Odette – turbulente Fahrt

Museen mit hochwertiger Gastronomie zu verbinden ist, wie vieles in dieser Hinsicht, bei uns zulande nicht weit verbreitet. Mehr als das säuerliche Aroma von verbranntem Kaffee und aufgetautem Kuchen weht einen in den mensaähnlichen Gastrobetrieben deutscher Museen in der Regel nicht an.

Die Mehrheit unserer »Bildungsbürger« würde bei dem Gedanken an teure Sterneküche in der Nähe von Richter oder Matisse vermutlich die Nase rümpfen, aber Andere machen uns längst vor, wie es aussehen kann. Vom The Modern in New York über Enrico Bartolini al Mudec in Mailand bis hin zum dreifach besternten Odette hier in der National Gallery Singapore rückt man die Spitzengastronomie in die Nähe von Kunst und Kultur. Da gehört sie zwar auch nicht immer hin, aber Selbiges gilt für manche so genannten Kunstwerke in Ausstellungsräumen.

Das Odette ist eines von fast zwölf Restaurants in der National Gallery, die natürlich ihren ganz eigenen Besuch wert ist. Den habe ich heute schon am Nachmittag absolviert. Abends hat das Museum geschlossen; dennoch betritt man es mit seiner Reservierungsbestätigung über den Haupteingang und läuft dann noch einige Minuten durch die leeren Flure des Museums. In manchen Räumen arbeitet noch jemand, ansonsten herrscht etwas gespenstische Stille.

Einige Flure, Treppen und Ecken weiter erscheint schließlich der imposante Eingang des Odette am Ende einer in Marmor gemusterten, gefliesten Halle.

Die Inneneinrichtung des Odette ist sehr ansprechend. Eine helle Farbgebung mit gedeckten Pastelltönen wirkt leicht und beruhigend, fast zeitlos; quaderförmige Stützen, wohl kaum alle tragend, sowie diverse gepolsterte Sitzecken sorgen für Gemütlichkeit. Im Hintergrund kann man durch Fenster das Treiben in der Küche verfolgen. Der nicht einmal vierzigjährige Franzose Julien Royer kocht hier – höchst erfolgreich – und ist sogar Miteigentümer nicht nur dieses Restaurants, sondern auch vom Claudine, das in fünf Tagen eröffnet, sowie dem mit einem Stern ausgezeichneten Louise in Hongkong. Seit zwei Jahren leuchten drei Michelin-Sterne hier über dem nach Royers Großmutter benannten Restaurant.

Es ist unerwartet schwül im Speisesaal. Das Fehlen einer nicht extremen, aber angenehmen Klimatisierung, mit der ich fest gerechnet hatte, macht mich unruhig. So kann ich den Abend nicht genießen, ich bin da vielleicht etwas empfindlich. Meiner Bitte nach etwas gemäßigteren Temperaturen kann man wegen einer zentralen Steuerung des Museums nicht unmittelbar nachkommen, aber immerhin doch innerhalb der nächsten dreißig, vierzig Minuten, was ich sehr begrüße.

Zu erster Lektüre in Form eines kleinen Willkommensgrußes, Speise- und Weinkarte werden die ersten Knabbereien (grignotages) serviert. Es gibt einen Kartoffelchip mit geräuchertem Aal, Radieschen und Perilla – knusprig, üppig, blumig, hervorragend (8,5/10) –, ein waffelförmiges Gougère-Gebäck mit Saint Nectaire, aber ohne besondere Überraschungen (7/10) sowie eine warme Tartelette mit schwarzem Trüffel und Sellerie, zwei Zutaten, die sich gegenseitig richtig »hochschaukeln« können, wenn sie so intensiv schmecken wie hier (8,9/10). Très Français das Ganze.

Inzwischen hatte ich auch Gelegenheit, die Menüoptionen zu prüfen. Es gibt sechs Gänge zu SGD 358 (ca. € 233) oder acht für ca. € 260. Im Dialog mit dem Personal spreche ich über einige Optionen und Favoriten und überlasse dann den Rest der Küche. Beim Wein gehe ich zielstrebig auf roten Burgunder zu und lande mit dem Sommelier schließlich bei einem wunderbar parfümierten 2013er Volnay 1er Cru »Clos des Chênes« von der Domaine Michel Lafarge (ca. € 360).

Ein weiteres Amuse-Bouche kommt in Form einer Steinpilz-Sabayon mit angegossenem Waldpilz-Tee, dazu gibt es ein Stück Brioche mit geraspeltem schwarzem Trüffel. Letzterer kam in der Tartelette zu Beginn etwas besser zur Ausdruck, in dieser Form zeigt sich nun, dass gerade nirgendwo auf der Welt Hochsaison für exzellenten schwarzen Wintertrüffel ist. Dazu ist das Gebäck eine Nuance zu trocken und zieht die hervorragende, warme Sabayon mit »waldigen« Aromen etwas herunter – auf immer noch hohem Niveau. (7,9/10)

Der zweite Gang thematisiert drei kostbare Zutaten aus dem Meer, allen voran Seeigel (Marukyo uni) aus Hokkaido, der mit Dashi glasiert, mit Yuzu-Zesten aromatisiert und auf einem in Beurre Noisette gebratenen pain perdu thront. Dieser eigentlich höchsten Genuss versprechende Happen verwundert mit einem geschmacklich eher zurückhaltenden Seeigel, während eine in einer Seeigelschale servierte Muschel-Mousse mit Kaviar, abermals Seeigel sowie rohen spanischen Garnelen ein ähnliches »Problem« aufweist, bei dem eigentlich nur der salzige Grundgeschmack zur Geltung gelangt, den sich die Komponenten teilen. Die Grenze zwischen »Finesse« und Langeweile verschiebt sich hier – trotz potenziell grandioser Zutaten – leider in Richtung des Letzteren. (7/10)

Der folgende Gang glänzt dagegen gänzlich mit der fabelhaften Qualität von Jakobsmuscheln aus Hokkaido, die hier, roh aufgeschnitten, schlicht mit verschiedenen Zubereitungen um Dill sowie »Rettich-Staub« kombiniert sind. Der nussige Schmelz der Muschel kommt exzellent zur Geltung, die Kombination mit Dill erinnert an Kreationen aus der nordischen Küche. Ein separat servierter Cracker aus japanischem Reis mit Algenbutter und Nori-Alge bietet dazu etwas sensorische Abwechslung und einen gedanklichen Schwenk in Richtung Japan. Das ist hervorragend; dennoch habe ich den Eindruck, dass die Gerichte hier nicht unbedingt davon profitieren, dass man die verschiedenen Impressionen bisher immer voneinander getrennt serviert. (8,5/10)

Nicht so beim nächsten Gericht. Dies hat Taschenkrebs aus der Normandie als Hauptzutat. Sein Fleisch wurde mit Wasabi-Öl aromatisiert, was etwas Schärfe und Schmelz einbringt. Passend dazu liefert ein Nashi-Sorbet etwas kontrastierende Kühle und elegante Frucht, während ein Apfel-Ingwer-Gel die Frische der Kreation betont. Das ist ein runder Happen mit einem abermals hervorragenden Hauptdarsteller. (8/10)

Es ist inzwischen endlich kühler geworden. Zusammen mit dem sympathischen Service und der schicken Atmosphäre verläuft der Abend sehr angenehm, dennoch fehlt bisher kulinarisch Bemerkenswertes.

Das ändert sich auch nicht, als der Kellner für den nächsten Gang mit Rosmarinzweigen gefüllte Eierkartons auf einem Sockel, aus dem Stickstoff oder sublimiertes Trockeneis entweicht, an den Tisch bringt. Das Gebilde dient als Kulisse für den tatsächlichen Gang – ein mit Rosmarin geräuchertes Ei – und wird rasch abgeräumt, als der milchige Nebel verflogen ist. Eine befremdliche Show-Einlage aus einer eigentlich längst vergangenen Zeit.

Das Ei selbst kommt in Form seines anfangs noch intakten Eigelbs, das in einem »Kartoffel-Meunière«-Schaum gebettet ist. Kleine Chorizo-Würfel und Schnittlauch sorgen dazu für bodenständige Würzigkeit. Das ergibt am Gaumen ein süffiges, herzhaftes Ensemble – technisch einwandfrei umgesetzt –, das geschmacklich an ein gutes Omelette erinnert. Mehr aber auch nicht. (7/10)

Der nächste Gang ist weißem Alba-Trüffel gewidmet. Eine großzügige Menge davon wird über einen stattlichen Kaisergranat aus der Normandie gehobelt, der wiederum in einem Banyuls-Pilz-Sud mit Artischocken- und Haselnüssstücken angerichtet ist. Sud und Nuss unterstreichen die nussige Süße des Krustentiers, Letztere mit einer Nuance zu viel des Süßweins. Davon abgesehen sind die Weltklasse-Qualitäten aller Zutaten hier offenkundig und stehen für sich. Um eine Großartigkeit wie vor wenigen Jahren im Hongkonger Caprice zu attestieren, für die Küchenchef Guillaume Galliot ebenfalls Krustentier mit Alba-Trüffeln und Haselnuss kombinierte, fehlt hier jedoch Detailarbeit. (8,5/10)

Seltsam, dass ich gerade ans Caprice denken muss und der nächste Gang – wie damals in Hongkong – hier nun auch Kinki fish, eine Skorpionfischart, thematisiert, ebenfalls in einem leuchtend gelben Safranjus und sogar auf dem gleichen Teller angerichtet. Aufgrund der Saisonalität der Zutaten vermute ich hier jedoch eher einen Zufall. Der Fisch, dessen dünne, fast transparente Haut hier gekonnt knusprig zur Geltung gebracht ist, kommt mit einem ganzen Korb weiterer Mitspieler. Bouchot-Muschel, Tintenfisch, Garnele, einige Blüten und eine geschmorte Karotte aus der Normandie mit Dukkah-Gewürz passen alle exzellent zum saftigen, zarten Fisch und seiner angedeuteten natürlichen Süße. Das ist der erste uneingeschränkt großartige Gang des Menüs. (9/10)

Das durchaus üppige Menü geht weiter mit Perlhuhn, das man zunächst im Ganzen präsentiert, bevor das Gericht in der Küche fertig gestellt wird. (Ob dann wirklich ein Stück desselben Tiers auf den Teller gelangt, ist nicht ganz klar, aber im Kern auch unerheblich.) Das Bruststück ist sehr saftig und gelangt mit einer knusprigen Kruste auf den Teller. Dazu gibt es ein Reihe leicht bitterer Mitspieler wie Radicchio, Mangold, scharf angebratenem Maitake-Pilz sowie ein »Gersten-Risotto«. Diese ansprechende und anspruchsvolle Komposition wird von einer samtigen Albufera-Sauce zusammengehalten, die allerdings dadurch irritiert, dass sich das Aroma von Trüffelöl bemerkbar macht. Dass in dieser Küche damit gearbeitet wird, halte ich zwar für unwahrscheinlich, und auch auf Nachfrage verneint man den Einsatz von Trüffel aller Art, doch der Fehlton ist weder wegzudenken noch mit irgendwas Vergleichbarem zu erklären. Das à part servierte Töpfchen mit Sauce zum Nachnehmen lasse ich daher leider unangetastet – im Gegensatz zu den ebenfalls separat servierten Pommes soufflées. Diese Unstimmigkeit ist jedoch nur ein kleiner Makel in einer ansonsten sehr stimmigen Kreation. (8/10)

Ein Verjus-Sorbet mit Trauben und Oolong-Schaum bereitet dann mit willkommener Kühle und einem (etwas zu) blumigen Aroma auf die weiteren Süßspeisen vor (7,5/10).

Das eigentlich Dessert, eine amüsant angerichtete Kreation mit einem Sablé Breton mit Yuzu-Creme, Basilikum-Wolke und Perillablüten ist eine der besten Speisen des Abends: nicht zu süß, dafür mit leichter, kühler Frische und einem verzauberndem Aromatanz von Basilikum und Perilla. (9/10)

Die Douceurs lassen das Menü ausklingen. Es gibt Physalis, Melone und Weintraube aus Japan, ganz pur, in typisch phänomenalen Qualitäten (8/10), ein Canelé mit intensiv duftender Vanille und Rum aus Venezuela (7,5/10) sowie eine Schokoladen-Tartelette mit Tonkabohne (7,9/10) und eine Art Zitruslolli (7/10) – alles auf hohem Niveau.

Für die drei attestierten Michelin-Sterne war das eine recht turbulente Fahrt mit weniger kulinarischen Höhepunkten als man es bei den zweifellos exzellenten Zutaten erwarten dürfte. Davon abgesehen – man kann seine Prioritäten schließlich woanders setzen –, rechtfertigen das ansprechende Ambiente und eine Küche auf hohem Niveau aber jeden Gedanken, hier gerne und öfter einkehren zu wollen.

Der Verdauungsspaziergang zurück zum Hotel tut gut. Die Lichter der Stadt versprechen weitere Entdeckungen. In gut zwölf Stunden geht es weiter.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Odette (→ Website)
Chef de Cuisine: Julien Royer
Ort: Singapur
Datum dieses Besuchs: 11.11.2021
Guide Michelin (SG 2021): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8 (Was bedeutet das?)
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