Cenador de Amós – Pilgerfahrt nach Kantabrien

Von San Sebastián fahre ich mit dem Auto zwei Stunden in westliche Richtung. Mein Ziel ist Santander, die Hauptstadt Kantabriens. Ich bin etwas knapp in der Zeit, weil mich in der Altstadt von Donostia am Mittag noch einige Pintxo-Bars aufhielten, für die ich die letzten Tage keine Zeit fand. Im Ganbara genoss ich Blätterteig mit Würstchen, ein Toast mit Seeteufel und Garnele, eine Tartelette mit Seespinne und gebratene Pilze mit Eigelb, im La Cuchara de San Telmo kleine Gerichte mit geschmorter Aubergine, Stabmuscheln, Foie Gras und gebratenem Milchferkel und im La Viña ein Stück Käsekuchen. Für die Fahrt bin ich also erst mal versorgt.

Am Abend steht das nächste kulinarische Ziel auf meiner Agenda, das Restaurant Cenador de Amós. Es ist der jüngste Drei-Sterne-Zugang Spaniens. Wenn man den Küchenchef googelt, Jesús Sanchéz, erscheint zuerst ein Friseursalon in Emsdetten, dann ein für Miami spielender Baseballspieler aus der dominikanischen Republik und irgendwo auf Seite drei dann tatsächlich der gesuchte Küchenchef. Gut, der Name Jesús Sanchéz ist ein bisschen so wie Dieter Müller, aber wenn man nach Letzterem sucht, wird man immerhin schneller fündig.

Das Cenador de Amós befindet sich im 350-Seelen-Dorf Villaverde de Pontones. Mein Taxi von Santander benötigt zwanzig Minuten dorthin.

Das palastartige Anwesen erwartet man in dem unscheinbaren Dorf nicht. Hinter einem Torbogen erschließt sich eine prachtvolle Villa aus dem 18. Jahrhundert, die das weitläufige Restaurant beherbergt. Sanchéz ist Eigentümer des Hauses und kocht dort schon seit dreißig Jahren. Von 1993 bis 2016 war sein Restaurant mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet, dann folgte eine rasante Aufholjagd mit dem zweiten und, seit 2019, dem dritten Stern.

Das Abendessen, ein Überraschungsmenü für € 227, beginnt auf einer gemütlichen Terrasse vor einem verglasten Pavillon. Aus dem schwirrt das Personal und serviert als erstes eine Einstimmung mit Wermut, Erdbeere und Orange, einmal als Aperitif und einmal in essbarer Form als Erdbeere mit korrespondierender Füllung. Ein origineller Start abseits von Champagner & Co.

Nach und nach serviert man weitere Aperitif-Snacks. Dazu folge ich dem unkonventionellen Vorschlag eines Biers, in diesem Fall ein in Amontillado-Sherry-Fässern ausgebautes Bier von der Brauerei Cervezas Alhambra.

Eine Tartelette mit Spargel, Mayonnaise und Lachsrogen ist ein hochfein gearbeiteter Snack mit präzisen Aromen (8,9/10), und eine mit Tintenfischtinte gefärbte, fast gewichtslose, hohle Teigkonstruktion in Steinoptik mit verschiedenen maritimen Mitspielern wie Queller und Tintenfisch ist so flüchtig wie das Meer und so leicht wie eine Feder – poetisch gut. (9/10)

Die Interpretation eines spanischen Omelettes (Tortilla) folgt in einem Cornet mit schaumiger Kartoffelcreme und flüssigem Zwiebeljus. Der Gaumenschmaus ist wohltuend warm, leicht knusprig, herzhaft-zwiebelig und lässt keine Frage offen, ob zu einer Tortilla überhaupt Zwiebeln gehören. (Man erläutert dazu scherzhaft, dass dies unter Traditionalisten ein strittiger Punkt sei.) Alle Komponenten der kleinen Speise sind erneut hochfein zubereitet, vom knusprigen, hauchdünnen Teig bis zu der zum Augenschließen guten Füllung. (9/10)

Man überlässt es den Gästen, irgendwann ins Haupthaus zu gehen.

Das Interieur des Restaurants ist ein eindrucksvoller Mix aus jahrhundertealter Steinarchitektur und modernen Gestaltungselementen. Es ist eine sachliche und doch behagliche Atmosphäre, still, aber lebendig, festlich, aber entspannt.

Am Tisch geht es zunächst mit zwei kleinen Tapas weiter, die es erneut in sich haben. Kantabrische Sardellen, die in einer Pasiega-Butter gebettet sind – offenbar wegen ihrer Aromatisierung nach einem regionalen Käsekuchen benannt –, werden vom Service auf einen Spieß aufgerollt. Die Sardelle selbst ist von bemerkenswerter Qualität: dicht, fleischig, salzig und umami; die Butter bringt dazu weiteren Schmelz und Vollmundigkeit. Ein Stück Brioche in Pilzform liegt auch noch bereit, um den Rest der Butter zu genießen. Besser kann man so einen Happen kaum umsetzen. (8/10)

Für das letzte Amuse-Bouches wird ein Spieß mit geräucherter Makrele und Artischocke präsentiert, separat dazu ein Teller mit Kaviar und Sardellencreme, auf dem der Fisch angerichtet wird. Der eindrucksvoll schlichte Teller begeistert durch eine großartige Produktqualität der Makrele, mit einer »kompakten« Konsistenz und Aromen von Jod, Meer, Salz und Rauch. Das schmeckt wie ein Barbecue am Strand. (8,9/10)

Der erste Gang des eigentlichen Menüs ist eine gegarte Auster von stattlicher Größe, die in Karottensaft mariniert wurde und auch in diesem angerichtet ist. Der Garprozess hat die Textur der Muschel in eine festere, fleischige Richtung verändert und den Geschmack etwas abgemildert. Die Auster verliert dadurch ihre Extreme, wenn man so möchte, ohne dabei ihre maritime Herkunft zu vertuschen. Zusammen mit dem samtigen, angenehm fruchtigen Karottensud ist diese ungewohnte Kombination nicht weniger als Weltklasse. (9/10)

Im Glas ist inzwischen auch meine Weinauswahl, ein 2016er Corton Renardes von der Domaine Lucine Le Moine für faire € 196. Der Sommelier macht vor einigen zusätzlichen Gläsern zu den Gängen aber keinen Halt.

Der nächste Gang ist eine Kreation um Hecht und Erbsen. Der Fisch ist »wie ein Kuchen gebacken«, erläutert der Service, was angesichts des weitestgehend naturbelassenen Fischs nicht ganz nachvollziehbar ist. Der saftige Fisch mit prägnantem Geschmack ist mit einer dichten, weißen Sauce  ummantelt, die an Pil-pil erinnert, aber tatsächlich mit fermentiertem Hecht hergestellt ist. Das verstärkt den Geschmack des Fischs, was wiederum durch die lebendigen, frischen und leicht süßlichen Erbsen aufgebrochen wird. Wenn man aufgegessen hat, wird der Teller noch mal mit einem Erbsenjus aufgegossen. Intensiv, hervorragend, überraschend. (8,5/10)

Der nächste Gang ist dann so etwas wie eine kurze Fortsetzung meines pintxo crawls von heute Mittag, denn Pilze mit Ei sind auch das Thema dieses Gerichts. Maipilze, roh mariniert, sind hier mit einer an Mayonnaise erinnernden Sauce – mit deutlich leichterer Textur – und etwas Schnittlauch zu finden. Die kreisrunde, leicht erhabene Anrichtweise der Sauce, die so nur wegen ihrer hohen Stabilität möglich ist, sorgt für eine sehr akkurate Optik. Der Maipilz schmeckt intensiv nach feuchter Erde und »altem Koffer«, die samtige Sauce mit prägnantem Eigelbgeschmack sorgt für »Bindung« und Schmelz. Das Geschmacksbild kennt hier jeder, es ist eine dieser eindrucksvollen Darstellungen eines von der bodenständigen in die Spitzenküche transportierten Gerichts, bei dem Techniken und Qualitäten bis aufs Äußerste optimiert wurden. (9/10)

Die Schlichtheit der Gerichte in Verbindung mit einer dennoch akribisch akkuraten Anrichtweise beeindruckt mich bisher sehr. Es geht fast immer um ein Hauptprodukt in höchster Güte, wie auch beim folgenden Gang mit norwegischem Hummer. Von dem hat man zwei mundgerechte Stücke in einer funkelnden Krustentieressenz angerichtet. Mehr als die herausragende Qualität des Hummers – prägnant nussig, bissfest, dennoch zart – und den komplexen Jus, in dem man neben einer leichten »Marzipannote«, die typisch für Krustentieressenzen ist, auch Aromen von Thymian sowie eine leichte Schärfe vorfindet, benötigt das Gericht eigentlich nichts, um erneut mit einem Weltklasseniveau zu begeistern. Dennoch gibt es dazu genusssteigernde Zugaben. So findet man unter dem Hummer noch ein dichtes, rötlichbraunes Püree, das in Anlehnung eines kantabrischen marmita, ein Schmorgericht mit Thunfisch, zubereitet wurde. Es schmeckt umami, nach Tomate und Liebstöckel und intensiviert das Gericht. Auf einem separaten Löffel gibt es noch einen gnocco mit knusprigen Streuseln von frittiertem Hummerkopf, der noch einmal für kurzweilige Abwechslung sorgt. (9/10)

Ähnlich puristisch geht es weiter, jetzt mit Seeteufel. Den in Nordspanien beliebten Fisch findet man hier oft in Ausnahmequalitäten, mit einer ungewöhnlich saftigen und »lockeren« Textur. Außer mit appetitlichen Röstnoten hat man das Filetstück auf diesem Teller ganz pur gelassen. Ein dicht eingekochter Geflügeljus bietet zu dem Fisch samtigen Schmelz und einen prononcierten Salzgehalt –absolut hervorragend. Weitere Mitspieler auf dem Teller sind Blattspinat und ein süßlich-süffiges Zwiebelkompott. Das recht französisch anmutende Gericht begeistert durch seine Leichtigkeit, den sagenhaft guten Fisch und die hervorragende Sauce. Das Niveau der Küche hier ist bisher auf höchstem Niveau konstant. (9/10)

Anstelle einer in drei Gängen durchdeklinierten Taube – eine der wirklich wenigen Zutaten, die ich nicht benötige, um glücklich zu sein – gibt es bei mir zwei Gänge mit dem Fokus auf Rind.

Der erste Gang besteht aus drei mit Kalbskopffarce gefüllten Morcheln, die mit einer Demi-glace überglänzt sind. Die intensive, in handwerklich bester Manier »klebrige« Sauce ist hier allerdings etwas zu dominant, um den Morcheln eine Chance zu geben. Es schmeckt alles (sehr gut) nach Kalbsjus und »Ketchup« – woher auch immer diese Assoziation herrührt –, aber hier fehlt etwas Gleichgewicht, um wirklich hervorragend zu sein. (7,5/10)

Ähnliches gilt für ein Sirloin-Steak, das makellos rare gegart und von hervorragender Qualität ist, zu dem ein intensiver Rote-Bete-Jus mit seiner Fruchtigkeit und Süße jedoch kein optimaler Begleiter ist. Ein dazu à part servierter Beignet mit einer nach Leber schmeckenden Farce ist sehr gut, wirkt aber ein wenig zusammenhanglos. Die unstrittig hohen Produktqualitäten und das makellose Handwerk überragen jedoch die mir hier etwas unausgewogen erscheinende aromatische Komposition. Von einem Weltklasseniveau hat man sich bei den letzten beiden Gängen etwas entfernt. (7,5/10)

Der süße Teil des Menüs beginnt mit einem mit Zimt gewürzten Reiskuchen-Snack, der mit seiner gummiartigen Konsistenz an japanische Mochi-Kugeln erinnert, der aber wegen seiner etwas »aufgefächerten« Form hier angenehmer zu essen ist. Das ist kurzweilig und schmeckt nach Apfel und Zimt. (7/10)

Das finale Dessert ist eine faszinierende Variation um das Thema Kakaobohne. In einem Schälchen findet man ein aus dem Fruchtfleisch der Kakaofrucht hergestelltes Sorbet, das mit geliertem »Bananen-Wasser« sowie »Kakao-Honig« angerichtet ist. Das Sorbet erinnert aromatisch an Lychee, die kühle Komposition begeistert durch säurebetonte exotische Aromen und eine fein justierte Süße. In einem zweiten Schälchen findet man unter einem Milcheis-Puder ein Pasiega-Eis – erneut in Anlehnung an die buttrig-karamellige Kuchenspezialität. Auch das ist zum Reinlegen gut. Ein fluffig leichter Schokoladenkuchen mit Schokoladensauce ist schließlich einer der besten seiner Art, die ich je probiert habe, vielleicht knapp hinter der Referenz aller Schokoladenkuchen im L’Ambroisie (auch, wenn es sich hier um andere Zubereitungen handelt). Der Dessert-Dreiklang beendet das Menü auf spektakuläre Weise. (10/10)

Na ja, fast. Es gibt noch eine hervorragende und originelle Pralinen-Auswahl vom Wagen. (8,9/10)

Das Cenador de Amós bescherte mir damit eines der besten Drei-Sterne-Erlebnisse in Spanien. Einzigartig ist die im Kern durchaus französisch anmutende Produktküche, in die jedoch die Idee kantabrischer Spezialitäten immer wieder und unverkennbar im Vordergrund steht. In dieses etwas entlegene Restaurant muss man Pilgern, aber die Reise lohnt sich. Mein Jakobsweg endet jedenfalls hier.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Cenador de Amós (→ Website)
Chef de Cuisine: Jesús Sanchéz
Ort: Villaverde de Pontones, Spanien
Datum dieses Besuchs: 27.05.2022
Guide Michelin (ES 2022): ***
Meine Bewertung dieser Essens: 8,9 (Was bedeutet das?)
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