Sushi Kimura – die Bescheidenheit des Thunfischbauchs

Das letzte Restaurant, das ich in Singapurs Stadtteil Orchard besuche, ist das Sushi Kimura. Ich habe meine Restaurantbesuche geografisch etwas »gruppiert« und wechsle heute Nachmittag planmäßig das Hotel. Es geht vom Four Seasons ins etwas modernere und für alle weiteren Unternehmungen besser gelegene Parkroyal On Pickering.

Vorher steht aber noch ein Mittagessen auf der Agenda. Das Sushi Kimura wählte ich dafür ganz »klassisch« im Guide Michelin auf der Suche nach besternten Sushi-Restaurants aus. Weitere Kriterien wie Öffnungszeiten, Verfügbarkeit und Lage ergaben dann diesen kleinsten gemeinsamen Nenner. Es ist immer eine gute Idee, in den Metropolen dieser Welt hochwertige Sushi-Restaurants aufzusuchen, um eventuelles Darben nach authentischer japanischer Küche zu lindern (oder, um diese zu entdecken, wenn man noch nie in Japan war). Mein letzter Besuch in einem Sushi-Restaurant auf diesem Niveau ist jetzt zwanzig Monate her, die Sehnsucht entsprechend groß.

Das Sushi Kimura befindet sich, wie viele Restaurants in asiatischen Ländern, in einer Mall, einer sehr kleinen und sehr in die Jahre gekommenen, allerdings. Verteilt auf einige Stockwerke findet man hier Brautmode, menschenleere Modegeschäfte und einige Beautyläden. Zwischen all der Tristesse ist der Eingangsbereich zum Restaurant mit seiner in dunkelgrauen und schwarzen Schattierungen bemalten Wand ein ästhetischer Blickfang. Als ich ankomme, hat das Restaurant noch nicht geöffnet. Kurz vor halb eins huscht ein Angestellter heraus und platziert noch eine kleine Leuchte in den Eingangsbereich, was mich zum Lächeln bringt. Japanische Details.

Eine Fülle weiterer solcher Annehmlichkeiten offenbart sich dann am Tresen. Sushi-Restaurants haben einen ganz charakteristischen Duft, eine appetitliche, säuerlich-würzige Melange aus Zypressenholz, Sojasauce und Dashi. Der Duft beruhigt mich, er signalisiert akkurates kulinarisches Handwerk, Hingabe, Qualität und Gastfreundschaft.

Das Menü liegt bereits an meinem Platz. Bei der Reservierung musste man sich bereits für eine von drei Varianten entscheiden: entweder nur Sushi oder eines von zwei Menüs mit unterschiedlichen Zutaten. Meine Wahl fiel auf die preisliche mittlere Variante (»Raku«, 250 SGD, ca. € 160) mit fünf Appetizern, einer Sushi-Sequenz und einem Dessert.

Die Getränkekarte ist klein, aber fein, es gibt, Bier, Sake, Champagner und Burgund – und nur einen offenen Wein, dafür einen sehr guten weißen 2018er Santenay-Beaurepaire 1er Cru von der Domaine Remoissenet (ca. € 20), an den ich mich während des Menüs halte.

Zum Auftakt gibt es eine Kreation mit Lachsrogen (ikura), Dashi-Gelee und Milchhaut (yuba). Frisch geriebener, duftender Wasabi setzt dabei einen scharfen Akzent zu eleganter Kühle und frischer Herzhaftigkeit. Ein hervorragender Start. (8/10)

Die zweite Speise ist genauso fein. Es gibt ein saisonales Chawanmushi mit Krebsfleisch aus Hokkaido und shirako (Fischmilch), der etwas gewöhnungsbedürftigen, aber angenehm cremigen Delikatesse aus dem Samen männlicher Fische. Die unterschiedlich weichen Texturen sind spannungsvoll am Gaumen, dazu ergibt sich ein mild-würziger Geschmack. Die Hitze der Speise ist dabei essenziell, um ihren herzhaften Charakter zu unterstreichen. Erneut exzellent. (7,9/10)

Es geht weiter mit einem Stück gekochter Abalone aus Hokkaido. Wer mit den Ausführungen dieser Zutat in den besten Restaurants Japans vertraut ist, weiß um das hohe kulinarische Niveau, das dieses kleine Stück Meeresschnecke erreichen kann. Deren wesentliche Attribute, wie eine bissfeste Textur und ein milder, leicht süßlicher Geschmack nach Meer – eigentlich das Gegenteil einer Auster –, können mit gewissenhafter Technik (Garung und Schnitt) und einer passenden Begleitzutat optimal herausgearbeitet werden. Hier bei Küchenchef Tomoo Kimura sind Qualität und Handwerk makellos. Seine Wahl, in dünne Streifen geschnittene Algen dazu zu servieren, ist schlüssig, überlagert aber in der gewählten Menge ein wenig die Aromen der Abalone, anstatt sie nur zu akzentuieren. Bis auf diese leichte Dysbalance ist aber selbst dieses kleine Schälchen ganz und gar hervorragend. Das Qualitätsniveau hier ist ausgesprochen hoch. (7,9/10)

Es folgt ein Teller mit Sashimi. Es gibt Zackenbarsch, Makrele und Trogmuschel in sehr guter Qualität, – Makrele und Muschel sind am besten – in einer Kombination mit verschiedenem rohem Gemüse, Obst und Kräutern. Eiskraut bringt eine leicht süße Frische ins Spiel, Mango exotische Fruchtaromen, eine Tomatenscheibe natürliches, kühles Umami und frischer Wasabi immer wieder eine Möglichkeit, scharfe Akzente zu setzen. Der kleine Zweig Perillablüten wirkt dazu wie ein Wundermittel, um das ganze Arrangement mit floralen, parfümartigen Aromen zu komplettieren. Das ist eine ungewöhnliche, sehr aparte Komposition, die eine Fülle an überraschenden, wohlschmeckenden Eindrücken produziert. (7,9/10)

Einen weiteren Fisch aus der Gattung der Zackenbarsche – ich habe hier leider Mühe, die Bezeichnungen gut zu verstehen – folgt in gegrillter Form als letzter Gang vor dem Sushi. Zu dem Grillfisch gibt es kleine, angenehm geschnittene Gartengurken und einen Sesamsalat, dazu ein Dashi mit heller Sojasauce. Man erhält dazu einen separaten Teller für die Gräten, was nötig ist, da der Fisch fast mehr davon besitzt als Fleisch. An meinem Fehler, ein etwas zu großes Stück des Fischs in den Mund zu nehmen, arbeite ich einige anstrengende Minuten. Irgendwann sind alle Gräten aussortiert, und ich kann den saftigen Fisch mit seinen leichten Grillaromen angemessen würdigen, lediglich die Sesam-Dashi-Kombination weist mir eine Nuance zu viel Süße auf. (7/10)

Das nächste Kapitel ist dem Nigiri-Sushi gewidmet. Es ist meist der spannendste Teil in einem sushi-ya, weil man dabei den Meister persönlich bei seinem persönlichsten Handwerk beobachten kann. Bewegungen, Mimik, Konzentration, Ästhetik, Choreografie: Hier verschwimmt für mich die Grenze zwischen Handwerk und Kunst. (Siehe auch: Sushi Saito – sieben Mal blinzeln.)

Das erste Nigiri, das mir Meister Kimura aufs Tablett stellt, ist mit Schnapper. Ich benötige nur eine freie Hand und wenige Sekunden für mein Foto, um die Kreation schnellstmöglich zum Gaumen zu bringen. Jeder weitere Verzug wäre eine Beleidigung, wenngleich das hier nicht alle Gäste so ernst nehmen.

Der Reis, das shari, ist bei Nigiri-Sushi das Wichtigste; er ist wie eine Signatur. Jeder Sushi-Meister hat hier seinen persönlichen Stil, und es ist jedes Mal aufs Neue spannend, mit einem solchen vertraut zu werden. Beherrscht man sein Handwerk, gibt es kein richtig oder falsch. Dieses erste Nigiri – mit recht warmem Reis, »luftig-fluffiger« Körnung und prononcierter Säure – leitet ein Niveau ein, dem man nur in den besten Sushi-Restaurants begegnet.

Es geht weiter mit einem Fisch, dessen Namen ich nicht verstehe; es könnte eine Makrelenart sein. Deren etwas »gegliedertes«, reichhaltiges Fleisch ist abwechslungsreich am Gaumen; die vom Meister mit einem Pinsel aufgetragene Sojasauce setzt einen säuerlichen Akzent. Erneut fällt die akkurate Körnung und die höhere Temperatur vom Reis angenehm auf.

Mir fällt dabei ein Satz von Paul Bocuse ein, wo dieser beschreibt, dass eine Demi-Glace erst durch das Abbinden mit kalter Butter den Glanz erhält, »der das Auge erfreut«. Selbiges gilt für Nigiri-Sushi. Gutes Sushi glänzt, schlechtes ist stumpf.

Es folgt »drum fish«, was mit Trommler zu übersetzen wäre. Der zuerst vom Küchenchef genannte japanische Begriff, den ich unter seiner Maske noch weniger als ohnehin schon verstehe, beschreibt die genaue Gattung vermutlich deutlich präziser. Der Fisch – mit zartem Schmelz und klarem Geschmack – ist getoppt mit einem Stück Fischleber, Schalotten und Sojasauce, was belustigend etwas »nach Würstchen« schmeckt. Trotz dieser profanen Assoziation wird hier das hervorragende Niveau an keiner Stelle verlassen.

Marinierter Blauflossen-Thunfisch in einem mageren Schnitt (akami) folgt und weist mysteriöse, aber zauberhafte blumige Aromen auf.

Im Anschluss wird ein Stück Nigiri mit Thunfischbauch (ōtoro) unmittelbar vor mir indirekt mit glühenden Holzkohlebriketts gegart. Die Hitze ändert die Textur des buttrig fettigen Fischs maßgeblich, so, dass das Fett »integrierter« ist als im rohen Zustand. Wenngleich ich der opulenteren rohen Version in diesem Moment den Vorzug geben würde, ist diese leicht gegarte Version »bescheidener«, vergleichbar mit teurer Mode ohne sichtbare Embleme. Man erkennt die Qualität, sie steht aber nicht drauf. Sehr japanisch, sehr exzellent.

Stachelmakrele (aji) mit einem marinierten Gemüse, das etwas »Würze« beisteuert, reiht sich in das obere Qualitätsniveau der bisherigen Darbietung ein.

Kuruma-Garnele (kuruma ebi) hat ihre typische nussige Süße, ist aber eine Nuance übergart, sodass ein leicht trockener Eindruck entsteht.

Eine Handrolle mit kurz gegrillter Jakobsmuschel ist wieder makellos und von hervorragender Qualität. Die Muschel ist saftig und nussig; Algenblatt und Sojasauce liefern dazu eine angenehme Würze. Sie beendet die Sushi-Gänge, die ich im Schnitt auf einem Niveau von 7,9/10 ansiedle, also deutlich über dem attestierten Michelin-Stern.

Nach dem Sushi folgt traditionell noch ein Reisgericht. Das ist immer der Moment, in dem man spätestens satt wird, sofern nicht längst geschehen. Und es ist der Moment, in dem der Meister oft noch mal einige seiner besten Zutaten hinzufügt. Den exzellenten Reis, der die Basis der vorherigen Nigiris darstellte, kombiniert Kimura-san hier mit Seeigel (uni) aus Hokkaido, Lachsrogen (ikura), Thunfisch (maguro) und frischem Wasabi. Das Zusammenspiel der Zutaten ist intensiv und vielschichtig und in Kombination mit einer Miso-Suppe auf beruhigende Art wohltuend. (8/10)

Der erste Menüabschluss präsentiert zwei verschiedene Versionen von tamago (Omelette): einmal in einer süßlichen Variante, wie sie in Tokio üblich ist und die ich hier leicht präferiere, sowie in einer herzhaften, wie man das eher in Kyoto pflegt. Die beiden Quader sind wie zwei Wolkenkratzer nebeneinander angerichtet. Dass man sich hier gleich zwei Varianten dieser aufwändigen Zubereitung zutraut, ist respektabel – dass beides auch noch so gut gelingt, eigentlich einen Applaus wert. Exemplare von den ganz großen Sushi-Meistern sind dagegen meist noch »dichter« und saftiger. (7/10)

Das fruchtige Finale des mit anderthalbstunden auch zeitlich optimal gestalteten Mittagsmenüs besteht aus einer Kreation mit Melone in unterschiedlichen Zubereitungen – unten eher dicklich, wie die Süßspeise Mochi, obenauf ein kompottähnliches Püree, beides zurückhaltend gesüßt – sowie einigen Stücken fabelhafter Mandarine. Von Letzterer serviert man nicht einfach ein paar Spalten, vielmehr schneidet man die Frucht so zurecht, dass sie von möglichst vielen Häuten befreit ist. Das ergibt »kantigere« Stücke und ein deutlich angenehmeres Mundgefühl als wenn man die Spalten der Zitrusfrucht bloß an ihren natürlichen »Sollbruchstellen« trennte. Details, die begeistern. (7,9/10)

Es tat gut, die Erinnerungen an ein solches Erlebnis wieder aufzufrischen, welches durch nichts zu ersetzen ist. Weitere zwanzig Monate möchte ich ungern wieder darauf warten. Doch es gibt Pläne. Kommt Zeit, kommt Sushi.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sushi Kimura (→ Website)
Chef de Cuisine: Tomoo Kimura
Ort: Singapur
Datum dieses Besuchs: 09.11.2021
Guide Michelin (SG 2021): *
Meine Bewertung dieses Essens: 7,9 (Was bedeutet das?)
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