Victor’s Fine Dining by Christian Bau – die Perle in Nennig

Christian Baus Philosophie einer Vereinigung von japanischer und französischer Küche, mit einem Qualitätskult, der bei uns zulande seinesgleichen sucht, ist natürlich nach wie vor jede Reise wert. Und sei es, um nur herauszufinden, was sich inzwischen auf Schloss Berg alles getan hat.

Die spektakulären Essens-Boxen (»Bau Box«), die während des Lockdowns aus Perl quer durch Deutschland verschickt wurden, erzeugten bei mir den eindringlichen Wunsch, bei Wiedereröffnung der Gastronomie das Restaurant von Bau schnellstmöglich wieder zu besuchen.

Man muss das aber etwas präzisieren. »Von Bau« ist das Restaurant nicht. Es wird betrieben von der Victor’s Group, einem Geflecht aus verschiedenen Einzelfirmen, die sich in erster Linie mit Seniorenstätten, Tagespflegeeinrichtungen, Pflegediensten und anderen seniorengerechten Unternehmungen beschäftigt. Vierzehn so genannte »Residenz-Hotels« vervollständigen das ergraute Portfolio. Dass man auch auf Schloss Berg auf die Bedürfnisse dieser Zielgruppe spezialisiert ist, atmen Schlosshotel und Casino-Anbau aus allen Poren, um es einmal freundlich zu formulieren. Es grenzt schon an Zynismus, dass einer der besten Köche Deutschlands, mit breiter internationaler Bekanntheit, seine Leistungen in einer derartigen Umgebung erbringen muss. Länger als eine betrunkene Nacht ist das hier im Hotel jedenfalls kaum auszuhalten.

Im Restaurant selbst machen Bau und sein Team aber das Beste daraus. Und zwar ohne Kompromisse. Sein Team, allen voran Sommelière Nina Mann und brandneuer Restaurantleiter Felix Kress (vormals Vendôme) agieren nicht bloß »professionell« – das ist eine Mindestanforderung in einem Haus dieser Klasse –, sondern souverän, empathisch und mit wortgewandtem Humor, der sogar Ironie zulässt. Das hat in der deutschen Gastronomie Seltenheitswert und sorgt schon mal für ein gutes Gefühl direkt nach dem Platznehmen.

Obwohl Bau einer der Ersten in Deutschland war, der auf der Welle des damals aufflammenden »casual fine dining«-Trends die weißen Tischdecken aus seinem Speisesaal verbannte, findet man sie nun wieder. Das steht der Küche auch besser, es darf schon etwas festlich sein. Gerade jetzt. Man hat es vermisst.

Baus Menü »Paris–Tokio« gibt es in unterschiedlichem Umfang und mit verschiedenen Optionen in einem Preisbereich zwischen € 205–€ 285. Eine mir vorgeschlagene Menüfolge liegt schon in ausgedruckter Form auf meinem Tisch. Ich habe keine Einwände, nur Vorfreude und wunschgemäß gleich schon weißen Burgunder im Glas (2017 Pouilly-Fuissé »Le Clos«, € 28). Keine Sorge, niemand wird hier böse, wenn man keinen Mosel-Riesling bestellt. Die Rotweinfrage kläre ich auch; es wird ein 2007er Spätburgunder »Wildenstein« vom Weingut Bernhard Huber (€ 260). So viel Pinot muss sein.

Das Menü eröffnet mit sechs Einstimmungen. Den Beginn macht eine kühle, erfrischende und geschmacklich sehr pointierte Zubereitung mit einem Schaum aus Shishito-Paprika und qualitativ exzellenten, rohen Gambero Rosso aus San Remo; Gurke schmeckt man auch noch heraus (9/10). Es folgt eine Nori-Tartelette mit »asiatisch« gewürztem Wagyu-Tatar, darauf ein Stück lackierter Süßwasser-Aal und Wasabiblüten. Über das exzellente Handwerk, die feine Opulenz und die perfekte Temperatur könnte man lange sinnieren (9/10), doch die nächste Petitesse folgt.

Eine Tartelette mit einer Füllung aus Myogacreme (Japanischer Ingwer), Saiblingsrogen und Kaviar ist angenehm salzig, säurebetont und knusprig (8,5/10); ein Teigkörbchen mit Makrele und aufgeschlagener crème crû wartet erneut mit sehr präzisem Handwerk und einem Geschmacksbild auf, das zwar an Japan erinnert, durch seine Üppigkeit aber die Nähe zur französischen Klassik genauso gerne zur Schau trägt (9/10).

Die ganze Einleitung mit ihren fantastischen Zutaten findet in meinem Fall ihr Happy End in einer »japanischen Waffel« mit Sardine, Meereskräutercreme und Kaviar – sensationell leicht und doch voller Kraft, so, als steckte man seinen Kopf kurz in eine schäumende Brandung. (10/10)

Wenn man wieder aufgetaucht ist, steht die letzte der sechs Einstimmungen vor einem. Der Bedarf, das Menü in Amuse-Bouches und tatsächliche Speisenfolge aufzuteilen, besteht aber eigentlich gar nicht; man ist mit dem ersten Happen schon mittendrin.

Es gibt nun zu einem Zylinder geformtes Fleisch vom Taschenkrebs, dazu, unter anderem, kleine Kugeln von Wassermelone, XO-Creme und Bonitoessig-Vinaigrette. Trotz der Gemeinsamkeiten zu den anderen Kreationen, im Sinn einer Kombination von möglichst authentisch präsentierten Meerestieren mit salzig-säuerlichen Aromen, gelingt es Bau, mit jeder Speise völlig neue Genusserlebnisse zu schaffen. Dafür sorgt, neben der jeweils unterschiedlichen Hauptzutat, vor allem eine Armada an weiteren Komponenten, die komplex wie ein Uhrwerk miteinander interagiert. Hier wird beispielsweise die nussige Süße des sensationell frischen Krebsfleischs lange an der »Oberfläche« gehalten, während Erbsenkraut und verschiedene Blüten immer wieder frische Akzente setzen. Mir ist lediglich die Vinaigrette durch einen Texturgeber zu stark angedickt – das konnte man übrigens schon bei den »Bau Boxen« so erleben, sofern man die Vinaigrette zusätzlich bestellt hat. Doch das tut dem Weltklassegericht so gut wie keinen Abbruch. (8,9/10)

Die »Japanese Raw Bar« ist als weiterer Prolog zu verstehen. Er kommt in drei Akten. Nummer eins ist eine Auster (aus Zeeland) mit Shoyu-Sojasauce, einem Eis aus rotem Shiso (Perilla) und einer unwiderstehlichen »Süffigkeit«, die alle Kreationen Baus in sich tragen. Hier begeistert vor allem die hervorragende Sojasauce im Zusammenspiel mit dem leicht »minzigen« Perilla-Eis (9/10).

Es geht weiter mit Gelbflossenmakrele (Hamachi) in einem Tellerarrangement, das selbst Multi-Komponenten-Skeptiker wie mich sprachlos macht. Man könnte allein minutenlang auf optische Entdeckungsreise gehen, doch sollte man das Gericht schon wegen der vielen unterschiedlich temperierten Komponenten nicht lange warten lassen. Die Mitte des Tellers ziert eine »Straße« aus Muscheln und Meereskräutern, deren Elemente grandios zum vollmundigen Schmelz der Makrele passen. Jodige Aromen von »Kaviari Kristal«-Kaviar erweitern das Genusserlebnis, das eindringliche Assoziationen an einen Strandspaziergang erzeugt. Ein Seeigeleis setzt dazu, je nach Bedarf, große oder kleine Kontraste. Am Ende, wenn der Teller nur noch leer vor einem steht, verweilt ein eleganter Geschmack nach Ferne, Weite und Meer am Gaumen, der mich minutenlang berührt. (10/10)

Als nächstes folgt eine kleine, aber üppige Kreation um spanischen Thunfisch. Kleine Würfel von fettigerem Thunfischbauch sind von magereren, aber dennoch gehaltvollen, Tranchen des Fischs eingerahmt, dazu gibt es einen jodigen, leicht süßlichen Schaum, in dem weitere Komponenten wie feine Trüffelstifte und Furikake (eine Gewürzzubereitung für Reis) zu finden sind. Separat dazu gibt es ein kleines, heißes Süppchen aus eingekochten Teilen des Fischs; markante Fettaugen verraten die hinreißende Opulenz des Elixiers. Die großartigen Qualitäten von (spanischem) Thunfisch und (australischem) Trüffel in Kombination mit einem alles verbindenden Schmelz, der sowohl geschmacklich als auch vom »Mundgefühl« her der Inbegriff von Umami ist, beschreiben das Genusserlebnis vermutlich am besten. Dass kaum ein Teller ohne Komponenten aus Sprüh- und Quetschflaschen auskommt, ist mir allerdings spätestens hier (durch den Schaum) ein kleines Sandkorn im Auge und oft die kleine Nuance zwischen makellosem Weltklasseniveau (9/10) und meiner ganz persönlichen Höchstnote.

Das nächste Gericht verlässt das Meer und verneigt sich gegenüber der Provence. Von dort stammende Artischocken werden hier im Wesentlichen mit schwarzem Trüffel, etwas Grapefruit und einem süffigen, leichten Walnuss-Parmesan-Schaum in Szene gesetzt. Bereits diese Hauptzutaten ergeben eine derart schlüssige Harmonie, dass ich mir eine deutlich kompaktere Anrichtweise viel besser vorstellen könnte als die hier gewählte Form mit den vielen verteilten Komponenten. Man muss sich hier zusammensuchen, was längst zusammengehört; es könnte alles etwas heißer, dadurch noch duftender, und dichter in eine tiefere Tellermitte zusammenrücken. Es bleibt gleichwohl ein »sommerlich-erdiger« Wohlgeschmack und die Freude an den exzellenten Zutaten. (8,5/10)

Für den folgenden Gang setzt Bau weiterhin auf Spitzenprodukte. (Wenn man bei Bau »Yuzu« liest, liegen die Früchte in seiner Küche. Wenn man irgendwo in Deutschland sonst »Yuzu« liest, steht üblicherweise irgendwo ein Fläschchen herum.) Hier geht es jedoch nicht um Yuzu, sondern allem voran um bretonischen Kaisergranat. Das Spitzenprodukt ist in einem klassischen Krustentiersud und etwas Koji-Schaum angerichtet, dazu gibt es Tupfen von Erbesencreme und frischen Abrieb von Menton-Zitronen. Überraschenderweise lässt das für höchsten »klassischen Genuss« prädestinierte Ensemble einige Fragezeichen auftauchen; so ist der Krustentierjus zwar farblich sehr konzentriert, es fehlt ihm aber an geschmacklicher Intensität, zusätzlich hat die Erbsencreme das Problem, dass sie etwas »chlorig« schmeckt – ein sensorisches Phänomen mancher Erbsen. So ganz überzeugt dieser Gang daher nicht. (7,5/10)

Ähnlich verhält sich das leider beim nächsten Fischgang. Ein Stück Rotbarbe mit durch kurzes Frittieren aufgestellten Schuppen ist wegen ebendieser Technik sehr mühsam zu essen. Die spitzen Schuppen sind nicht gerade gaumenschmeichelnd, und auch die gespannte Haut, die das Fleisch krümmt, stellt den Fisch handwerklich nicht in bestmöglichem Licht zur Schau. Eine behutsamere Garung ist bei Rotbarbe oft die bessere Wahl. Dazu liefert eine gehaltvolle Sauce aus Abaloneleber nötiges Salz; japanischer Lauch (Kojyu) überlagert das Geschmacksbild jedoch etwas unglücklich. Diesem im Grunde sehr angenehm reduzierten Gericht fehlt es nun ausgerechnet an einem grandiosen, ganz für sich sprechenden und makellos zubereiteten Produkt, wie z. B. bei den legendär schlichten Arrangements mit Glänzendem Schleimkopf von César Ramirez. (7/10)

Umso mehr begeistert danach eine dampfende Miso-Suppe mit Königskrabbe, Edamame, Tofu und verschiedenen Pilzen. Das Gericht, das man vielleicht genauso auch in Japan serviert bekommen könnte, triumphiert mit seinen eleganten, leicht flüchtigen, etwas erdigen Aromen, die der angenehm heiße Dampf direkt in den Kopf transportiert. Durch eine nur behutsame Portionierung von Algen und Tofu stehen hier die wunderbaren Pilze und das fantastische Krabbenfleisch im Vordergrund; vor allem die Hitze, die mir in der »Multi-Komponenten-Spitzenküche« so oft fehlt, ist endlich da. Ich verliere mich in Duft und Wohlgeschmack, erinnere noch einmal an die Großartigkeit von heißen, in der Tellermitte angerichteten Speisen, und wünschte mir, die letzten Gänge wären alle auf diesem Niveau gewesen. (10/10)

Ein Klassiker von Bau, Miyazaki-Rind mit dekonstruierter Ratatouille und Sardellencreme mit schwarzen Bohnen, ist ebenfalls über alle Zweifel erhaben. Eine Offenbarung für Gäste, die solches Fleisch zum ersten Mal genießen, und ein wohltuendes Wiedersehen für Fleischerfahrene. Die einzelnen Bestandteile der Ratatouille sind mit ihren sehr präzisen individuellen Garungen besonders erwähnenswert. Ein Fleischgericht mit raren Spitzenqualitäten. (9/10)

Ein kühlender »Mouthcleaner« mit verschiedenen Komponenten, die dem Geschmacksbild eines Mojito-Cocktails entlehnt sind, ist ebenfalls unerwartet großartig. Unerwartet, weil man glauben könnte, mit dem scheinbar begrenzten Potenzial vergleichbarer Zwischengänge schon vertraut zu sein, doch hier stimmt alles: dezente Süße, Kühle, aber keine Eiseskälte, kurzweilige Texturen – und dazu ein Geschmack nach Minze, hellem Rum und Karibik. Traumhaft! (9/10)

Beim ersten Dessert steuert eine mit einer Zubereitung aus Ziegenjoghurt gefüllte Sphäre etwas cremige Textur zu Erdbeeren und Walderdbeeren hinzu, was das intensive Aroma Letzterer etwas in den Hintergrund rückt. Sehr gut, aber nicht groß (7/10). Ein weiteres Dessert hat Matcha, Mango und schwarzen Sesam als Leitmotive und erinnert damit geschmacklich an Mochi oder andere japanische Desserts. Auch das ist objektiv sehr gut (7/10) und handwerklich zweifellos ein »Hingucker«, wirkt aber geschmacklich in Summe zu artifiziell.

In seiner grandiosen Authentizität nicht zu überbieten ist dann ein Stück Yubari-Melone, die Bau tatsächlich aus Japan an die Mosel beschafft. Kühl und süß schmeichelt die kostbare Frucht den Gaumen; das ganze Mahl findet schließlich sein Ende in fantastischen Petit-Fours. Wenn man noch kann. 9/10 für diesen Abschluss.

Das Verblüffendste an Baus Küche bleibt die Tatsache, dass die Küche trotz ihrer erheblichen Komplexität immer auch »kompakte«, schlüssige Geschmacksbilder ergibt. Die Komplexität kann man sich ohnehin nur erlauben, weil die Produkte so hohe Qualitäten aufweisen. Wenngleich ich mir an manchen Stellen mehr Reduktion und auch weniger Arbeit mit Texturgebern vorstellen könnte, lenkt Bau nie ab. Jede Komponente ist für das jeweilige Werk essenziell. Wenn Bau »Straßen« baut, sind das kulinarische Promenaden. Wenn Bau einen Cremetupfen setzt, akzentuiert er. Wenn Bau eine Blüte platziert, bekommt man einen Blumenstrauß geschenkt. Und was das Drumherum betrifft: Perlen haben meist auch keine schöne Schale.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Victor’s Fine Dining by Christian Bau (→ Website)
Chef de Cuisine: Christian Bau
Ort: Nennig, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 30.07.2021
Guide Michelin (D 2021): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8,9 (Was bedeutet das?)
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