La Table d’Élise – getarnte Spitzenküche

Vierundzwanzig Stunden vor einem denkwürdigen Essen im La Marine habe ich eine Reservierung im Bistro La Table d’Élise. Es ist mein erster Abend auf der Île de Noirmoutier an der französischen Atlantikküste, nach einer gut elfstündigen Anreise aus Hamburg mit zwei (verspäteten) Flügen und einer Fahrt im Mietwagen.

Das Bistro befindet sich direkt neben dem Drei-Sterne-Restaurant von Alexandre und Céline Couillon und wird auch von ihnen betrieben, genauso wie das charmante Hotel La Maison Moizeau und der Delikatessenladen Le Petit Couillon.

Das Restaurant ist urig, sehr belebt und komplett ausgebucht. Meine Reservierung steht schon seit Wochen. Mein Tisch ist direkt am Fenster, ein angenehm kleines Stück weit entfernt vom restlichen Trubel. Mit dem schönen Ausblick auf den pittoresken Hafen ist das sehr atmosphärisch.

Die Weinkarte – eher eine Liste –, in der ich parallel zur Speisekarte stöbere, passt mit ihrer Bodenständigkeit zum Charakter eines Bistros. Unter den ausschließlich sehr einfachen Weinen finde ich aber keine Option, die zum Einläuten dieses genussreichen Wochenendes passt, daher frage ich den Kellner nach der Karte des La Marine. Nur wenige Minuten später liegt sie auf dem Tisch; ich bin sicherlich nicht der Erste, der danach fragt. Ein Glas Champagner (Erzeuger nicht notiert, 12 €), das ungewöhnlicherweise in einer Champagnerschale serviert wird, überbrückt die Wartezeit und erlaubt es mir auch schon, erste Speisen zu bestellen.

Bistro-typisch wird eine dreigängige Menüfolge zu günstigen 39 € angeboten, es ist aber alles so flexibel wie man möchte. Zum Aperitif wähle ich noch eine Portion Wellhornschnecken (bulots) für acht Euro. Dafür bekommt man zehn große Exemplare und eine Knoblauchmayonnaise – ideal zum Teilen, aber durchaus mächtig. (6,5/10)

In der Weinkarte bin ich inzwischen ebenfalls fündig geworden. Es wird ein 2015er Nuits-Saint-Georges 1er Cru »Les Chaignots« von der begehrten Domaine Mugneret-Gibourg. Mit einem Preis von 155 € liegt er ungefähr bei einem Viertel des aktuellen Marktpreises, aber der Vergleich hinkt natürlich. Der Markt, gerade für Burgund, hat derzeit regelrecht pathologische Züge entwickelt, und die Marge an der Flasche dürfte für das Restaurant immer noch sehr zufriedenstellend sein. Dennoch ist es gastfreundlich, nicht auf den Zug der überteuerten Preise aufzuspringen. Prunk passt hier auch nicht in die Region. Davon profitiert man als Gast.

Eine Focaccia, die mit Olivenöl serviert wird, ist leider so hart, dass sie eigentlich nicht auf den Tisch hätte kommen dürfen. Es beginnt also verhalten, aber von einem Moment auf den anderen ändert sich das Niveau schlagartig.

Überragend gute Austern zu servieren, ist hier zwar keine Kunst, aber dennoch ein Hochgenuss. Diese hier stammen vom »ami Raymond«, überfluten die Sinne mit einem glasklaren Geschmack nach Meer und sind perfekt temperiert. Besser geht es nicht, und es wäre auch der ideale Einstieg für Esser, die Austern skeptisch gegenüber stehen. Unbehandelte Produkte in dieser Ausnahmequalität bewerte ich üblicherweise mit 8/10.

Dass solche Bewertungen auch für Gerichte eines (unbesternten) Bistros zutreffend sind, ist dagegen ungewöhnlich. Doch ein Carpaccio von der Rotbarbe (Aufpreis 8 €), das sich zwischen hauchdünn gehobelten Rettichscheiben und Perillablättern versteckt, ist überraschend großartig. Die Qualität des Fischs ist sagenhaft – mit bissfester Textur, »reinem« Aroma und verführerischem Schmelz –, dazu liefern Orangenzesten und Perilla aromatisch wunderbare Kombinationen zwischen Regionalem und Exotischem. Ausgelöste Venusmuscheln und sehr gutes Olivenöl manifestieren gleichwohl den regionalen Charakter dieses Tellers, bei dem man nur ins Schwärmen geraten kann. Mit Bistroküche hat das nichts zu tun, nur mit absoluter Spitzenküche. (8/10)

Auch ein Filetstreifen vom Seehecht ist fantastisch. Der kross auf der Haut gebratene Fisch ist heiß, saftig und weist eine besonders elastische Konsistenz auf. Mit tournierten Artischocken, geschmortem Fenchel und Kräutergremolata ergibt das ein nuanciertes, wunderbares Gericht. Eine aromatisch dichte Sauce – leicht, aber mit durchdringenden Aromen von Kräutern und Anis (vom Fenchel) – ist auf Spitzenniveau. Wenn ein Gericht derartigen Genuss bereitet und mit solchen Qualitäten aufwartet, ist das nicht weniger als der Inbegriff von Spitzenküche. Dieselbe Komposition hätte mühelos auch im Rahmen eines klassischen Gourmetrestaurants Bestand. Dort würde man üblicherweise einzig noch die Proportionen und Gargrade justieren. Ob man das müsste, steht auf einem anderen Blatt. In jedem Fall rechtfertigt dieses Gericht keine geringere Bewertung als eine hervorragende. (8/10)

Ich probiere noch einen weiteren Hauptgang. Huhn kommt in Form von zwei appetitlich angeschnittenen, saftigen Bruststücken mit goldbraun gebratener Haut und gegrillten, heißen Auberginen. Das mediterrane Gemüse begeistert mit köstlichen sommerlichen Grillaromen, die durch schwarze Oliven noch unterstrichen werden. Das Huhn selbst ist qualitativ eines der besten, die ich je probiert habe. Es ist noch saftiger und aromatischer als in Kalibern wie L’Ambroisie oder Epicure, und in Kombination mit einer präzise gesalzenen Sauce auf Geflügeljus-Basis und einer Knoblauchcreme mit leichten Textur komme ich auch bei diesem Teller aus dem Staunen und Genießen nicht heraus. (8/10)

Bei den Desserts gibt es dann kein Halten mehr. Ein choux mit Haselnusscreme in einer Himbeersauce ist in sämtlichen Aspekten der Patisserie perfekt, von der Konsistenz des Teigs über betörende Röstaromen bis zur saftig-aromatischen Qualität der Haselnüsse. Weiter weg von einer Bistroküche kann das nicht sein. (9/10)

Eine Kugel Vanilleeis mit Salzkaramell ist dann noch eine Nuance besser als großartig. Da ist zunächst das kühle, aber nicht eiskalte, Eis mit einer verführerisch cremigen Textur. Es qualifiziert sich mühelos als die beste Kugel Vanilleeis, die ich je probiert habe. Zusammen mit einem leichten, knusprigen Teigsegel und separat serviertem Salzkaramell, das an Dulce de Leche erinnert, ist diese scheinbar triviale Speise unwirklich großartig. (10/10)

Ist das alles übertrieben? Verklärt meine Schwärmerei vielleicht einfach eine bodenständige Küche auf solidem Niveau? Mitnichten. Es ist immerhin nachvollziehbar, dass auch ein ungezwungener »Ableger« eines Drei-Sterne-Restaurants hohe kulinarische Leistungen erbringen kann. Die Produkte, die im La Table d’Élise verwendet werden, sind dieselben wie im Drei-Sterne-Restaurant nebenan. Und das ist schon mehr als die halbe Miete. Das La Marine befand sich bis vor einigen Jahren sogar in denselben Räumlichkeiten. Prozesse, Garmethoden, Wege, Produktqualitäten und das Auge des Küchenchefs: Alles wirkt hier genauso wie nebenan. Die Küche kann man zwar als »einfacher« bezeichnen, weil sie andere Proportionen verwendet, weniger differenzierte Temperaturen, zugänglichere Geschmacksbilder. Gleichwohl bleibt es eine objektiv hervorragende Küche, die mit einem Bib Gourmand, also letztlich nur einer Erwähnung im Guide Michelin, dramatisch unterbewertet ist. Einen Stern müsste man hier in jedem Fall attestieren, zwei gehörten sogar an dieses Essen.

Draußen ziehen die Möwen noch immer ihre Runden, während der Himmel und das Meer zu einem tiefen Blau verschmelzen. Der Nuits-Saint-Georges dreht im Glas auch noch mal zu letzten Höhenflügen auf. Es ist schon ziemlich schön hier. Die weite Reise hat sich jetzt schon gelohnt.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: La Table d’Élise (→ Website)
Chef de Cuisine: Alexandre Couillon
Ort: L’Herbaudière, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 18.05.2023
Guide Michelin (F + MC 2023): Empfohlen
Meine Bewertung dieses Essens: 8 (Was bedeutet das?)
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