Tantris Maison Culinaire – der Legende zweiter Teil

Hans Haas im Ruhestand, dann die Pandemie: Das dürfte die Betreiber des Tantris vor besondere Herausforderungen gestellt haben, um es bescheiden zu formulieren. Aber die Eichbauers – in ihren Rollen als Unternehmer, Gastronomen, Architekten und Essbegeisterte wie ich – haben die Zeit genutzt, um das legendäre Restaurant gleich doppelt neu zu eröffnen.

Nach fast einem Jahr Schließungszeit beherbergt das ikonische Haus in München-Schwabing, das nun Tantris Maison Culinaire heißt, gleich zwei Restaurants unter einem Dach. Das Tantris, nun unter der Führung des Deutschkanadiers Benjamin Chmura (zuvor bei Troisgros), das sich fortan als (kreativeres) Menürestaurant versteht, und das Tantris DNA unter der Leitung von Virginie Protat aus Lyon, ein À-la-carte-Restaurant mit jenen französischen Wurzeln, die dem Tantris seit jeher Halt geben.

Die Jungköche, beide erst Anfang dreißig und beide mit Ausbildungen im Institut Paul Bocuse, rekrutierten die Eichbauers persönlich auf ihren kulinarischen Reisen. Sie wiederum stehen unter der Leitung des neuen kulinarischen Direktors (»Executive Chef«) Matthias Hahn, der viele Jahre an der Seite von Alain Ducasse gearbeitet hat und hier nun das kulinarische Gesamtkonzept dirigiert.

Den Neubeginn des Tantris mitzuerleben, das ich zu Haas’ Zeiten viel zu selten besucht habe, fühlt sich abenteuerlich und historisch an. Ich bin zwar nicht der erste Gast, dafür habe ich die allerersten zwei offiziellen Reservierungen ergattert.

Den ersten Abend verbringe ich im Menürestaurant. Die Veränderungen in den Räumlichkeiten spürt man erst nach und nach auf, wie in einem Suchbild, so omnipräsent sind nach wie vor die prägenden Gestaltungselemente in Rot, Schwarz und Orange. Es fällt mir erst spät auf, dass der große, begehbare Weinklimaschrank von seiner Position hinter der Bar in den Gastraum gewandert ist; auch andere Neuerungen sickern erst allmählich in mein Bewusstsein. Die größten Veränderungen sind in der Küche geschehen, wo nun eine lange Reihe Kupfertöpfe zwei riesige, brandneue Molteni-Herde voneinander trennt. Zwei sündhaft teure Küchen in einer: Man nimmt das mit den Trennungen der zwei Restaurantkonzepte ernst.

Die schlicht gestaltete Speisekarte im Tantris bietet zwei Menüs mit jeweils unterschiedlichen Gerichten. Das Sechs-Gänge-Menü kostet € 230, acht Gänge € 295. Solche Menüpreise findet man in Deutschland sonst nur auf Drei-Sterne-Niveau. Nur Christian Baus und Christian Jürgens’ umfangreichste Menüs überbieten das noch. Es ist allerdings kein Geheimnis, dass die Spitzengastronomie in Deutschland notorisch unterkalkuliert ist. Im Tantris leistet man mit einem hoffentlich profitabel kalkulierten Menüpreis überfällige Pionierarbeit für die Branche. In jedem Fall ist das ein selbstbewusster Aufschlag, den man sich hier leisten kann. Hinter mir am Tisch werden Weine zu Preisen von Kleinwagen konsumiert – tägliches Business hier im Hause.

Da fühle ich mich mit den zwei Fläschchen, die ich zu Beginn des Abends schon mal öffnen lasse, geradezu bescheiden. Die Weinkarte ist ohnehin eine der umfangreichsten und besten des Landes, mit einem Schwerpunkt auf große Burgunder in erstaunlicher Jahrgangstiefe und von einigen rar gesäten Erzeugern. Meine Wahl fällt beim Weißwein auf einen 2016er Puligny-Montrachet 1er Cru »Les Perrières« von der Domaine Jacques Carillon (€ 220) und beim Roten auf einen 2011er Échézeaux von der Domaine Mugneret-Gibourg (€ 350).

Erste Amuse-Bouches werden serviert. Ein federleichtes Teigkissen ist elegant knusprig und schmeckt nach der Haselnusscreme obenauf, nicht jedoch nach den Sommertrüffeln, die die noch nicht begonnene Périgord-Trüffel-Saison qualitativ nicht kompensieren können (6,9/10). Eine feine Tartelette mit Hechteiern und eingelegter Bete zeigt erneut sorgfältiges Backhandwerk und schmeckt dezent salzig, rauchig, sehr gut (7/10). Dass man hier knusprigen, dünnen Teig nicht nur akkurat, sondern auch vielfältig zubereiten kann, beweist zum Schluss dieser Einstimmungen ein süffiger, fettiger Zwiebelchip (6,9/10).

Ein weiterer Gruß kommt in Form einer kalt servierten Tomatenconsommé. Der intensive Umamigeschmack, der auch eine Nuance Süße beinhaltet, wurde behutsam mit etwas Madras-Curry verfeinert, was der Brühe, trotz ihrer kühlen Temperatur, eine Art orientalische Wärme verleiht. Das ambivalente Spiel mit Kühle und suggerierter Wärme sorgt für einen Gänsehautmoment bei diesem von herausragender Schlichtheit getragenen Gericht. (8,9/10)

Der erste offizielle Gang des Menüs ist eine Komposition mit acht kleinen »Taschen« aus Kohlrabi, die mit einer leichten Blumenkohlcreme und geräucherter Forelle gefüllt und mit Osietra-Kaviar getoppt sind. Die fragilen Konstrukte lassen sich am besten auf einen Löffel kippen und dann in Richtung Gaumen transportieren, wo sich dann zunächst der elegant-rauchige Geschmack von Forelle bemerkbar macht, der durch den Kaviar um Salzigkeit ergänzt wird. Dessen weitere, jodige und nussige Aromen kann der Kaviar in dem Volumen der rauchigen Creme allerdings nicht präsentieren, was angesichts seiner exzellenten Qualität etwas betrüblich und in Anbetracht des Titels des Gerichts (»Œuf«) auch verwunderlich ist. Eine kleine Frage stellt sich mir auch bezüglich der gewählten Aufteilung in acht identische Portionen, was aufgrund der kaum vorhandenen Variationsmöglichkeiten etwas repetitiv wirkt. Sehr gut ist das trotz allem. (7/10)

Auch dem nächsten Gericht ist um eine auffällige Präsentationsform gelegen. Eine zur Rosenblüte geformte Komposition mit marinierter Bete, Radieschen und, dazwischen, gezupfter Petersfisch ist auf einem gelben Saucenspiegel gebettet. Der nage Sancerre entströmt ein appetitanregender, säuerlich-buttriger Duft, der sich am Gaumen wohlschmeckend bestätigt. Zusammen mit der texturell auch sehr ansprechenden Fisch-Bete-Kombination, ergibt das ein lebhaftes Gericht mit ansprechender Säurestruktur und einem Erlebnis, das entfernt an ein Ceviche erinnert. Dass der Fokus des Gerichts erneut nicht auf seinem namensgebenden Titel (»à la ligne«, also dem Fisch) liegt, sondern auf dem – zweifellos spannungsvollen – Säurespiel und den Beten, ist folgerichtig, aber verwunderlich. In Summe ist das ein sehr gutes Gericht, das Emotionen transportiert, auffällig präzise Garungen und eine exzellente Sauce bietet. Es fällt noch auf, dass Mauro Colagreco (Mirazur) vor einigen Jahren eine sehr ähnliche Kreation entwickelt hat, was aufgrund dessen Originalität kaum ein Zufall sein dürfte. (7,5/10)

Es folgt eine Steinpilztartelette aus exzellent gearbeitetem Blätterteig. Das Törtchen beinhaltet ein Steinpilzragout mit Birne; darauf findet man aufwändig, aber stabil in die Höhe geschichtete rohe Steinpilzabschnitte. Eine Vinaigrette mit Haselnussöl und Sherry versorgt das Ganze mit Säure und Flüssigkeit, Salbei und Orangenzeste bieten vereinzelt Akzente in Richtung Frische und Fruchtigkeit. Man bekommt hier im Wesentlichen einen unverfälschten Geschmack der Pilze geliefert; dabei überrascht jedoch der Kontrast zwischen der aufwändigen Anrichtweise und einem deutlich einfacheren – dennoch sehr guten – Genusserlebnis. (7/10)

Das Menü fährt fort mit Kalbsbries. Das etwas mehr als pflaumengroße Stück wurde akkurat vorbereitet und punktgenau gegart. Bei Bries gibt es in dieser Hinsicht wenig Spielraum. Ein »Kaffeejus«, bestehend aus einer exzellenten, »klebrigen« Demi-Glace auf deutlich wahrnehmbarer Kalbsfondbasis, die mit Kaffee aromatisiert wurde, kompensiert – absichtlich oder zufällig – die mir persönlich etwas fehlenden Röstnoten beim Bries. Das Ganze wird von einem schlichten, aber passenden Topinamburpüree und fast schon zu säurebetonten Kapernäpfeln begleitet. Dekorative Topinambur-Chips erfüllen kaum eine sensorische Funktion, außer etwas knusprige Textur, und wirken daher etwas verlegen. Diese Auffälligkeiten finden jedoch erneut auf einer Ebene statt, die mindestens sehr gut ist und stellenweise, wie hier bei der Sauce, auf ein Niveau »vorprescht«, das noch nicht vollständig durchdekliniert ist. (7/10)

Die Atmosphäre, die einen wesentlichen Teil des Erlebnisses hier ausmacht, ist auf allseits bekanntem, unvergleichlichem Niveau. Der Service ist souverän, humorvoll und kenntnisreich, das Publikum illuster, die sündhaften Genüsse stets in Reichweite. Ich kenne nach wie vor kaum ein Restaurant, das derart zum Bleiben (und Konsumieren) animiert wie das Tantris.

Deutlich schlichter ist der nächste Gang mit Rotbarbe. Ein saftig gegartes, im Inneren sogar noch eine Nuance rosafarbenes Filet wurde hierzu mit einer püreeartigen, orangefarbenen Schicht, die unter anderem Salzzitrone beinhaltet, bestrichen und ist in einer quietschgelben Safran-Beurre-Blanc angerichtet. Derartigen Purismus kann man sich bei diesem Produkt genauso erlauben wie das erneute, aber sehr passende Bekenntnis zu Säure. Die abermals hervorragende Sauce nimmt man am besten mit der mit Anis aromatisierten Brioche feuilletée auf. Ein puristisches Vergnügen. (7,5/10)

Der nächste Gang präsentiert eine Art »Roulade« von Reh und Boskop. Beide Zutaten sind mit Schinken ummantelt und wurden offenkundig – bis auf einige Anbratvorgänge – in zylindrischer Form gemeinsam gegart. Das ungewöhnliche Duo stellt ein Reh von zweifelsfreier Qualität zur Schau und bietet mit dem Apfel dazu einen spannenden Mitspieler. Die gewählte Apfelsorte ist mit ihrer erneut sehr dominanten Säure vielleicht nicht die beste Wahl (oder in ihrer Proportion unpassend), aber die gleichermaßen weiche wie auch »knackige« Textur sowie die Fruchtaromen begleiten das Reh schlüssig und mit einer auflockernden Frische. Den erfreulichen Glanz der sehr schmackhaften, dichten Sauce, trübt jedoch ein kleiner handwerklicher Fehler: Immer wieder bildet sich eine klebrige Haut auf der Sauce, was zwar ihre Qualität bezeugt, aber durch akribische »Pflege« beim Reduzieren von Fond und Sauce verhindert werden müsste. Auch die Portion ist mit gleich zwei dieser Apfel-Reh-Rouladen deutlich zu groß, ich schaffe auch nicht alles. Dazu gereichte Pommes soufflées sind gut, vielleicht eine Nuance zu weich. In Summe ergibt sich das Bild eines unfertigen Gerichts, das von diversen Optimierungen profitieren würde. (6,9/10)

Ein Pré-Dessert mit Kalamansi und Joghurt-Schaum mit Anis schmeckt frisch, zitronig und ist leicht adstringierend (7/10). Das erste Dessert mit kubanischer Schokolade, Milchreis und Sommertrüffel ist dagegen leider eine geschmackliche Verirrung. Bitterkeit, Säure und »Stumpfheit« sind meine dominierenden Empfindungen am Gaumen, die einerseits von der extrem bitteren Schokolade als auch, vor allem, durch die wenig genussbringenden Sommertrüffeln herrühren. Das ist für mich leider beim besten Willen ungenießbar (5/10).

Eine weitere Dessert-Kreation mit kandiertem Apfel auf Mürbeteig, dazu Ziegenkäse-Eis und kandiertem Ingwer zieht einige »klassische Geschmacksregister«, die an Apfelkuchen mit Eis oder Sahne erinnern, zuverlässig funktionieren und hier auch einwandfrei ausgeführt sind (7/10). Die letzte Süßspeise mit Whisky-Eis, Pastinakenchips und – diesmal deutlich besserer – peruanischer Schokolade wartet mit einem geschmacklich sehr ähnlichen Eis auf, während die hauchdünnen Chips öfter mal im Hals stecken bleiben und sich nur mit viel Wasser (oder Puligny-Montrachet) von dort entfernen lassen (6,9/10).

Einige Petits Fours, die weder Grund zur Klage noch zur Bewunderung bieten (vor allem, wenn man Haas’ fulminanten und vielfältigen Abschluss kennt), runden den nicht so ganz festlichen süßen Teil des Abends ab.

Selbstverständlich sind das hier allererste Eindrücke eines noch ganz jungen Menüs, das gerade zu Beginn oft schon mehr als sehr gut war. Der gewichtigste Kritikpunkt ist in diesem Stadium allerdings das Preis-Leistungs-Verhältnis, da man als Gast für knapp dreihundert Euro ein kulinarisches Niveau erwarten darf, das derzeit noch an kaum einer Stelle erreicht wird – wenn man bedenkt, dass es nicht einziges wahrhaftiges Produkthighlight gab.

Allen Gedanken an mögliche Verbesserungen zum Trotz, bilden das herzliche und schon jetzt bestens eingespielte Restaurant-Team in Kombination mit der einzigartigen Atmosphäre die Bühne für ein stundenlanges, (be-)rauschendes Fest.

Dass ich morgen – Verzeihung, schon heute Abend – gleich wieder hier einkehre, erfüllt mich daher schon jetzt mit Vorfreude.


Am Abend »geht es schon wieder«. Der Nebel der rauschartigen Nacht, die noch mit exzellenten Cocktails in der Tantris Bar endete, hat sich rechtzeitig gelichtet, und Appetit ist auch schon wieder da. Beste Voraussetzungen für ein Schlemmerfest im neuen Tantris DNA.

Für dieses Restaurantkonzept hat man einen separaten Bereich des Hauses markant umgestaltet und ist sich doch treu geblieben.

Das Tantris DNA, unter der Leitung der charmanten Virginie Protat aus Lyon, steht für den »Grundgedanken der französischen Küche« (so der Wortlaut der einstigen Pressemeldung), »die Verbindung aus Lebensfreude und Kochkunst« (so Protat) und damit für nicht weniger als die Essenz dessen, was das Tantris seit jeher im Kern gekennzeichnet hat. Interessant ist, dass man diese bewährte Philosophie nun an einem neuen und neu gestalteten Ort weiterführt – und gerade nicht im vorderen, bekannten Teil des Hauses. Auf diese Weise entstehen gleich zwei neue Orte anstatt nur einer (was der Fall gewesen wäre, hätte man das experimentellere Menürestaurant hier platziert). Das ist clever, weil damit durch das gesamte Haus ein neuer Wind weht, und nicht zuletzt natürlich auch, weil in den Tantris-Räumlichkeiten deutlich mehr der kostspieligen Menüs verkauft werden können.

Andererseits: Ob man im Menürestaurant wirklich einen höheren Pro-Kopf-Umsatz erzielt, bleibt die Frage. Immerhin lädt das Tantris DNA mit seinem noblen Bistro-Ambiente, deutlich mehr Privatsphäre und einem geradezu schlaraffenlandartigen À-la-carte-Konzept sehr geschickt zum Ablegen der allerletzten Portion Anstand ein. Ich starte den Abend zumindest geradezu fremdgesteuert mit einem 2010er Échézeaux von der Domaine de la Romanée-Conti und bin mit der Entscheidung für dieses sündhafte Weingut nicht einmal der Einzige im Raum.

Zu einem Glas offenem Champagner (2017er »Ambonnay« von der Domaine Merguet, € 25) genieße ich zuerst ein paar salzig-herzhafte Aperitif-Snacks nach durch und durch französischer Manier. Ein Kalbskopf-Praliné mit Sauce Gribiche sowie ein Gebäck mit einer Füllung aus flüssigem Comté übererfüllen ihre Rollen als herzhafte, warme, Umami-Schmeichler in spürbar präziser Ausführung (7/10).

Ein in der Schale serviertes »Œuf à la Bourignonne« interpretiert einen französischen Klassiker in Form von konzentrierter Süffigkeit zum Auslöffeln. Zwiebeln, Kalbsfond, Champignons, Speck, Thymian, alles verarbeitet zu cremigen und flüssigen Schichten, getoppt mit Schnittlauch – und dazu noch in der Funktion als warmer Dip für ein ebenfalls noch warmes, buttriges Stück Brioche-Toast –, setzen ein markantes Ausrufezeichen hinter das unkomplizierte, aber sehr hohe Genussplateau, auf das man sich hier jetzt schon begeben hat. (8/10)

In kurzweiligem Austausch mit dem stets gut gelaunten Sommelier und Maître Mathieu Mermelstein navigiere ich mich durch die verlockende Speisekarte. Es gibt knapp über ein Dutzend Gerichte, von denen sich jedes einzelne, von den Kleinigkeiten (»pour le plaisir«) über die »hors d’œuvres« und »plats principaux« bis zu Käse und Desserts, so liest, als dürfte man unter keinen Umständen darauf verzichten. Mit dem Restaurantpersonal ein solches Entscheidungsproblem zu lösen, gehört für mich zu den vergnüglichsten Dingen eines niveauvollen Restaurantbesuchs.

Preislich muss man auch hier im DNA mitunter zweimal hinsehen. Die meisten Gerichte bewegen sich im oberen Drittel der Zweistelligkeit; einige Gerichte zum Teilen kratzen gar an der Zweihundert-Euro-Marke. Man ist aus Frankreich Schlimmeres gewohnt, aber solche Gerichtspreise dürften hierzulande nicht vielen geläufig sein.

Meine erste Bestellung sind sechs bretonische Austern mit einer Schalottenvinaigrette (€ 42). Die atemberaubende Qualität dieser Portion beginnt schon bei den optisch fast identischen, makellosen Schalen der Tiere, setzt sich am Gaumen mit einem wachrüttelnden Qualitätserlebnis fort und mündet in einem Erlebnis von glasklarer, reiner Meeresfrische, die ganz behutsam von der grandios integrierten Vinaigrette aufgewertet wird. Das Genusserlebnis mit der bereits hinzugefügten Vinaigrette unterscheidet sich fundamental von den zu Austern oft separat servierten Schälchen mit Essig und gehackten Schalotten, wovon die Austern oft nur laut übertönt werden. Wenn man nicht bereits wüsste, dass hier eine Dame am Pass steht, könnte man glatt auf die Idee kommen, die Umsetzung dieses Tellers als »feminin« zu bezeichnen. Das ist qualitativ und geschmacklich mehr als hervorragend. (8,5/10)

Ein buttriges, luftig-knuspriges Brioche-Törtchen mit scharf angebratenen Steinpilzen (€ 44), etwas Petersilie, süffiger Steinpilzsauce und rohen Steinpilzabschnitten liegt handwerklich einige Stufen über dem Steinpilzgericht, das ich fast auf die Minute genau vierundzwanzig Stunden zuvor im Schwesterrestaurant genoss. Die Steinpilze schmecken hier »präsenter«, die in die Breite statt Höhe angerichtete Kreation lässt sich besser essen, es ist alles etwas wärmer, und ein dazu gereichtes Schälchen mit einer rauchigen Royale mit Speck schmeichelt noch einmal zusätzlich. Wenn man davon ausgeht, dass in der Küche der beiden Restaurants dieselben Produkte Verwendung finden (und bei dieser Speise auch noch ein sehr ähnliches Konzept »Teig und Pilz«), ist es verblüffend, diesen großen Unterschied feststellen zu können: den offenbar ausschließlich übers Handwerk realisierte Unterschied zwischen einer sehr guten und einer nach deutlich höheren Weihen strebenden Küche. (8,5/10).

Der berühmte Haas’sche Klassiker Lauchpüree mit Kartoffelschaum, Nussbutter und Kaviar ist auch auf der Karte, für € 64 und mit leichten Modifikationen. Wie bei den Austern reüssiert Küchenchefin Protat darin, den Gerichten eine Art neue Leichtigkeit zu injizieren. So besteht das Lauchpüree hier offenbar nicht, wie beim Klassiker, aus einer Kombination von Kartoffel, Lauch und aufgeschlagener Sahne; stattdessen hat man die Kartoffeln als Chips »extrahiert«, das Püree etwas authentischer gelassen und eine nach wie vor umwerfende, schaumig aufgemixte Nussbutter angegossen. Man könnte vielleicht darüber nachdenken, die Menge der Chips zu kommentieren, doch die sind so zart und knusprig, dass sie sich am Gaumen blitzschnell in Wohlgefallen auflösen. Der Kaviar kommt hier mit seiner luxuriösen Salzigkeit ebenfalls wunderbar zur Geltung. Ein zeitloses Weltklassegericht in neuem Glanz. (9/10)

Der Burgunder dazu ist ein Monument für sich. Der exzellente Sommelier Mermelstein versteht es ganz von selbst, immer nur behutsam nachzuschenken, immer nur einen kleinen Schluck. Er besteht darauf, ganz allein für die Karaffe verantwortlich zu sein. Wenn es doch mal jemand anderes aus dem Service versucht – nicht immer ahnend, was da in der Karaffe steckt –, suche ich verstohlenen Blickes nach Mathieu, der dann besorgt zum Tisch eilt. Es ist ein Fest.

Ein Tranchierwagen wird an den Tisch gerollt. Erlebnisse dieser Art sind genau das, was man hier im DNA zelebrieren möchte. Die aktuelle Karte bietet zwei Gerichte für diese Servierform an, die sich jeweils ab zwei Personen eignet: einen Wolfsbarsch im Salzteig (€ 162) und das legendäre Kalbsbries »Rumohr« (€ 194), auf das ich mich jetzt freuen kann.

Der von Eckart Witzigmann entwickelte Klassiker kommt in »Pithiviers«-Form an den Tisch, in dessen Innerem sich die bekannte Mariage aus Kalbsbries, Gänseleber, Lauch und Parmaschinken befindet. Eine entscheidende Zutat fehlt jedoch: Tuber melanosporum, schwarzer Wintertrüffel. Man hat ihn erneut durch den deutlich schwächeren Sommertrüffel ersetzt, ein der Saison geschuldeter Kompromiss, auf den sich Witzigmann nie eingelassen hätte. Doch der kocht hier bekanntlich schon lange nicht mehr, sondern eben Protat, und die lässt das Thema Trüffel hier ganz zur Nebensache werden, indem sie zu dem Törtchen einfach eine der besten Albuféra-Saucen serviert, die ich je probiert habe. Die mit Gänseleber gebundene Sauce ist genauso luxuriös, wunderbar samtig und hat sogar den »Glanz, den das Auge erfreut«, wie Bocuse es einst formuliert hat. Welch Segen, dass solche Traditionen aufrechterhalten, wiederbelebt und so fulminant zelebriert werden. (9/10)

An Aufhören denke ich aber noch nicht, doch es ist meine letzte Wahl. Sie fiel schwer, aber sie fiel richtig, auf ein Rinderfilet mit Knochenmark und Fleurie-Sauce (€ 86). Rinderfilets findet man bekanntlich eher in der guten bürgerlichen Küche als in aktuellen Spitzenrestaurants, doch das Gericht baut eine außerhalb Frankreichs selten erlebbare Brücke zwischen diesen Welten, und zwar mit drei Maßnahmen: Produktqualität, Handwerk und Proportionen. So hat das Fleisch eine fantastische Qualität, herrührend von Aubrac-Rindern aus Bayern. Es ist von buttriger Zartheit, ungewöhnlich für ein Filet, dabei geschmacklich prägnant und exzellent rosé gegart – obwohl das Fleisch von einer Qualität ist, bei der Gargrade so gut wie keine Rolle spielen. Selbst ein komplettes Durchgaren könnte dem Fleisch kaum etwas anhaben, eine Eigenschaft, die den meisten sehr hohen Rindfleischqualitäten innewohnt. Die Sauce dazu ist eine Demi-Glace mit reduziertem Burgunder und meisterlich umgesetzt: überraschend säurebetont und lebhaft, genau wie der junge Fleurie, den man hier verkocht hat. Man schmeckt dazu etwas Lorbeer und Rosmarin, die Sauce ist konzentriert, aber nicht dicklich und dennoch »klebrig« an den Lippen. Man schmeckt hier wieder diesen frischen Wind der Leichtigkeit, der sich bisher als roter Faden durch die Gerichte zieht. Die Scheibe Knochenmark verbindet auf der Texturebene die flüssige Sauce und das feste Fleisch und fügt noch etwas Schmelz hinzu. Dabei ist alles perfekt zueinander proportioniert, Sauce und Mark reichen für das gesamte Stück Fleisch, dessen flache zylindrische Form sich auch noch sehr gut schneiden lässt. Es ist eine perfekte Ausführung eines solchen, im Grunde schlichten, Gerichts auf seltenem Spitzenniveau. (8,5/10)

Den Rest des Abends lehne ich mich beseelt auf die gepolsterte Sitzbank zurück, einen funkelnden, duftenden Rest Échézeaux noch im Glas. Das Tantris DNA ist zweifellos ein Kandidat für die beste klassische französische Küche im Land. Das war das Tantris damals auch schon, aber hier, im neuen Séparée der Maison Culinaire, lässt sich diese Küche anders zelebrieren. Intimer, näher am Gast, »kulinarischer«. Vielleicht könnte man sagen, dass das Menürestaurant Tantris eher ein gastronomisches Erlebnis ist und das Tantris DNA eher ein kulinarisches. Das glanzvolle soziale Gefüge eines großen Spitzenrestaurants, mit emsigem Service, dem Sehen und Gesehenwerden, wo jeder gleichermaßen »Teil des Ganzen« ist, das ist und bleibt das Tantris. Wer lieber unter sich genießen möchte, bewusster, mit kulinarischem Fokus, und wer längst Teil des Ganzen ist, geht ins DNA.


Das Tantris Maison Culinaire ist ein starker Neubeginn. Es ist kein neues »Kapitel«, wie man hier und dort liest, sondern ein ganz neuer Band. Dessen Einleitung ist schon stark preisverdächtig, ich habe nur leider keine Zeit mehr, um weiterzulesen. Ich lege das Buch aber nur kurz zur Seite, so viel ist sicher.

Informationen zu diesen Besuchen
Restaurant: Tantris (→ Website)
Chef de Cuisine: Benjamin Chmura
Ort: München, Deutschland
Datum dieser Besuche: 07.10.2021
Guide Michelin noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens: 7 (Was bedeutet das?)
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Restaurant: Tantris DNA (→ Website)
Chef de Cuisine: Virginie Protat
Ort: München, Deutschland
Datum dieser Besuche: 08.10.2021
Guide Michelin noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens: 8,5 (Was bedeutet das?)
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