La Villa Madie – die Melodie des Hafens

Der Ort Cassis, dessen letztes S man nur im Dialekt der Einwohner mit ausspricht, ist dramatisch an den Calanques genannten Kalksteinklippen gelegen, die sich von Marseille bis La Ciotat, weiter südöstlich, ziehen.

Ich erreiche das schöne Fleckchen von Marseille aus in einer ungefähr halbstündigen, zielstrebigen Taxifahrt. Meine vierundzwanzigstündige Stippvisite in die Region ist speziell dem Restaurant La Villa Madie gewidmet, eines von Frankreichs jüngsten Drei-Sterne-Restaurants.

Küchenchef Dimitri Droisneau und seine Frau Marielle haben das imposante Anwesen 2013 übernommen, erkochten ein Jahr später schon zwei Sterne und im vergangenen Jahr den ultimativen dritten. Droisneaus Lebenslauf zieren Stationen wie La Tour d’Argent, Epicure und L’Ambroisie, die großen Klassiker.

Ausgerechnet heute ist zwar ein sonniger, aber sehr windiger Tag, der ein gesamtes Abendessen auf der malerischen Terrasse unmöglich macht. Zum Ankommen, Herunterkommen und Genießen eines Aperitifs inklusive Snacks reicht es aber noch.

Gerne lasse ich mir ein Glas offenen Champagner verkaufen (Bérêche & Fils brut réserve, 25 €) und widme mich dabei schon mal der Lektüre. Die Weinkarte kommt in Form eines großen Schubers, dessen sieben Bände sich unterschiedlichen Weinregionen widmen. Die Speisekarte ist etwas kompakter – sie enthält zwei Menüs auf zwei Seiten. Da ich heute nicht hierher geflogen bin, um mich einzuschränken, entscheide ich mich für die umfangreichere Option mit neun Gängen zu 350 €. Auf der Weinseite wird es ein 2014er Vosne-Romanée 1er Cru »Aux Malconsorts« von der Domaine Lucien Le Moine (285 €). Das Setup stimmt schon mal, und langsam erscheinen auch weitere Gäste. Nicht alle entscheiden sich, den Abend draußen zu beginnen.

Erste Snacks erreichen den Tisch. Auf einem langen Löffel gibt es ein Garnelentatar, das mit Kaffeepulver akzentuiert wurde und die bitteren Geschmackskomponenten des Krustentiers unterstreicht. Das ist elegant und maritim. (7,5/10)

Daneben gibt es eine Gazpacho, deren Gemüseeinlagen separat auf einem Löffel serviert sind. Die kühle Tomatensuppe könnte nicht besser abgeschmeckt sein: Frische, Klarheit und schlankes Umami prägen ihr Geschmacksbild. Die zu Kugeln und Würfeln geschnitzten Gemüse sehen aus wie Partysnacks, denen zum Servieren noch ein Zahnstocher fehlt, aber ihre Güte drängt sich einem geradezu auf. Gurke und Melonen haben regelrecht parfümierte Aromen und eine saftige Konsistenz. Sie ergeben zusammen mit der kalten Suppe ein nicht weniger als traumhaftes kleines Gericht, das sein Weltklasseniveau – neben solidem Handwerk – fast ausschließlich der Produktqualität zu verdanken hat. (9/10)

Zu dem unmissverständlichen Mittelmeer-Thema passt dann noch eine Crème »Pissaladière«, eine wegen der darin verarbeiteten Sardellen etwas »stumpfe« Creme, die das gesamte Umami-Geschmacksvergnügen des Nizzaer Zwiebelkuchens verlustfrei zusammenfasst. In die Creme stippt man noch einen mit Fischeiern gefüllten, leicht rauchigen Snack mit Nori-Blättern. Danach bringt ein knuspriges Teigkissen mit Sardelle auch noch etwas Bissfestes ins Spiel, was die Pissaladière-Illusion perfekt macht. Einfach, aber wunderbar. (8,5/10)

Zwei weitere Appetizer kommen da nicht ganz mit. Eine Tartelette mit Tomate und Tomatenespuma ist etwas zu schaumig und aromatisch zwar eindrucksvoll, aber fast schon artifiziell blumig, woher auch immer das Aroma stammen mag. Sehr gut ist das aber allemal. (7/10)

Panisse, die aus Kichererbsen hergestellte Frittierspezialität, mit etwas Aioli ist dann einfach nur die schlichte Speise, die sie sein soll. Selbst damit ist sie aber keine Referenz, sondern eher trocken und fast erkaltet. (6,9/10)

Die blaue Stunde hat gerade ihren Zauber beendet; es wird Zeit, hineinzugehen.

Das ist schade, denn, wie in vielen Restaurants in der französischen Provinz, fehlt es dem Interieur an Charme. Geschwungene Linien, flugzeugartige Deckenbeleuchtung und ein mosaikartiger Spiegel: das Design wirkt erratisch und irgendwie billig. Am Ende ist das alles Geschmackssache, aber es wäre sicherlich schöner, hätte man das Antlitz der Küstenlandschaft als Inspiration genutzt.

Die erste Speise des Menüs unterbricht meine Gedanken. Es gibt eine »palette estivale«, eine sommerliche Palette, in Form eines dekonstruierten Salade niçoise. Gemüse von abermals sagenhafter Qualität – leicht angegrillte Zucchini, junge Gurken mit Blüte, Radieschen und eingelegte Tomate – sind hier, zusammen mit verschiedenen Zubereitungen vom Thunfisch, in einer Straße angerichtet. Eine mit Bonito und Kräutern aufgemixte Creme wird am Tisch noch zwischen die Zutaten gegossen. Das Ergebnis ist ein kulinarischer Spaziergang durch einen Garten am Mittelmeer, bei dem man immer wieder auf Überraschungen stößt, wie ein besonders aromatisches Stück Artischocke. Zum Glück finde ich es noch einmal auf dem Teller. Das säuerlich-appetitliche, typisch vollmundige Geschmacksbild des Gerichts ist hier perfekt getroffen und bietet spektakuläre Qualitäten. (9/10)

Das nächste Gericht kursiert um das Thema Sardine. Es gibt sie in Form von (fast) rohen Filets, die mit Kaviar aus der Sologne und etwas Zitronenthymian getoppt sind. Der üppige, scheinbar rustikale Fisch wird dadurch elegant in Szene gesetzt. Zusammen mit der knusprig frittierten Sardinenkarkasse, einem sehr gut abgeschmeckten Kartoffelschaum und frisch über den Teller gehobelten Bonito-Flocken pendelt das Gericht spannungsvoll zwischen kraftvoll Bodenständigem und ausgewogener Eleganz. (8,9/10)

Die mediterrane Reise geht weiter mit Wolfsbarsch. Ein enthäutetes, dickes Filet des Fischs nimmt hier sein letztes Bad in einer leicht aufgeschäumten Beurre Blanc auf Fischfondbasis, die prägnant und unverwechselbar nach Kaffernlimette duftet. Berührt man den Fisch mit dem Besteck, offenbart er durch seine hohe Dichte und »wackelige« Konsistenz bereits seine Bilderbuchqualität und makellose Garung. Die Einschätzung bestätigt sich auch am Gaumen: Der sehr saftige, hocharomatische Fisch ist der Star in dem fast wie eine Suppe wirkenden Gericht, das durch die exotische Zitrusfrucht fast schon an thailändische Aromen erinnert – wären da nicht noch eine gegarte Auster, Austernblatt und intensives Eiskraut, die das Gericht eindeutig in die Region positionieren. Dennoch – es findet sich ein etwas zu dominantes Zitrusaroma in dem ansonsten makellosen Gericht mit Spitzenqualitäten. (8,9/10)

Der nächste Gang ist eine Art Schnitte aus krossem Brot, die mit roher Rotbarbe belegt ist. Ein intensives Thymianaroma – bei solch hocharomatischen Produkten muss man regelrecht vorsichtig vorgehen –, der zwischen Fisch und Brot verarbeitet wurde, gesellt sich am Gaumen noch dazu. In einem kleinen Töpfchen daneben findet man eine Krustentiercreme, die man wie einen Aufstrich nutzen kann. Der Snack passt eindrucksvoll in die Region: das laute Krachen am Gaumen erinnert an tosende Brandung, und die intensiven Aromen von Thymian und Krustentier erzählen von Feldern und Fischen. Nur eines geht dabei völlig unter: die feine Rotbarbe. Sie ist weder texturell noch geschmacklich wahrnehmbar – eine bedauernswertes Manko bei dem ansonsten erfreulich kurzweiligen Gericht. (7/10)

Inzwischen macht sich aber ein ganz anderes Problem bemerkbar. Parfümwolken und verbrauchte Atemluft vermengen sich bei der niedrigen Raumhöhe und voller Besetzung zu einem unappetitlichen, stickigen Gemisch. Sehnsüchtig erahne ich die frische Mittelmeeresbrise vor dem Fenster.

Das Menü schwenkt mit dem folgenden Gericht in Richtung Wald. Es gibt erste französische Steinpilze, die in Baroloessig geschmort und mit etwas Spinat und einer säurebetonten, schaumigen Sauce in einer Tartelette angerichtet sind. Eine große, rohe Scheibe des Edelpilzes liegt mit einigen Kräutern obenauf. Die kleine Speise ist nicht als Fingersnack konzipiert; stattdessen dekonstruiert man die Kreation mit Messer und Gabel, um sie am Gaumen wieder zusammenzuführen. Die Qualität der Pilze ist auf höchstem Niveau – nussig, erdig, angenehm bissfest –, und durch die Garung in dem Essig haben sie eine leichte Süße angenommen, die ideal zur waldigen Stimmung des Gerichts passt. Das ist handwerklich, von den Proportionen her und qualitativ auf höchstem Niveau. (9/10)

Mittlerweile muss ich etwas kämpfen, um gute Laune zu behalten. Das Mittelmeer ist längst nicht mehr zu sehen – dafür kann niemand etwas –, doch die Aromen der verbrauchten Luft muss man inzwischen fast als beabsichtigte Begleitzutat interpretieren. Der dazu zwar einwandfrei arbeitende, aber wenig enthusiastische Service trägt auch nicht zur Verbesserung der Atmosphäre bei. Immerhin ist auf den Burgunder Verlass.

Mit dem folgenden Gang geht es thematisch wieder zurück ans Meer, zumindest überwiegend. Es geht um eine Kombination von Carabinero mit jungen roten Beeren. Die Verbindung zwischen der nussig-süßen Garnele und den fruchtig-säuerlichen Beeren wird hier versucht, über einen Krustentierschaum und ein Krustentiereis herzustellen. Das gelingt überraschend gut, weil die Krustentierzubereitungen einerseits ein schlüssiges, marzipanartiges Aroma zu den Früchten tragen, andererseits mit etwas Bitterkeit eine geschmackliche Parallele zu den noch sehr jungen Früchten herstellen. Das wirkt gustatorisch jedoch so kompliziert, dass man sich fragt, warum Küchenchef Droisneau diese Welten um jeden Preis zusammenbringen möchte. Hervorragend ist das zweifellos – vor allem wegen der erneut hervorragenden Qualitäten –, aber es bleiben Fragezeichen, auch wegen des etwas plump aufgesprühten Schaums als zentrales Tellerelement. (7,9/10)

Um das komplexe Kombinieren verschiedener Geschmackswelten geht es auch beim letzten herzhaften Gericht. Es gibt ein Surf and Turf von Kaninchen und Hummer. Auf einem großen Haupt- und zwei Satellitentellern bietet das Gericht ein wahres Potpourri an Zutaten und Zubereitungen. Auf dem Hauptteller findet man eine Art Roulade von Kaninchen, Foie Gras und Spinat, dazu gibt es ein Stück hervorragenden Hummers, weitere Teile vom Kaninchen, Feigen, Fenchel, Pfifferlinge und andere Gemüse. Eine dunkle Sauce wie beim Lièvre royal und eine leichtere, aber geschmacklich intensive Basilikumsauce begleiten alles.

Neben einem kleinen Temperaturproblem – alles ist höchstens lauwarm – stelle ich zunächst fest, wie überraschend gut Kaninchen und Hummer zueinander passen, vor allem wegen ihrer ähnlichen Textur und einer feinen Süße als geschmackliche Schnittmenge. Dazu passt wiederum die Feige exzellent, die hier in genau so einer Ausnahmequalität zu erleben ist wie ein scheinbar triviales Stück Fenchel, das am Gaumen mit seinen anis- und lakritzähnlichen Aromen einen ganzen Bonbonladen mimt. Das kleine knusprige Kaninchenstück am Knochen ist leider etwas trocken, wogegen die exzellenten Saucen allerdings Wirkung zeigen.

Ein weiterer Teller mit einer Zubereitung aus Dinkel, erneut einer Basilikumsauce sowie einem Fruchtgelee erinnert geschmacklich merkwürdigerweise an Erdbeereis; und ein knuspriges Röllchen, mit einer kühlen Zubereitung aus Hummer und Estragon knüpft aromatisch an den immer noch nachhallenden Fenchel an.

Das Ganze ist ein facettenreiches Gericht, das ausschließlich hervorragende Geschmacksakkorde zulässt, und hätte das Zeug zu höchsten Weihen. Aber der unpräzise Umgang mit Temperaturen und einigen zu trockenen Elementen nagt an einer Höchstwertung. (8,9/10)

Auf ein Intermezzo mit Käse von einem verführerischen Käsewagen verzichte ich nicht aufgrund einer zu hohen Sättigung, sondern wegen meiner Lust, endlich an die frische Luft zu gelangen.

Dessert Nummer eins rankt um Honig, Grapefruit und Safran – alles aus der Region und in unterschiedlichen Zubereitungen (Eis, Schaum, »Segel«, Creme u. a.). Irgendetwas schmeckt sehr floral nach Veilchen, von woher auch immer diese Assoziation herrühren mag. Sehr gut, nicht mehr, nicht weniger. (7/10)

Danach geht es um den Zweiklang von Schokolade (in Form von dünnen Röllchen und einer Creme) und schwarzem Knoblauch. Wie ich schnell feststellen muss, gibt es gute Gründe dafür, diese Zutaten üblicherweise nicht zu kombinieren. War das Paar Carabinero und Erdbeere noch anspruchsvoll herausfordernd, ist das hier nur noch entbehrlich. Die Schokoladenröllchen mit schaumiger Füllung sind anständig zubereitet, aber dafür muss man kein Sternerestaurant aufsuchen, geschweige denn eines mit dreien. (6,9/10)

Und jetzt bitte schnell die Rechnung und raus an die frische Luft. Die Petit-fours und den Rest des Burgunders nehme ich mit ins Taxi. Ich beende das Mahl schließlich auf dem Balkon meines Hotels am Hafen von Marseille. Es gibt dazu eine steife Brise und die einschläfernde Melodie der an die Alumasten der Segelboote schlagenden Stahlseile. Eine gute Kombination.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: La Villa Madie (→ Website)
Chef de Cuisine: Dimitri Droisneau
Ort: Cassis, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 23.09.2023
Guide Michelin (F + MC 2023): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8
Dieser Bericht in den sozialen Netzen: Facebook, Instagram