Tulus Lotrek – lieber für uns

Das Tulus Lotrek kann man nur vergöttern. Die Kombination aus Altbauwohnungs-Charme, schlichter Dekoration, Dschungel-Tapeten und einem jungen und ausgesprochen herzlichen Service-Team ist schon eine perfekte Basis für den klassischen »schönen Abend«. Dass das Ganze aber noch als Bühne für eine der besten kulinarischen Darbietungen Berlins, nein, Deutschlands, dient – die knarrenden Holzdielen könnten keine bessere Metapher sein –, ist Grund genug, sich schon beim ersten Besuch unsterblich in den Laden zu verlieben.

Ich komme bei meinen Reisen in die Hauptstadt gar nicht mehr an dem Lokal vorbei, daher war auch eine zwanzigstündige Stippvisite in Berlin kulinarisch gerade auch »nur« mit dem Tulus Lotrek belegt. Es kommt mir auch so vor, als sei es mein siebenunddreißigster Besuch – tatsächlich ist es erst mein vierter, und das tut mir sehr leid. Für mich.

Das heutige Menü (€ 175) beginnt, wie üblich, mit einigen Petitessen, die den Gaumen auf hohe Qualität, Spannung und Vielfalt einnorden. Einem Röllchen mit Fernweh erzeugender Nori-Alge, leicht pikant angemachtem Hummer (als Tartar) und frischen Zitrusaromen begegne ich nach meinem letzten Besuch im Sommer gerne wieder (8/10), ein Karottenmacaron mit Kokos, Koriander, Hokkaido-Kürbis und Sudachi – in jeweils unterschiedlichen Verarbeitungen – arbeitet das Kürbisaroma gut heraus und neckt mit einer leichten Schärfe (7/10).

Danach folgt eine Tartelette aus Reismehl, die mit einem herzhaften Reh-Tataki gefüllt ist. Brombeergelee liefert dazu passende, weil »dunkle«, Fruchtaromen (7/10). Ein kleiner Cracker aus knusprig gebackenem Brik-Teig mit erdiger Waldpilzmousse und säurebetontem Sherryessig-Gelee bringt charmant das Thema Wald zum Vorschein (7/10).

Zusammen mit einem offen servierten 2019er Meursault »Le Limonzin« von der exzellenten Domaine Pierre Girardin (Glas € 22) würde man sich jetzt eigentlich darauf freuen, dass es so weitergeht. Tut es aber nicht.

Küchenchef Max Strohe und sein Team setzen heute Abend zu einer kulinarischen Tour de Force an, die das Ziel zu haben scheint, sich immer wieder selbst zu übertreffen. Das weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, aber ein Kartoffelbeignet mit flüssiger Comté-Füllung und geraspeltem Périgord-Trüffel macht eine erste Andeutung. Klar, Périgord-Trüffeln heben so ziemlich jede Speise in den kulinarischen Himmel, aber das ist es hier nicht allein: Der Beignet ist unerwartet leicht, wie eine Wolke, dabei angenehm knusprig, und die schelmische Käsefüllung bietet genau die richtige Intensität Umami, dass das als Eleganz und nicht als Trick durchgeht. Große Klasse. (8,5/10).

Der erste offizielle Gang des Menüs präsentiert eine Kombination von Thunfischbauch (ōtoro) und roter Bete. Dass die Speisekarte den Begriff »Otoro« überhaupt als ersten Begriff aufführt, ist ein weiterer Hinweis auf das weltläufige Selbstverständnis des aktuellen Menüs. Der kostbarste, fetthaltigste Teil vom Thunfisch wäre kaum nötig, um den meisten Gästen ein zufriedenes Raunen zu entlocken oder mühelos dem attestierten Michelin-Stern zu entsprechen. Aber dass man sich hier gerade nicht mit dem Allernötigsten zufriedenstellt – nicht einmal mit »ausreichend Gutem« –, hat in Deutschland längst Seltenheitswert. Den Thunfisch und die rote Bete findet man hier in Form von mit etwas Crème Épaisse zusammengehalten Würfeln zentral auf dem Teller, darauf eine Scheibe marinierter, leicht bissfesten Tranche der Bete, die wiederum zwischen dem Tartar und einer üppigen Nocke N25-Kaviar liegt. Am Gaumen stellt der betörende Schmelz des Thunfischs (der sich eben auch nicht mit alternativen Teilen des Fischs so erreichen ließe) die Bühne für das darauf aufbauende aromatische Spiel zwischen den maritimen Aromen von Kaviar und Thunfisch und der belebenden Säure der Bete, die man auch noch als Saft mit Zitrone und Dillöl wiederfindet. Dass die rote Bete die feinen maritimen Aromen nicht einmal im Ansatz übertönt, sondern nur elegant begleitet, ist vielleicht die größte Auffälligkeit dieses Gerichts. (8/10)

Der nächste Gang ist eine knusprig gebratene Jakobsmuschel, die bereits aufgeschnitten in ihrer Schale mit einem buttrigen Püree von Karotte und Seeigel serviert wird. Der Zusatz »X.O.«, den man zu dem Gericht in der Speisekarte findet, weist auf die hausgemachte pikante Krustentiersauce hin, deren kraftvolle Schärfe man zwar kurz zu Wort kommen lässt, der nussigen Muschel mit ihren appetitlichen Röstnoten sowie dem buttrig-jodigen, samtigen Püree letztlich aber mehr Redezeit einräumt. Etwas Yuzu, ich habe nicht erfragt, in welcher Form, schmeckt man auch noch. Ich kann den Eindruck nicht loswerden, dass das Gericht – immerhin ein mir bekanntes Signature-Gericht von Strohe – noch einmal verbessert wurde. Möglicherweise ist es die besonders hervorragende Qualität der Muschel. Das Gericht ist damit ein Sinnbild für eine Erkenntnis, die auch den Rest des Menüs prägen wird: Eine Optimierung ist hier eigentlich nur noch mit einer »Übersteigerung« der Qualität möglich. Verwendete man hier bspw. Jakobsmuschel und Seeigel aus Hokkaido und rundete das Gericht am Tisch noch mit dem Abrieb frischer Yuzu ab, wäre ein solcher Gang auch dazu geeignet, um in den Restaurants eines Björn Frantzén auf den Tisch zu gelangen. Das muss man natürlich alles nicht machen, aber allzu weit entfernt ist das nicht. (8,5/10)

Der Kaisergranat erleichtert schon fast wieder – man kann bei diesen kulinarischen Höhenflügen leicht ins Schwindeln geraten. Aber weit hinunter kommt man hier auch nicht. Das norwegische Krustentier ist von eindrucksvoller Größe und Qualität und puristisch in einer schaumigen Tomatenwasser-Beurre-Blanc angerichtet, was der buttrigen Sauce einen Hauch Leichtigkeit und etwas Umami verleiht. In Eisweinessig geschmorter, karamellisierter Chicorée aktiviert am Gaumen eine schlanke Bitterkeit, die die nussige Süße des Kaisergranats anspruchsvoll kontrastiert. Wie schon bei einem Essen im Sommer fällt mir eine minimal zu lange Garung des Tiers auf (es lässt sich gerade noch mit dem Löffel zerteilen), aber das macht die gesamte Komposition kaum schlechter als hervorragend. Die Saucen sind heute Abend auf einem besonders hohen Niveau. (7,9/10)

Ich habe inzwischen auch einen Rotwein auf dem Tisch. Ein 2013er Clos de La Roche von der Domaine Georges Lignier (€ 230) entfaltet sich prächtig. Und als ich kurz überlege, ob das hohe Niveau hier wirklich angehen kann, oder ob einem der charmante Service, die großen Weine und die lässige Atmosphäre einfach nur den Kopf verdrehen, duftet plötzlich alles nach Pastis, Anis und Absinth, dem tödlichen Laster von Henri de Toulouse-Lautrec, Namensgeber des Restaurants. Ob diese Assoziation Zufall ist?

Zweifellos weder letal noch zufällig ist die Einbindung von Pastis und Fenchel in eine schaumige Beurre Blanc, mit der ein Stück Steinbutt höchster Güte überglänzt wurde. Der saftige, zarte Fisch ist perfekt gegart und auf einem Bett von sautiertem Spinat und Sauerampfer platziert. Das Zusammenspiel der hohen Produktqualität, dem an Süßholz erinnernden Anisaroma des Pastis und der leichten Bitterkeit des Gemüses ist schon großartig. Das allein aber wäre Strohe wohl zu klassisch. Der Clou an diesem Gericht ist schließlich eine Sauce génoise in Form einer mit Fischabschnitten eingekochten Rotwein- und Portweinreduktion. Die kräftige aromatische Sauce bringt eine Herzhaftigkeit ins Spiel, die man in Kombination mit feinem Fisch viel zu selten erlebt. Die Sauce integriert sich vorzüglich in das Spiel um Fenchel und Anis, wobei Senfkörner noch eine Art Brücke zwischen diesen Welten schlagen. Das souverän unkompliziert angerichtete Gericht ist auf Weltklasseniveau. (8,9/10)

Ich wollte den Steinbutt noch abwarten, um bezüglich der Menge zu entscheiden, noch einen Gang aus dem zweiten, vegetarischen, Menü einzuschieben. Sowohl meine Neugier als auch die eher kohlehydratarme Küche lassen keine andere Antwort als ein Ja zu.

Ja zu Döner! Dass der erste Döner, den ich in Berlin esse, einer von Max Strohe ist, wird mir manch Streetfood-Begeisterter nicht verzeihen mögen – bis er vermutlich in diesen hineinbeißt. Ein verdammt köstliches Fladenbrot mit pizzaähnlichen Röstnoten ist mit Zubereitungen aus besonders aromatischen Sandkarotten, Gurke und Salat gefüllt, dazu gibt es eine scharfe Knoblauch- sowie eine Kräutersauce. Die Teigtasche hat genau die richtige Menge, um auch als Extragang nicht zu sehr zu sättigen, aber etwas Brot kommt mir gerade durchaus recht. Der süffige, pikante Snack übererfüllt jeden Heißhunger nach Döner, bis hin zu Sauce, die an den Händen herunterläuft. Wunderbar und hemmungslos. (7/10)

Ein abkühlendes Intermezzo folgt jetzt in Form eines Quittensorbets mit einer Nocke Champagnerschaum. Das Sorbet ist großartig, mit authentischem Aroma der Frucht, bei dem es sofort einleuchtet, warum Quitte zu den Rosengewächsen zählt. Der Champagnerschaum bringt etwas Volumen und eine feine Säure, doch der abschließende »Kniff« sind kleine Stücke von Taggiasca-Oliven und etwas Olivenöl. Das Aroma der ligurischen Oliven passt so überzeugend, aber überraschend, zur Quitte, dass man mit einem bloßen »Drüberhinweggenießen« der Speise nicht davonkommt. Stattdessen begeistert dieser Zweiklang, solange er anhält. Souveränes Weltklasseniveau. (9/10)

Nach dieser Gaumenerfrischung erfrischt auch die Idee, jetzt nicht nur noch einen herzhaften Gang zu servieren (der im Duktus eines solchen Menüs oft unsinnigerweise als »Hauptgang« bezeichnet wird), sondern zwei.

Der erste verneigt sich noch einmal vor der französischen Küche, indem ein goldbraun geröstetes Stück Kalbsbries mit Périgord-Trüffeln, samtigem Selleriepüree und Strohes nonchalantem Kombinieren mehrerer Saucen den Tisch erreicht. Beim Beschreiben der Saucen durch das Personal fallen die Begriffe cacio e pepe (Käse und Pfeffer), Parmesan, Kalbsjus und geschmorter Lauch. Der Teller duftet stark ätherisch nach den terpentinartigen Aromen des Trüffels, die zusammen mit Lauch und Parmesan herzhaften Wohlgeschmack in Reinform erzeugen – ungezwungen, unverblümt, unverschämt gut. Ja, man hätte das Bries außen noch einen Hauch knuspriger ausbraten können. Dennoch ist der Garpunkt ideal. Was soll’s? Großartig bleibt das dennoch. (8,9/10)

Den herzhaften Teil des Menüs schließt dann eine Oxtail-Consommé ab – klar, dunkel, expressiv duftend –, die vom Service auf ein Chawanmushi mit geflämmter Foie Gras, Trüffelstiften und Buchenpilzen aufgegossen wird. Wenn man sich durch den intensiven Duft zum Gericht durchgearbeitet hat und etwas von der heißen Melange probiert, spürt man Salz, Hitze, Umami und hin und wieder auflockernde Aromen von würzigen Sancho-Blättern – und ist auch etwas Thymian dabei? Es ist ein aufwühlendes Spiel, das Temperatur, Textur und Grundgeschmacksrichtungen deutlicher betont als die Aromen an sich, und das ist auch großartig so. Damit man weder von der Brühe, die zum Nachnehmen auf dem Tisch steht, noch vom Rest im Teller irgendetwas verpassen muss, stehen duftende, buttrige Buchteln bereit. Das wie Brioche schmeckende, fluffige Gebäck eignet sich perfekt zum Aufsaugen von neu angegossener Consommé, liefert zum Spiel der Grundgeschmacksrichtungen noch etwas Süße und ist damit auch ein ziemlich gekonnter Übergang zum süßeren Teil des Menüs. Ich bin bei diesem Gang nah am Wasser gebaut. Wer weiß, was noch kommt, aber das ist schon jetzt eine der Speisen des Jahres. (10/10)

Das erste Dessert, das auf die Bezeichnung Orangenblütenwasser-Safran-Eiscrème hört, ist eine Weiterentwicklung verschiedener Ananas-Desserts mit Rum, die hier immer wieder fabelhaft sind, in der heutigen Version aber fast schon als Provokation daherkommt – im besten kulinarischen Sinn. Von der Ananas sind nicht mehr als ein paar Würfelchen übriggeblieben, dafür gibt es das oben bezeichnete Eis, das intensiv nach Safran schmeckt, also bitter-aromatisch, leicht nach Rose, Honig und hier auch noch nach Orange. Zu all diesen schönen Dingen wartet ein von irgendwoher leicht pikanter Rum-Karamell-Sirup darauf, gleich doppelt zu verführen: An einem Arm zieht man mich in Richtung einer lauwarmen Karibiknacht mit Rum und Zikaden, am anderen Arm in Richtung Orient, berauscht von Farben und Lauten. (10/10)

Als ich aufwache, steht ein die Nerven beruhigendes Brandteiggebäck (Choux) mit Haselnusscreme-Füllung vor mir, unheimlich leicht, knusprig, köstlich und eine würdige Zusammenfassung von jetzt gar nicht mehr nötigen weiteren Petit Fours. Das Plural-S fehlt folgerichtig auch in der Speisekarte. (8,5/10)

Das heutige Menü hat mich überrumpelt. Nicht überraschend ist, dass der »schöne Abend« mehr als erfüllt wurde; ebenfalls nicht neu ist die Erkenntnis, dass die schnörkellose, immer keck in Frage gestellte französische Küche im Tulus Lotrek mehr als zufriedenstellt. Aber wie nah sich das heutige Menü an Referenzen bewegt, die mich auf der großen internationalen Bühne so begeistern wie die von Björn Frantzén oder César Ramirez, ist ganz großes Kino. Die einzigen Optimierungsmöglichkeiten des heutigen Menüs, um auf einem solchen Niveau mitzuspielen, liegen fast nur noch in der Beschaffung von Produktqualitäten (derselben Zutaten), die man in Deutschland kaum bekommen dürfte, wenn das Menü dann nicht fünfhundert Euro kosten soll. Auch einige Garungen waren nicht ganz perfekt, aber das ist es dann im Wesentlichen schon. Der souveräne Fokus auf Produkte mit kosmopolitischer Strahlkraft und gewissenhaftem Handwerk; die wenigen Komponenten; die selbstsichere Anrichtweise in Tellermitte, bei der man sich die Zutaten nicht von verschiedenen »Straßen« zusammenkratzen muss: All das rauscht mühelos an allen Menüs vorbei – auch an solchen mit höchster Auszeichnung –, bei denen man mehr Kopf als Herz einsetzen muss, mehr mit zurückhaltendem Lächeln quittiert als mit überhitztem Gemüt. Servierte man das Ganze noch um eine spektakuläre offene Küche herum, in der man für Tausende Euro jeden Monat japanische Holzkohle verbrennt, wäre alles für den internationalen Foodie-Tourmisus vorbereitet. Aber das will man hier ja gar nicht. Hier ist Wohnzimmer. Hier knarren die Dielen. Hier gibt es Dschungel-Tapeten. Behalten wir dieses Geheimnis lieber für uns.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Tulus Lotrek (→ Website)
Chef de Cuisine: Max Strohe
Ort: Berlin
Datum dieses Besuchs: 20.01.2022
Guide Michelin (D 2021): *
Meine Bewertung dieses Essens: 8,5 (Was bedeutet das?)
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