macht den Kaviar zum Hauptdarsteller. In einem separaten Cornet ‒ mit erneut obsessiv dünnem, knusprigem Teig ‒ sorgt ein Tartar vom Thunfischbauch mit seinem dekadenten Schmelz für eine kongeniale Paarung. Intensiv und aufwühlend. (9/10)

Es folgt Kaisergranat, ein stattliches Exemplar, ausgelöst und zusammen mit japanischem Hinohikari-Reis frittiert ‒ eine Zubereitungsart, die ich bisher nur aus dem Frantzén kenne. Das Ergebnis ist eine saftige, auf kurzweilige Art knusprige Melange der beiden Zutaten, die an ein übergroßes Stück Nigiri erinnert. Das nussig-süßliche Krustentier begleitet ein aromatisch komplexer Jus auf Basis von Seeigel und Koji-Öl, verschiedene ‒ aber etwas zusammenhanglose ‒ Zubereitungen mit Rettich fügen Frische und eine weitere Texturebene hinzu. Nicht überwältigend, aber hervorragend. (8/10)

Ein Stück Steinbutt kommt beim nächsten Gericht goldbraun gebraten mit exzellenten jungen Erbsen, einer Beurre Noisette mit »Pil-pil«-Gewürz sowie, daneben angerichtet, einer Zutatenstraße mit süffig-zarter Schweineschnauze, kleinen Pilzen und Wellhornschnecken. Das interessante Potpourri bietet makellose Zutaten in einer leicht süßlichen Geschmackswelt, der es jedoch etwas an Kontrasten fehlt, Salz würde hier schon helfen. Nach wie vor sehr gut, aber nun schon deutlich entfernt von der attestierten Weltklasse. (7,5/10)

Im Glas entfaltet sich inzwischen ein 1993er Chambolle-Musigny von der Domaine Confuron-Cotetidot, der für € 145 sehr ordentlichen Burgunderspaß für Liebhaber bietet.

Der Wein ist mit seinem leicht »blutigen« Geschmack prädestiniert für die folgende Taube ‒ ohne, dass mir derartige Abstimmungen besonders wichtig wären. Ungeachtet von meiner mangelnden Begeisterung für die Hauptzutat überzeugen die dünn aufgeschnittenen, kaum gewürzten Tranchen des Vogels nicht. Es gibt dazu ein paar Stücke gebratene Foie Gras, eine seltsam mickerige Scheibe geschmacklich unauffälligen Trüffels und einige weitere Mitspieler, doch der Gang würde wohl selbst größten Taubenliebhabern nicht viel abgewinnen. Das geht leider kaum gegessen in die Küche zurück, Nachfragen folgen allerdings keine. Das Personal wird in Anbetracht der Sperrstunde etwas getrieben. (5/10)

Bevor das Menü süß fortfährt, wird ein Wagen mit einem Angebot verschiedener Süßweine an den Tisch geschoben. Das ist an sich eine gute Idee, doch als mir allen Ernstes ein Gepansche wie ein »Yquem-Martini« angeboten wird, lehne ich dankend ab und fühle mich wie im falschen Film.

Ein erfrischender, erneut angenehm knuspriger Waffelsnack mit Himbeere und weißer Schokolade (7/10) leitet nach der kurzen Irritation das Können der Patisserie ein. Himbeere und weiße Schokolade sind dann auch beim nächsten Dessert das ‒ in meinen Augen eher schwierige ‒ Leitmotiv; schwierig, weil weiße Schokolade ihren artifiziellen Charakter nie ganz ablegen kann. »Samba«-Tee, Hibiskus und Pondicherry-Pfeffer fügen der Kreation etwas notwendige Exotik hinzu. Sehr gut, nicht mehr, nicht weniger. (7/10)

Dem zweiten Dessert, eine Art Cheesecake (»Tarte russe«) mit dünner Knusperschicht, Joghurt, Kalamansi, Ananas und Rum in unterschiedlichsten Zubereitungen traue ich Großes zu. Immerhin gehört die Kombination von Ananas und Rum für mich zu den verführerischsten überhaupt. Hier funktioniert aber irgendetwas nicht so wie erhofft, und ich vermute das recht künstlich schmeckende Kalamansi-Aroma als »Übeltäter«. Zitrusaromen aus der Flasche haben schon viele Desserts ruiniert, weil sie auf die eine oder andere Weise immer nach Reinigungsmittel schmecken. Man muss die Kirche aber im Dorf lassen. Auch diese Speise ist sehr genießbar, nur betritt man auch hiermit nicht wieder das Weltklasseterrain, das längst verlassen wurde. (7/10)

Einige Petit-fours und Pralinen lassen das Essen sehr gut, aber weiterhin unauffällig, ausklingen. Eine geschichtete Süßspeise mit Kardamom, Honig und Eischnee ist so süß, dass ich das kaum herunterbekomme.

Trotz der recht steilen Abwärtskurve des Menüs, die die brandneuen drei Sterne etwas schwach leuchten lassen, verlasse ich das Restaurant frohen Mutes. Ich liebe es, von Restaurants »ausgespuckt« zu werden, hinaus in die Nacht. Die Melancholie des Abschieds, ganz gleich, ob man zurückkehren möchte oder nicht, gehört zum Erlebnis dazu. All das ist Teil meiner langen Reise zu den Sternen. Sie geht weiter, nächster Halt schon morgen Mittag.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Zilte (→ Website)
Chef de Cuisine: Viki Geunes
Ort: Antwerpen, Belgien
Datum dieses Besuchs: 18.06.2021
Guide Michelin (B & LU 2021): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 7,9 (Was bedeutet das?)
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