Rutz ‒ hört sich gut an

Dass das Rutz ‒ unten Weinbar, oben Gourmet-Restaurant ‒ Deutschlands neuestes, Berlins erstes und überhaupt mal ein Drei-Sterne-Restaurant sein würde, hätte ich nicht vermutet. Bei meinem Besuch vor über drei Jahren erwischte ich das Restaurant offenkundig nicht in seiner stärksten Phase. Die Entwicklung danach habe ich verpasst. Die drei Michelin-Sterne, die seit diesem Jahr über dem Haus leuchten, waren aber Weckruf genug, um mit allem, was seitdem geschehen ist, auf Tuchfühlung zu gehen.

Eigentlich habe ich coronabedingt einen Abend auf der Terrasse vorgesehen, doch die ist spontan wegen einer größeren Gesellschaft ausgebucht. Sei es drum, oben ist es luftig genug. In inzwischen etwas dezenterer Farbgebung ‒ die rötlich-glänzenden Tischplatten sind matten, graubraunen gewichen ‒ trifft man auf ein charmantes Serviceteam und das „Inspirationsmenü ‚Natur & Aromen‘“ in sechs (€ 180) oder acht (€ 220) Gängen.

Bemerkenswert ist nach wie vor, dass das Rutz mit seinem herzlichen Team, schlichtem Ambiente und lässigem Zwitterkonzept mit Weinbar und Restaurant kein einziges der fine dining-Klischees bedient, denen man in Deutschlands Spitzenrestaurants so oft ‒ und auf diesem kulinarischen Niveau immer ‒ über den Weg läuft. Dass der Guide Michelin nicht nach gestärkten Tischdecken und einem Champagnerwagen sucht, um drei Sterne zu zücken, konnte man allerdings bis jetzt nur im Ausland erleben.

Mit der Sommelière fällt die Einigung so aus, erst mal mit ein paar Gläsern aus der „Premium“-Weinbegleitung loszulegen (Glas € 21) und das Ganze später noch mit einem Wein aus der Weinkarte zu ergänzen. Das Glas zum ersten Gericht fällt mit einem orange wine der Domaine Matassa zwar gleich in mein Naturwein-Fettnäpfchen, aber die Stimmung hier ist so gelassen, dass man gemeinsam darüber scherzen kann. Wenig später, aber nicht ganz ohne einen sympathischen Gegenwehrversuch, ist auch eine gelungene Alternative im Glas. Parallel dazu habe ich auch schon einen Rotwein in der Karte gefunden und lasse den 2014er Morey-Saint-Denis 1er Cru „Clos Baulet“ von der Domaine Hubert Lignier (€ 299) schon mal karaffieren. Der passionierte Weinservice und die gute Weinkarte machen Laune.

Mit einer derart optimistischen Weinbestellung gehe ich also all in. Küchenchef Marco Müller hat in den vergangenen Jahren mehr als nur durch die aktuelle Aufwertung im Guide Michelin von sich hören lassen; dass hier etwas Spannendes passiert ist, steht daher außer Frage.

Noch während ich mich sortiere, stimmt mich ein kühles Süppchen mit Bärlauch, Gurke und Saiblingskaviar angenehm in den Abend ein. Die Mixtur ist spannend, weil die Aromen der Komponenten nicht einfach nur „irgendwie nach Bärlauch und Gurke“ schmecken, sondern heterogen wahrnehmbar sind ‒ der Bärlauch mit seiner würzigen Schärfe, die Gurke mit ihrer „weitläufigen“ Frische und die Fischeier mit jodigen Salzakzenten. Schon mal hervorragend. (8/10)

Drei Petitessen folgen ‒ und werden komplexer. Es gibt in Apfelessig marinierte Kohlrabi mit, unter anderem, Apfel- und Sonnenblumenkernen auf einem Dinkelchip, würzig, fein, vielschichtig (7,9/10). Eine Kreation um junge Karotten, als Creme, über die man gebeizte, getrocknete Hühnerherzen (!) gehobelt hat, ist elegant rustikal und überrascht mit einem tiefem, vollmundigen, leicht „getreidigem“ Geschmack (8/10). Auf einem Lauchasche-Chip gibt es Algen und verschiedene Kräuter, darunter Estragon, sowie in Kräuter eingelegten Bergkäse, der für Frische und tragende Cremigkeit sorgt. Der grüne Snack ist leicht und ätherisch und transportiert einen in die geschmacksintensive Gebirgswelt der französischen Alpen (9/10).

Der erste Gang des Menüs präsentiert ein Jahr in Essigsud eingelegte grüne Erdbeeren in einer komplexen, aber sehr zugänglichen Kombination mit Muscheln. Kammmuschel gibt es als Creme und Pulver, Schwertmuschel in Form von kleinen, naturbelassenen Stücken sowie als lauwarme Essenz, die mit Weizengrasöl kombiniert ist. Letzteres staffiert das Gericht mit einer öligen Vollmundigkeit aus, die man der filigranen Komposition gar nicht zutrauen würde. Doch gerade das bisschen Fett bietet die ideale Trägertextur, um die teils maritime, teils fruchtige Geschmackswelt bis zum letzten Geschmacksrezeptor zu verteilen. Das ist gerade deswegen sinnvoll, weil alle von ihnen angesprochen werden, von salzig ‒ das steuern noch winzige Meerestrauben bei ‒ über die feine Fruchtsüße und Säure der marinierten Erdbeeren, über die leichte Bitterkeit von etwas Vogelmiere, bis zum Umami und Fett des Muschel-und-Öl-Suds. Mehr als hervorragend. (8,5/10)

Für Gang zwei präsentiert man ein Stück der Hauptzutat Dorsch, das in ein Kombu-Blatt gewickelt ist. Die Idee dahinter ist, dass der Fisch durch das im Seetang natürlich enthaltene Geliermittel Algin im Laufe von einigen Stunden seine Textur verändert, also innerhalb der Alge regelrecht gart. In der Küche unterstützt man diesen Prozess später lediglich durch leichtes Temperieren unter den Wärmelampen am Pass.

Auf dem Teller sind schließlich mundgerechte Häppchen des Fischs ‒ butterzart, saftig und warm ‒ um etwas Brokkoli und in einer mit Holunderblütenessig abgeschmeckten Beurre blanc angerichtet. Obenauf findet man noch gehobelte Haselnuss. Die Sauce ist üppig und würzig, unterstützt durch eine gebeizte Algencreme, die für salzige Akzente sorgt. Bis hierhin wäre das noch ein eher klassisch verortetes Geschmacksbild (auf sehr hohem Niveau), doch Kombu-Öl und eingelegte Holunderblüten machen aus dem kleinen, angenehm buttrigen Gang ein charmant verträumtes Gericht. Küchentechniken, Produktqualitäten und die geschmacklich außergewöhnliche Komposition rechtfertigen hier höchste Weihen. (9/10)

So auch bei Forelle aus eigener Zucht, „angebeizt, angesalzen und aufgerollt“. Die oft langen Beschreibungen der Gerichte werden mit einem Vokabular vorgetragen, dass zwar Komplexität durch viele Arbeitsschritte, aber auch Bedacht und Feinsinn suggeriert. So ist die Forelle eben nicht gebeizt und gesalzen und dadurch kaum noch zu schmecken, sondern angebeizt und angesalzen, damit der Fisch noch selbst etwas zu erzählen hat. Seine Geschichte klingt und schmeckt gut und beinhaltet noch weitere Charaktere. Es gibt da zum Beispiel kleine Chips aus der Forellenhaut, die knusprig, aber nicht klebrig sind, und im Gespann mit Forelleneiern dem Gericht eine leicht japanische Anmutung verleihen. Dieser flüchtige Eindruck wird untermauert durch (natürlich selbstgemachtes) Bottarga vom Steinbutt, das man über die Kreation gehobelt hat. Weiter tragen winzige, mit Wacholder aromatisierte und scharf geröstete Blumenkohlstücke zu etwas Lagerfeuerflair bei (ohne jedoch rauchig zu sein), und eine „klassische Fischsauce“, d. h. auf Fondbasis, hat man mit Tomate kombiniert, was den fernöstlichen Eindruck wieder etwas aufbricht. Am Gaumen spürt man den zarten Fisch, Jod, Salz, Umami und Knuspriges, in unterschiedlichem Zusammenspiel. Enorm. (9/10)

Gang vier ‒ einer der beiden Gänge, die man verpassen würde, beschränkte man sich auf das reduzierte Menü ‒ stellt zunächst eine Scheibe Ochsenherztomate zur Schau. Diese wurde mit kochend heißem Wacholderöl übergossen und dann sechs Stunden lang so gargezogen. Auf dem Teller ist die prachtvolle Scheibe mit einer gelierten Essenz aus Ochsenherztomate überdeckt, was ihren Umamigeschmack und die rote Farbe verstärkt. Das eigentliche Thema des Gerichts heißt aber Garum. Dabei handelt es sich prinzipiell um eine aus fermentiertem Fisch hergestellte Würzsauce, die man hier jedoch mit Rind herstellt hat. Eine 60-tägige Fermentation bei 60 Grad, so lernt man, resultiert in einem kraftvollen, fleischig-würzigen Elixier, das sowohl hervorragend zum Umami der Tomate passt als auch thematisch zu Abschnitten vom Kalbskopf, die man unter der Tomate findet. Mit seiner leicht klebrigen Konsistenz erinnert mich die Sauce an ein verblüffendes Fischgericht im andalusischen Aponiente. Für einige frische Geschmacksspitzen sorgen eine behutsam dosierte Himbeercreme, Liebstöckelöl, Sauerklee und winzige grünen Ahornteile. Hochkomplex, dennoch so zugänglich wie eine Pizza. (8,9/10)

Gang fünf, der zweite Gang, den man im kleineren Menü verpassen würde, aber nicht sollte, rankt um Königskrabbe. Deren Beine hat man vormittags nach japanischer Tradition über Holzkohle gegrillt und dann bis zum Abend kühl aufbewahrt. Das zu Fasern gezupfte Fleisch mit süßlich-nussiger Note wurde für die Fertigstellung kurz durch heiße Nussbutter gezogen und mit Holzkohleöl mariniert. In diesem Öl und in Orangenbutter marinierter weißer Spargel überdeckt in Form von dünnen Schuppen die Nocke „Krabbensalat“. Winzige Hechteier wurden getrocknet und in Fischsauce rehydriert, um pointierte salzige Akzente zu erzeugen. Man fragt sich, ob nicht ein paar Flocken Meersalz reichen würden, aber es sind gerade diese Details, die die Gerichte hier heute Abend so außergewöhnlich machen. Zu diesem sehr harmonischen Ensemble aus nussigem Krebs und leicht ätherisch schmeckendem Spargel gibt es eine Art Sabayon aus Eigelb, Krustentieressenz, klarer Sojasauce und dazu noch Estragonöl. Erneut scheut man sich nicht, auch klassische Akzente zu setzen. Bei aller Komplexität erneut wundervoll! (9/10)

Als Einstimmung zum kommenden Gang gibt es ein Tartar vom Husumer Salzwiesenlamm, akkurat aus dem Filet geschnitten, seinem natürlichen Geschmack überlassen und luftig auf einem herrlich knusprigen, fettigen Kartoffeltaler angerichtet. Etwas Bärlauch sorgt für Würze. (8/10)

Der Fleischgang an sich präsentiert dann ein prächtiges Stück aus dem Lammrücken, das offenkundig makellos gegart ist. Knusprig frittierte, hauchfeine Kartoffelfäden, die punktuell mit Bärlauch- und Zitruscreme sowie Sauerklee „dekoriert“ sind, umzingeln das Fleisch. Das Ensemble wird schließlich mit einem Lammdashi aufgegossen, von dem ich leider versäume, ein Foto zu machen, obwohl es für das Gericht essenziell ist. Ähnlich wie ein klassisches Dashi, das auf der Basis von getrockneten Bonito-Flocken zubereitet wird, wurden hierfür eigens hergestellte „Lammflocken“ verwendet. Diese japanische Version eines Lammjus begeistert vor allem durch unverfälschten Lammgeschmack und einer beherzten Menge Salz. Das Gericht verbindet französische (man hat wegen der Kartoffelfäden etwas steak frites im Kopf) und japanische Geschmacksbilder (Umami, Salz, Leichtigkeit) mit ausschließlich regionalen Zutaten und ist vom ersten bis zum letzten Happen großartig. (9/10)

Der letzte herzhafte Gang (um den Begriff Hauptgang zu vermeiden, der in kreativen Degustationsmenüs wenig Sinn ergibt) beinhaltet Huhn als scheinbaren Protagonisten, doch der fettgedruckte Titel im Menü lautet „Pilzaromen“. Das Huhn, deren Züchterin man hier genauso beim Namen kennt wie vermutlich auch das Tier selbst, liefert offenkundige Spitzenqualität. Dieses Stück von der Brust ist saftig, zart und aromatisch und wird mit verschiedenen Zubereitungen aus Pilzen serviert. In dem Sud auf dem Teller, in dem auch Petersilienöl verarbeitet wurde, spielen Stockschwämmchen, Krause Glucke, Hallimasche und Steinpilz die zentrale Rolle. Dazu gibt es noch Chinakohl, Pilzkraut und Eiskraut sowie sauer eingelegtes Seegras für jodige Kontraste. Am Gaumen fällt sofort der komplexe, hocharomatische Pilzsud auf, der tatsächlich die Hauptrolle in diesem Gericht spielt. Das Huhn steuert trotz seiner unstrittigen Qualität naturgemäß keinen allzu auffälligen Geschmack bei, dient hier aber als eleganter Mittelpol für alle Zubereitungen, die man auf diesem Teller findet. „Waldig“, ätherisch, hervorragend. (8,5/10)

Ein Sanddornsorbet mit Karottengranité, Joghurt, Hafer und Honig ist dann ein angenehm fruchtig-säuerlich Pré-Dessert (7/10), bevor eine aufwändige Zubereitung aus Teilen der Lärche ‒ u. a. pulverisierte Nadeln und einem „Auszug“ aus dem Holz ‒ sowie Gurke, Himbeere und karamellisierte Schokolade auch noch über alle Maßen überzeugt (8,5/10). Im Glas ist dazu inzwischen ein Sekt in Champagnerqualität, „Raumland Triumvirat Grande Cuvée Brut“ aus Rheinhessen, ein Glas Barolo steht auch noch in greifbarer Nähe.

Ein Sandelholzgranité mit Apfel und Wildrosenjus, die letzte Kreation des Abends, ist so geheimnisvoll wie die Wendeltreppe in der Parfümerie von Serge Lutens in Paris und schmeckt ähnlich wie ein schwerer Duft mit Sandelholz. (8,5/10)

Der (erforderlich) langen Rede folgt ein kurzer Sinn: Was hier auf den Teller kommt sucht Seinesgleichen. Marco Müller präsentiert Regionalität ohne Dogma, hochkomplexe, kreative, fast schon verkopfte Gerichte, deren hoher Genusswert jedoch stets im Vordergrund steht. Die diversen, teils langwierigen Verarbeitungen der vielen Zutaten kennt man sonst eigentlich überwiegend aus der nordischen Spitzenküche oder einzelnen Spezialisten in abgelegenen Gegenden von Belgien (In de Wulf) bis Lummi Island (Willows Inn). In dieser lässigen Berliner Weinbar, in der man ja gar nicht so viel einlegen, fermentieren, beizen, konservieren, dehydrieren und salzen müsste, wirkt dieser lange kulinarische Vortrag daher auf skurrile Weise deplatziert. Doch er war wunderbar. Ich habe vier Stunden lang genüsslich zugehört.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Rutz (→ Website)
Chef de Cuisine: Marco Müller
Ort: Berlin, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 04.07.2020
Guide Michelin (D 2020): ***
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