Bianc – ein Theater

Anfang August habe ich zum dritten Mal das Restaurant Bianc besucht. Daran könnte den aufmerksamsten Lesern meines Blogs einiges auffällig erscheinen. Zum einen sind drei Besuche eines inzwischen immerhin zweifach besternten Restaurants für mich – in meiner Heimatstadt – nicht besonders viel. Zum anderen findet man in meinem Blog nur den Bericht meines allerersten Besuchs im Jahr 2017. Und nun wäre es fast schon wieder passiert, dass ich von einem weiteren Bericht über das Bianc abgesehen hätte – wäre diese Tatsache nicht so erklärungsbedürftig.

Die Restaurantbesuche im Bianc motivieren mich seltsamerweise besonders wenig dazu, über sie zu schreiben. Und, um das gleich vorweg klarzustellen, das liegt nicht etwa an einer beklagenswerten Küchenleistung. Oder an irgendwelchen Fauxpas. Oder an einem schlechtem Ambiente. Selbst die Tatsache, dass ich heute Abend über eine Dreiviertelstunde darauf warten muss, bis irgendetwas Essbares auf den Tisch gestellt wird und es dann noch einmal eine Dreiviertelstunde dauert, bis der ganze Reigen an Amuse-Bouches von einem, sagen wir, besonders euphorisierten Küchenchef vorgetragen und vom Service durchserviert wurde, ist kein Grund für meine Zurückhaltung.

Immerhin sind die Amuse-Bouches mehr als passabel, teils zweifellos hervorragend. Die auf einem Algencracker angerichtete »Austernperle«, zum Beispiel, begeistert geschmacklich durch ein bewusst subtiles Austernaroma und einer charmanten Frische von Bergamotte, die – oder deren Aroma – man hier gekonnt verarbeitet hat (8/10). Eine »mediterrane Tortilla« mit kleinen, würzig frittierten Nordseegarnelen und Garnelenmousse ist durch den Einsatz von Chili pikant, angenehm leicht und dennoch herzhaft (8/10). Ein Highlight ist auch der süffige, etwas »nach Wurst« schmeckende Mini-Oktopus auf einem Nest aus frittierten Kartoffeln (7,9/10). Dieses Niveau halten die neun verspielten Petitessen überwiegend.

Auch ein warmes, wunderbar öliges »Focaccia alla mamma« mit persönlichem Bezug des Chefs, das man in sahnige, mit Mortadella-Zesten besprenkelte Büffelbutter stippt und sich zwischendurch noch eine am Gaumen aufplatzende Olive, die deutlich »dicker« als die von Adrià bekannte ist, mit Wermutgel und Salzzitrone einverleibt (8/10), entlohnt die eineinhalb Stunden, die man hier schon am Tisch sitzt.

Es geht dann weiter mit dem ersten Gang des Menüs (»Emotion«, € 190). Immer noch viel zu langsam, aber immer noch sehr gut. Mit einem leicht pochierten Tartar vom Carabinero mit Cantaloupe-Melone und Avocado, dazu eine wohlige, saftige Mini-Bruschetta mit süffigem Parmaschinken (7,5/10). Und mit Tartar vom Balfegó-Thunfischbauch, dessen Schmelz die überraschend mutig mit Salz und Knoblauch gewürzte Gazpacho abfedert, und der von der feinen Frische von junger Gurkenblüte, kleinen Kräutern und Anchovis in einem abwechslungsreichen Genussspiel in Schach gehalten wird (7,9/10).

Die folgende Jakobsmuschel ist ebenfalls exzellent: qualitativ und geschmacklich. Sie ist auffällig scharf angebraten und präsentiert sich in der Folge mit appetitlichen Röstnoten. Gebettet ist die Muschel in einer angenehm gesalzenen, samtigen Olivenöl-Emulsion in Verbindung mit einem leichten, aber schwer identifizierbaren Fond. Ein keck gewürztes, reifes Stück Ananas ergänzt die mediterrane Komposition unaufdringlich um etwas Exotik. (7,9/10)

Weiter geht es mit »Atlantik-Hummer«, was auch immer damit geografisch gemeint ist. Man präsentiert das heimatlose Krustentier gleich zwei Mal, in zum Verwechseln ähnlich aussehenden Arrangements. Eine mit Schnittlauch und Krustentieröl gesprenkelte Champagner-Nage bildet bei beiden Tellern die Bühne für die jeweilige Hummer-Zubereitung, links als »Carpaccio«, das heißt hier in rohen Tranchen, rechts verarbeitet in Ravioli. Dazu gibt es jeweils eine Nocke Kaviar und weitere, meist ebenfalls identische Komponenten. Das Ganze wirkt so, als hätte man sich nicht entscheiden können, welche Komposition die bessere ist. (Es ist die linke, weil der (fast) rohe Hummer das Gericht texturell und in Bezug auf Frische etwas abwechslungsreicher gestaltet, und, weil der Raviolo auf dem rechten Teller einen etwas zu dicken Teig aufweist.)

Warum man sich durch beide Teller durcharbeiten soll, wird dabei nicht klar. Sowohl für eine Präsentation eines Hummers an sich als auch für einen Vergleich zweier Zubereitungsarten von Hummer sind die Teller deutlich zu umfangreich, vor allem wegen des geschätzten Viertelliters Sauce. Für sich allein betrachtet sind die Gerichte jedoch erneut sehr gut. Die Champagner-Nage ist hervorragend süffig, duftend und buttrig, der Hummer von zweifelsfreier Qualität, und die salzigen, jodigen Akzente des üppig portionierten Kaviars passen, wie auch die anderen Mitspieler, perfekt. Der Umfang des Gerichts und die gustatorische Wiederholung machen dem Gang jedoch zu schaffen. (7/10)

Ich gelange an dieser Stelle des Menüs an eine Art Wendepunkt. So objektiv gut die Speisen für sich betrachtet sind, kann sich zumindest einem versierten Esser die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser Küche stellen, nach ihrer Aussage, ihrer Urheberschaft. Es geht hier beispielsweise nicht etwa um eine spezielle Produktküche. Jede Zutat ergäbe hier irgendwie Sinn und würde, sofern akkurat und schmackhaft zubereitet, vom Publikum begrüßt, weil der kulinarische Rahmen absichtlich vage definiert ist. An der schwammigen Herkunftsbezeichnung des Hummers muss man sich nicht festbeißen, aber es ist ein kleines Symptom dieser Beliebigkeit, die hier mitschwingt. Nun muss man in einem Restaurant nicht zwingend eine produktfokussierte, puristische Küche betreiben. Man muss dann aber etwas anderes anbieten: etwas Originelles, Traditionelles oder Persönliches. Nichts davon findet man hier. Stattdessen findet man eine Anreihung von eher zusammenhanglosen, dennoch sehr guten, Gerichten, die in einem – für Hamburg – extravaganten Rahmen nicht mehr erreichen wollen als den Gästen einen unterhaltsamen, unbeschwerten Abend zu bieten.

Das immer gut gebuchte Bianc ist eigentlich der schillernde Beweis für meine nach wie vor aktuelle Kritik, dass man zumindest dem Publikum, das sich hier gerne mit dem Chef duzt, viel vor die Nase setzen kann (das schließt sehr Gutes mit ein), solange man in der Hauptsache »einen schönen Abend mit allem Pipapo« hat. Ob das hier im Bianc geschieht oder beim Szeneitaliener zu Hause um die Ecke, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Es spielt hier eben relativ wenig eine Rolle. Fisch oder Fleisch, Italien oder Iberien, Hummer aus Maine oder Hummer aus der Bretagne. Wenn Matteo Ferrantino persönlich am Tisch einen Sud angießt, ist das eine Metapher für die große Pfeffermühle, die einmal halb über das Vitello Tonnato gedreht wird. Das Bianc ist sinngemäß der am besten inszenierte Szeneitaliener der Stadt. Vieles ist hervorragend umgesetzt, dennoch gerät Kulinarik hier zur Nebensache. Das ist eine seltsame Position, in die man sich hier manövriert hat.

In diesem skurrilen Widerspruch zwischen einer gefühlten Beliebigkeit und durchaus anspruchsvoller Küche, blicke ich vorsichtig optimistisch, aber inzwischen auch nicht mehr besonders hungrig, auf den nächsten Gang.

Es gibt Kabeljau in Minestrone-Sud, dazu Pesto, Aioli, einen krossen Chip und Ysop. Der Fisch ist offenkundig sous-vide gegart, was hier zwar technisch gut gelungen ist, wobei aber immer auch etwas Authentizität verloren geht. Das mediterrane Drumherum ist aromatisch ansprechend, aber etwas »klebrig«. In Summe ergibt sich hier ein mediterranes Geschmacksbild »auf Steroiden«, irgendwie aufgepumpt, unauthentisch, forciert. Das ist alles immer noch irgendwie gut, aber eine wahrhaftige Freude am Genuss führt auch dieser Gang nicht mit sich. (6,9/10)

Dass der Hauptgang dann nahezu ungenießbar ist, liegt nicht an der bereits fortgeschrittenen Uhrzeit, sondern an der erneuten Sous-Vide-Garung. Das im Vakuumbeutel gegarte Secreto vom Iberico-Schwein schneidet sich so weich wie ein abgestandener Marshmallow, ein »Surf« aus Muscheln, eine gehaltvolle Sauce sowie etwas Dijonsenf-Creme halten zwar auch hier noch eine letzte Anspruchs-Fahne in die Höhe, aber das kann ich leider unmöglich aufessen. Resigniert frage ich angesichts der späten Uhrzeit nach der Rechnung. (6/10)

Die folgt zwanzig Minuten später, nach einer ausgiebigen Vorführung verschiedener Süßspeisen, die man unserem Tisch nicht vorenthalten möchte. Eine Kreation ist aufwändiger als die andere, manches ist sehr gut, manches nur passabel, alles wieder eine forcierte große Oper, gesungen von einem heiseren Sänger.

Es ist jetzt kurz vor Mitternacht. Der Laden brummt noch, trotz Sperrstunde. Den Applaus mit Zugabe will man sich hier nicht nehmen lassen. Während alle noch klatschen, verlasse ich das Restaurant. Ich kann dem ganzen Theater einfach nichts mehr abgewinnen.

Informationen zu diesen Besuchen
Restaurant: Bianc (→ Website)
Chef de Cuisine: Matteo Ferrantino
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieser Besuche: 04.08.2021
Guide Michelin **
Meine Bewertung dieses Essens: 7 (Was bedeutet das?)
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